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Clara Trautmannstorff

 

Offene Rechnungen

 

Roman

 

 

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© Clara Trautmannstorff
    Autorenausgabe - Sonderabdruck -

4. überarbeitete Fassung 2019
    alle Rechte vorbehalten

 

facebook.com/clara.trautmannstorff

 

Die Handlung dieses Romans und sämtliche

Begebenheiten sind frei erfunden. Eventuelle

Namensgleichheiten und Ähnlichkeiten mit

lebenden und verstorbenen Personen wären

zufällig und weder gewollt noch beabsichtigt.

 

 

 

Offene Rechnungen

 

 

Dezember 1983

 

Die wenigen Straßenlaternen verbreiteten wegen des herabfallenden Regens nur gedämpftes Licht. Gemächlich glitt die dunkelrote Limousine über das holperige Pflaster der Karl-Liebknecht-Straße. Es herrschte wenig Verkehr an diesem Dienstagabend in der Südvorstadt von Leipzig unweit des Clara-Zetkin-Parks. Obwohl in der Deutschen Demokratischen Republik offiziell keine christlichen Festtage gefeiert wurden, merkte man doch deutlich, dass Weihnachten unmittelbar vor der Tür stand.

Ein besonders heftiges Schlagloch im Pflaster ließ das Fahrzeug erst in die Knie gehen und dann wie ein junges Fohlen in die Höhe springen.

»Herr im Himmel!« stöhnte der Mann hinter dem Lenkrad.

Der Mercedes war fünfzehn Jahre alt, befand sich jedoch immer noch in bestem Zustand. Leider verschlang jede Reparatur inzwischen ein Vermögen, da man an Ersatzteile nur noch auf Umwegen herankam. Kopfschüttelnd trommelte der Fahrer mit seinen Fingern auf den Lenkradkranz. Die Fahrt über die Transitautobahn und die Strecke von Berlin nach Leipzig war schon katastrophal gewesen. Dass ausgerechnet am Zielort seiner Reise ein Achsenbruch seinen Plänen ein jähes Ende bereiten könnte und er anschließend mit dem Zug hätte nach Hause fahren müssen, daran hatte er im Traum nicht gedacht.

 

Im nächsten Moment musste er scharf abbremsen, da vor ihm ein Wartburg ziemlich abrupt zum Stehen kam. Ehe er sich versah, kletterten zwei Männer in Trenchcoats heraus und deuteten ihm unmissverständlich an, ebenfalls anzuhalten. Während der Hagere mit einer energischen Geste von ihm verlangte, die Seitenscheibe herunterzukurbeln, zückte sein untersetzter Kollege eine Kamera und machte eifrig Aufnahmen.

Der Mann aus dem Westen folgte der Aufforderung.

»Was kann ich für Sie tun, Herr Wachtmeister?«

»Reisepass, Visum, Fahrzeugpapiere! Und sprechen Sie mich gefälligst mit Genosse Leutnant an.«

Er hatte richtig vermutet. Staatssicherheit.

»Aussteigen! Heckklappe öffnen! Und das ein bisschen plötzlich.«

Der Offizier ließ sich die Haube öffnen und begann im nächsten Augenblick ungeniert im Innern des Kofferraums zu stöbern. Der Mercedesfahrer kannte solche Sperenzchen. Sie gehörten halt zum Spiel mit dazu. Hier Geld, da Macht. Die Freien besaßen Geld, die Unterdrücker die Macht. Nur, dass die Leute mit dem Geld wieder zurück in die Freiheit konnten, während die Schergen des Regimes hinter Mauer und Stacheldrahtzaun zurückbleiben mussten. Wahrscheinlich war es das, was selbst einen Stasi-Offizier auf Dauer auf die Palme brachte.

»Ist alles in Ordnung, Herr Leutnant?« Dabei versuchte er nicht allzu besorgt zu klingen. Das hätte sein Gegenüber erst recht provoziert.

Der Kopf des Angesprochenen tauchte aus dem Kofferraum wieder auf, schob den Fahrer des Mercedes brüsk beiseite und kletterte in den Fond des Wagens. Dort machte er sich gemeinsam mit seinem Begleiter an den Türverkleidungen und der Rücksitzbank zu schaffen.

»Also, wenn Sie mir jetzt den Innenraum beschädigen...«

Nach einer gefühlten Ewigkeit krabbelten die beiden Männer wieder aus dem Wagen. Das Gesicht des Hageren war verschwitzt und glühte vor Zorn. Er hatte allem Anschein nach nichts Verdächtiges entdecken können und rang inzwischen deutlich mit seiner Fassung. Das wäre aber auch zu schön gewesen. Ein Mercedes mit Bonner Kennzeichen. Unter Umständen sogar mit einem hohen Tier aus der Bundesverwaltung am Steuer. Wenn der jetzt Magazine wie den Spiegel oder den Stern dabei gehabt hätte, das wäre ein Fest gewesen. Für einen kurzen Moment sah er schon die Schlagzeile im Neuen Deutschland vor Augen: Genosse Leutnant Steinbrecher enttarnt West-Spion. Subversives Geheimmaterial sichergestellt. Genosse Erich Mielke verleiht höchstpersönlich die Medaille für ausgezeichnete Leistungen des MfS. Unter Umständen hätte es endlich mit dem neuen Fernsehgerät geklappt, auf das er seit Jahren sehnsüchtig wartete.

»Kann ich jetzt weiterfahren?« fragte der Westdeutsche.

»Wo wollen Sie eigentlich hin? Was haben Sie in Leipzig zu verloren? Wo übernachten Sie überhaupt?«

Auch diese Fragerei kannte er zur Genüge.

»Ich möchte mir die Stadt anschauen. Übernachten werde ich im Hotel Aparion im Zentrum. Ich habe dort ein Zimmer gebucht. Sie können das gerne nachprüfen.«

Der Genosse Leutnant trat einen Schritt zurück. Ob es Ehrfurcht war oder blanker Neid?

»Im Aparion? In dem neu gebauten Kasten? Na, Sie müssen es ja haben.«

Sein Gegenüber ging auf die Bemerkung nicht ein.

»Darf ich weiterfahren, oder was machen wir jetzt?«

»Darf ich bitte weiterfahren, Genosse Leutnant, heißt das! Merken Sie sich das gefälligst, Sie, Sie...«

Sichtlich widerstrebend händigte er dem Besitzer der Limousine die Papiere aus, gab seinem Kollegen ein Zeichen und kletterte in den Wartburg. Hustend sprang der Zweitakter an und brauste, eine blauschwarze Rauchfahne hinter sich herziehend, davon.

 

»Bist du jetzt völlig übergeschnappt?« jammerte die junge Frau. Ihr sich wölbender Babybauch war inzwischen unübersehbar. »Du kannst dich doch nicht einfach mit einem Offizier der Staatssicherheit auf offener Straße anlegen. Wenn du dabei an den Falschen gerätst, sitzt du ganz schnell in Untersuchungshaft.«

Ihr Besucher winkte ab.

»Die suchten bloß mal wieder einen Dummen, um sich abreagieren zu können. Klar, dass solche Typen erst einmal Bündel von verbotenen Zeitschriften, Drogen, Bargeld und was weiß ich noch alles im Kofferraum vermuten. Ich bin doch nicht blöd. Aber mit alldem ist in vier Tagen endgültig Schluss. Freust du dich schon?«

Karin Balow legte ihrem Besucher den Zeigefinger auf die Lippen.

»Nur denken, nie aussprechen«, flüsterte sie besorgt. »Du weißt doch, bei uns haben selbst die Wände Ohren.«

Ihr Besucher nickte.

»Hast du die Papiere beisammen?« raunte sie ihm ins Ohr.

Mit der Linken zog er einen Umschlag aus der Jackentasche. Grinsend blickte er sich nach beiden Seiten um, als ob er befürchtete, jemand könne ihn beobachten. Dann schlug er einen dunkelgrünen westdeutschen Reisepass auf. Karin Balow nahm das kleine in Kunstleder eingeschlagene Büchlein beinahe ehrfürchtig in die Hand. Das war nicht irgendein Dokument, das war ihr Schlüssel zur Freiheit. Dafür hatte sie sich sogar schwängern lassen. Egal. Den Balg konnte sie notfalls zur Adoption freigeben oder im schlimmsten Fall vor irgendeiner Kirchentür ablegen. Für wenige Stunden würde sie also den Namen Monika Döring annehmen ... und anschließend nach Kanada verschwinden, um dort ein neues Leben zu beginnen. Und zwar ohne diesen Angeber aus der BRD. Allerdings musste sie höllisch aufpassen. Hier im Haus hatten die Wände tatsächlich Ohren. Eine falsche Bemerkung zur falschen Zeit, und anderntags stand die Stasi vor der Tür. Sie wusste, wovon sie sprach. Indirekt arbeitete sie schließlich selbst für diesen Verein.

Ihr Besucher steckte das Dokument zurück in sein Jackett. Sie schaute ihn fragend an.

»Ist besser so«, winkte er ab. »Wer weiß, vielleicht durchsucht noch jemand deine Wohnung, während wir unterwegs sind.«

»Wo wollen wir denn überhaupt noch so spät am Abend hin?«

»Ins Aparion. Dort wohne ich schließlich. Ganz offiziell in einem Doppelzimmer. Komm, mach dich ein bisschen zurecht! Ich habe einen Tisch im Restaurant für uns reserviert.«

»Schau mich an«, jammerte die junge Frau. »Ich habe doch überhaupt nichts anzuziehen.«

Ihr Besucher hob seine Reisetasche auf den Küchentisch und griff hinein.

»Und wie gefällt dir das hier?«

In seinen Händen lag ein Kleid aus der neuen Sommerkollektion von Quelle. Nichts, wonach man sich in Berlin, Hamburg oder München umdrehen würde, aber aufregend genug für eine junge Ostdeutsche.

 

Als sie eine halbe Stunde später die Mietwohnung in der Leipziger Südvorstadt verließen, prallten sie im Treppenhaus förmlich mit einem jungen Mann von allenfalls Mitte Zwanzig zusammen. Er trug eine hellgraue Stoffhose, Schnürschuhe und einen beigefarbenen Blouson mit Reißverschluss. Um den Hals hatte er einen dunkelroten Schal geschlungen. Sein Haar wuchs dicht, war aber selbst für DDR-Verhältnisse viel zu konservativ geschnitten. In jeder westdeutschen Universitätsstadt wäre er von Gleichaltrigen als hoffnungsloser Spießer abgekanzelt worden.

»'n Abend, Genosse«, grüßte Karin Balow ihren Nachbarn.

Der Mann hob den Kopf. Ein schwaches Lächeln huschte über seine gewöhnlich eher verkniffenen Mundwinkel. Die Treppenhausbeleuchtung erlosch. Der Mann in Karin Balows Begleitung und der Ostdeutsche griffen gleichzeitig nach dem Lichtschalter. Dabei berührten sich ihre Finger. Der Westdeutsche zuckte zurück. Ihm war, als hätte er eine Leiche angefasst, so kalt waren die Hände des anderen.

»Sorry«, rutschte ihm heraus.

»Sorry, sagt man bei uns nicht. Bei uns heißt es 'Entschuldigung' oder 'Verzeihen Sie'.«

Er wandte sich an die junge Frau.

»Guten Abend, Genossin. So spät noch unterwegs?«

Seine Stimme nahm einen spöttischen Unterton an. »Und schon wieder Besuch? Aus dem kapitalistischen Nachbarstaat, wie ich vermute.«

Karin Balows Begleiter wollte etwas entgegnen, doch sie hakte sich blitzschnell bei ihm unter und drückte ganz fest seinen Arm.

»Aber Sie kennen doch meinen Vetter.«

Karin Balow versuchte ein Lachen, das jedoch gründlich misslang. Der Jüngere musterte den Mann an ihrer Seite.

»Kennen wäre zuviel gesagt«, meinte er nach einigem Zögern. »Aber mal was anderes. Im Konsum gibt es das neue Waschpulver. Ich gehe dort nachher noch vorbei. Soll ich Ihnen ein Päckchen mitbringen?«

Seine Augen nahmen einen sehnsüchtigen Glanz an.

»Ach ja, falls Sie Schoko-Kekse haben wollen, die konnte ich gestern in der Innenstadt günstig bekommen. Wenn Sie möchten, gebe ich Ihnen ein Päckchen ab.«

Demontrativ schmiegte sich Karin Balow noch enger an ihren angeblichen Vetter.

»Nein, danke. Behalten Sie die Märchenriegel mal schön selber. Aber über ein Päckchen Waschpulver würde ich mich freuen. Warten Sie, ich gebe Ihnen rasch das Geld. Legen Sie es mir anschließend einfach vor die Wohnungstür.«

»Ich kann auch klingeln.«

Die Enttäuschung in seiner Stimme war unüberhörbar.

»Ich weiß noch nicht, wann ich wieder zurück bin. Machen Sie sich keine Umstände.«

Karin Balow zog ihren Freund hinunter ins Parterre. Auf dem Treppenabsatz zum ersten Stock blieb ein selbst für DDR-Verhältnisse seltsam konservativ gekleideter Mittzwanziger zurück. Er schaute dem Paar mit einer Mischung aus Eifersucht und Unverständnis hinterher.

»Merkwürdiger Kerl«, meinte ihr Begleiter, als sie im Innenraum des Mercedes Platz nahmen. »Könnte es sein, dass der in dich verknallt ist?«

Karin Balow stieß den Mann auf dem Fahrersitz sanft in die Seite.

»Blödmann! Was du nur denkst.«

Mit einem verschmitzten Grinsen schob er den Zündschüssel ins Lenkradschloss. Der Motor sprang mit leisem Brummen an. Ehe sie losfuhren, drehte er sich noch einmal zu seiner Begleiterin um und küsste sie ganz zart auf die Lippen.

 

Karin Balows Nachbar schloss seine Wohnungstür auf, legte die Aktentasche auf eine Kommode und ging ins Bad. Dort rubbelte er sich mit viel Wasser und Seife die Hände ab. Gerade so, als müsse er etwas besonders Ekelhaftes von der Haut abwaschen. Anschließend ging er an den klapprigen Kühlschrank, zog eine Flasche Sternquell aus dem unteren Fach und öffnete den Verschluss. Statt jedoch aus der Flasche zu trinken, ging er an den Küchenschrank und nahm ein blitzblank gespültes Glas heraus. Nachdem er einen kräftigen Schluck genommen hatte, griff seine Hand zum Telefon. Er wählte eine mehrstellige Nummer.

»Lubitsch«, meldete sich eine vertraute Stimme.

»Ich habe eine Meldung zu machen.«

»Name?«

»Schreiber.«

»Grund der Meldung?«

»Besuch.«

»In Ordnung, Genosse. Ich sage den Kollegen Bescheid.«

 

 

 

Kapitel 1

 

30 Jahre später.

 

Man konnte es auch Vorhof zur Hölle nennen. Zumindest an Tagen wie diesen. Zwei Wochen nach Ostern hatten wir auf einmal 25 Grad im Schatten, und auf der B53 ging es so beschaulich zu wie auf der Inntalautobahn bei Ferienbeginn. Warum musste Tuttifrutti auch unbedingt heute auf die Lieferung von zehn Kartons Riesling Kabinett bestehen? Schon das Einfädeln in die Kolonne der unzähligen Autos mit überwiegend orangefarbenen Kennzeichen war Sowas von nervig, das glaubt man kaum. Wo man auch hinsah, Holländer. Warum blieben die nicht daheim und schippten ihre Deiche höher? Haben doch jetzt schon ständig nasse Füße. Und Autos fuhren die, als hätte man westlich des Rheins noch nie etwas von Klimaveränderung und Erderwärmung gehört. Aber sich bei uns über die Spritpreise beschweren. Und über die angeblich mageren Portionen in den Restaurants. Wobei unsere westlichen Nachbarn sowieso in der Regel mit ihren rollenden Einfamilienhäusern unterwegs waren. Mit eigenem Schlafzimmer, Einbauküche und vollen Vorratsschränken. Aber was red' ich.

 

Genervt schob ich eine Kassette mit den Scorpions in den Uralt-Rekorder und wartete, bis die Musik anfing zu dudeln. Das hörte sich anfangs immer entsetzlich an, da die beiden Lautsprecher in den Türen meines Unimog die Unart besaßen, nach dem Einschalten des Kassettenrekorders erst einmal abwechselnd an und aus zu gehen. Woran das lag, hatte bis heute noch keiner so richtig herausfinden können. In den Fachwerkstätten hieß es nur lapidar, für solch ein Museumsstück gäbe es sowieso keine Schaltpläne mehr, von Ersatzteilen ganz zu schweigen. Auf welchem Planeten ich eigentlich lebe. Irgendwann hatte ich dann aber den Dreh raus. Wenn man die Beifahrertür wenigstens dreimal hintereinander mit Gewalt zuschlug, setzte anschließend tatsächlich Sowas Ähnliches wie Musikgenuss in Stereoqualität ein. Zumindest solange, wie der Dieselmotor des Gelände-LKWs nicht zu Höchstleistungen angetrieben wurde. Das Ding, Baujahr 70, fuhr trotz oder wegen seiner mickrigen 82 PS ohnehin nur noch Siebzig. Wenn überhaupt. Um also im Straßenverkehr mitschwimmen zu können, musste man normalerweise ständig Vollgas geben. Nicht gerade die wahre Freude schöner Götterfunken. Aber ich hing an dem alten Karren. Nicht selten, dass ich im Winter bei Schnee und Glatteis die zigtausend Euro teuren Geländewagen meiner entnervten Bekannten aus dem Straßengraben zerren oder bei Hochwasser den Versorgungsverkehr für die Uferbewohner übernehmen durfte. Wenn Feuerwehr und Technisches Hilfswerk längst selbst in die Boote stieg, da brauste mein Unimog immer noch unbeirrt durch die Fluten. Unverwüstlich. Genauso wie meine unverrückbare Auffassung von Freiheit und eigenem Girokonto. Deshalb habe ich auch nie geheiratet. Würde nach übereinstimmender Meinung sämtlicher meiner bisherigen Lebensabschnittsgefährtinnen bei mir ohnehin nicht funktionieren.

 

Ich lehnte mich in dem ausgeleierten Stahlrohrsessel zurück, hielt mit der Linken das allenfalls daumendicke Dreispeichen-Lenkrad fest, zündete mir mit der freien Hand eine Moods an und lauschte dem Gitarrensolo von Rudolf Schenker. Dabei blinzelte ich durch die an zahlreichen Ecken und Kanten bereits deutlich matt gewordene Windschutzscheibe auf das vor mit zum Stillstand gekommene Cabrio. In dem hockte ein junges Pärchen von vielleicht Mitte Zwanzig. Hatten wahrscheinlich Papas Drittwagen aus der Garage geklaut, während sich die alten Herrschaften nichts ahnend auf Kreuzfahrt in der Karibik befanden. Seufzend riss ich die beiden Hebel für die Verdeckabspannung aus den Arretierungen und ließ auch bei mir das Stoffverdeck nach hinten gleiten. Zugegeben, gleiten tat es nicht gerade. Es schepperte eher ganz schön, als es mitsamt Gestänge hinten auf die Ladepritsche krachte. Egal. Rechts Hügel, links Wasser, vor mir der Highway, Scorpions aus den Lautsprechern. Californiafeeling. Nur leider im Schritttempo. Okay, okay, man kann nicht alles haben.

 

Unwillkürlich fiel mein Blick in den Rückspiegel. Was ich dort sah, war auch nicht gerade dazu geeignet, meine Stimmung zu heben. Was war bloß aus diesem attraktiven charmanten Typ geworden, der seinerzeit auf jeder Party die neiderfüllten Blicke der übrigen Geschlechtsgenossen auf sich ziehen konnte? Der sich zu vorgerückter Stunde in seiner Stammkneipe wortlos ans Klavier setzte, abwartete, bis der Wirt endlich die dröhnende Musikanlage abschaltete, um anschließend die Gäste mit Eigeninterpretationen von Stücken der Stones oder The Who zu faszinieren. Lang, lang ist's her, brummte ich vor mich hin. Was war geblieben? Ein fünfundvierzigjähriger Eigenbrötler mit diffuser beruflicher Vergangenheit und ohne nennenswerte Zukunft. Abgesehen vielleicht vom Blanc de Noir, an dem Kellermeister Thomas Schruntz seit geraumer Zeit herumexperimentierte und der angeblich der wein-technisch ganz große Wurf werden sollte. Na ja, hoffen wir mal.

Endlich tauchte das Ortseingangsschild von Grafenstein am rechten Straßenrand auf. Heute war es wirklich zum Bebaumölen. Da ging zeitweise aber auch gar nichts mehr. Da war man ja zu Fuß schneller. Auf der Ladefläche nahm auch noch der Kabinett Temperatur an. So ein Elend.

Es klopfte zweimal hart gegen die Beifahrertür.

»Herein«, rief ich. »Ist offen.«

Keine zwei Augenblicke später quetschte sich ein braun gebrannter etwa gleichaltriger Typ auf den Beifahrersitz. Ich grinste. Wo hatte der denn seinen schwarzen Anzug gelassen? In Chinos und Poloshirt sah der aber fremd aus.

 

Lothar Lanzerath, unser örtlicher Bestatter vom Dienst, hockte zu dieser Tageszeit normalerweise daheim am Telefon und wartete ungeduldig darauf, dass der Sensenmann vielleicht mal wieder irgendwo zuschlug, aber in letzter Zeit erfreuten sich sogar die Siebzig-plus-Generation in unserem Landkreis bester Gesundheit. Kein Wunder, dass Lanzerath die gesamte Pharmaindustrie verfluchte, die seiner Ansicht nach mit all ihrer verdammten Herumforscherei seinem gesamten Berufsstand das Geschäft verdarb. Andererseits führte nicht weit von Grafenstein entfernt die A1 entlang, die gefürchtete Rennstrecke in Richtung Trier. Nebelbänke, Glatteis und Schneegestöber führten gerade im Herbst und im Winter immer wieder zu vollen Auftragsbüchern. Auch die B53 war berüchtigt. Nicht selten, dass Lanzerath verunglückte Motorradfahrer förmlich aus den Leitplanken pflücken musste. Aber momentan zog der Frühling ins Land, die Straßen waren frei von nassem Laub, und sogar die Motorradfahrer fuhren noch halbwegs zivilisiert. Kein Wunder, dass Lanzerath nicht gerade bester Laune war.

Lothars Frau Susanne, rund fünfzehn Jahre jünger als er, besaß den einzigen Schönheitssalon zwischen Trier und Bernkastel. Das passte zu einem Begräbnisinstitut natürlich wie Arsch auf Eimer. Willkommen bei Lanzerath. Sind Sie schon tot, oder sehen Sie bloß so aus? Susi frönte indes einer einzigen Leidenschaft: ihre Turbo-Sonnenliege, auf der sie vermutlich den halben Tag und das in den unterschiedlichsten Positionen verbrachte. An Susannes Körper hatte keiner von uns bisher auch nur eine winzige Stelle ungebräunter Haut entdeckt. Hinzu kam ihr von erfahrener Hand modellierter Astralleib, speziell die beiden Zonen seitlich des Brustbeins. Wenn Susanne mit T-Shirt und Hotpants auf ihrer Vespa durch Grafenstein düste, dann gab es manches Mal bei uns auf der Hauptdurchgangsstraße mehr Auffahrunfälle als auf der A3 bei Ferienbeginn.

 

»Quo vadis, mein Sohn Brutus?« murmelte Lanzerath.

Ich deutete flussab.

»Zum Yachthafen. Hatte Tuttifrutti an Karfreitag blöderweise zehn Kartons Kabinett für das erste schöne Wochenende nach Ostern versprochen. Schon seit Tagen nervt er mich deswegen herum. Von wegen Superwetter und all die Biker, die angeblich zu ihm in den Yachthafen kämen. Wovon träumt der eigentlich nachts?«

Lanzerath konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen.

»Leidet der neuerdings unter Geschmacksverirrung? Dein Kabinett? Dat suur Dröppche?«

Ich fletschte die Zähne

»He, jetzt aber mal langsam. Dir gebe ich gleich 'suur Dröppche'. Bei unserem letzten Treffen hat dir mein Wein, den leeren Flaschen nach zu urteilen, aber verdammt gut geschmeckt. Man kam mit dem Einschenken ja kaum noch nach.«

»War ja auch nichts anderes da«, erwiderte unser Totengräber unbeeindruckt. »Weißt du, so ein 98er Haut-Medoc, Chateau La Tour Carnet, das wäre was für eine ordentliche Weinverkostung, aber diese Plörre da, die kann man doch keinem Esel ...«

Er stutzte und fasste sich instinktiv an den Arm.

»Auuaah!«

Freundschaft hin oder her, Lanzerath hatte erst mal eine von mir gefangen. Von wegen Plörre. Okay, ein Kabinett ist schon prinzipiell kein Spitzenwein. Aber so eine Abfälligkeit ließ ich schon aus Prinzip niemandem durchgehen. Alleine deshalb nicht, weil ich für teuer Geld einen studierten Önologen als Kellermeister in meinem Betrieb beschäftigte. Okay, von Wein verstand ich eigentlich nur soviel: Wie kriegt man den Korken elegant heraus, und wie viel musste eine Flasche kosten, damit man irgendwie auf seine Kosten kam. Alles andere war Sache der Angestellten. Als Chef kann man sich ja schließlich nicht um alles kümmern.

»Herr im Himmel, war doch ein Scherz.«

Ich drehte mich zu ihm um.

»Siehst du hier jemanden lachen?«

Lanzerath rieb sich den schmerzenden Oberarm.

»Du verstehst aber auch gar keinen Spaß mehr, seit dich die alte Lady an Weiberfastnacht beim Pokern bis auf die Unterhose ausgezogen hat. Mann, bleib mal locker!«

 

»Ich bin locker«, knurrte ich vor mich hin, weil ich in demselben Augenblick auch noch eine Vollbremsung machen musste. Vom rechten Parkstreifen hatte sich ein Sportwagen in den fließenden Verkehr eingereiht. Ohne Blinker zu setzen. Am Steuer natürlich eine Frau. What else!

Ich hieb auf die Lenkradnabe, doch mehr als das heisere Röcheln einer Kuh mit Bronchitis gab die Hupe des Unimog nicht her. Sowas beeindruckte Lena zu Ahrenfels am Steuer ihres bordeauxroten Mercedes SL natürlich nicht die Bohne.

Lena war eine der drei 'Moselhexen'. Zu dem busenstarken Trio zählten neben der Tochter von Gräfin zu Ahrenfels, ihres Zeichens Burggräfin und Großgrundbesitzerin im Grafensteiner Ländchen, noch Helene Sommer, designierte Erbin des mehrfach prämierten Weinguts Dornesch, sowie Gabi Dahrendorf, Tochter unseres Apothekers. Im Prinzip war jede der jungen Damen eine gute Partie, doch das Trio war nach wie vor unverheiratet. Bei Lena konnte ich das sogar irgendwie verstehen. Adelige waren bei uns in der Gegend rar. Brunhild zu Ahrenfels wäre vermutlich auf der Stelle tot umgefallen, hätte Lena ihre Vermählung mit einem Bürgerlichen bekannt gegeben.

»Na, heute mal nicht auf deinem Besen unterwegs?« rief ich durch die geöffnete Seitenscheibe nach vorne.

Lena drehte sich zu mir herum. Sie schob die Sonnenbrille in ihre rotblonden Haare zurück und schenkte mit ein geradezu entwaffnendes Lächeln.

»Sehen wir uns heute Abend im Klub?«

»Hat man in diesem Kaff eigentlich nirgendwo seine Ruhe?« murmelte ich vor mich hin.

»Schau'n 'mer mal«, antwortete ich eine Spur lauter und zog meinen Kopf in den Innenraum des Unimog zurück.

Lanzerath grinste

»Na, geht das was?«

»Blödsinn«, knurrte ich zurück. »Was du gleich wieder denkst.«

»Was denke ich denn?«

 

Lanzerath lehnte er sich weit in den Beifahrersessel zurück. Und zwar soweit, dass es deutlich knirschte im Gebälk. Besser gesagt, die Sitzlehne hing mit einem Mal auf Halbmast.

»Jetzt schau, was du angerichtet hast! Kaum bist du eingestiegen, kann man seinen Wagen abwracken.«

»Mir kommen gleich die Tränen«, erwiderte Lanzerath gänzlich unbeeindruckt. »Ist doch lebensgefährlich, die Karre. Dass du mit der überhaupt noch durch den TÜV kommt. Sag mal, wie viele Kisten Wein musst du eigentlich jedesmal bei der Hauptuntersuchung ...?«

Was zu weit ging, ging zu weit. Ich trat erneut voll auf die Bremse, lehnte mich über ihn hinweg und schob die Beifahrertür auf. Sofort war von den Scorpions nur noch die Hälfte der Bandmitglieder zu hören.

»Was soll das denn?« wunderte sich Lanzerath, während hinter uns die Ersten anfingen zu hupen.

»Raus!«

Lanzerath blieb erwartungsgemäß sitzen.

»Raus?«

»Raus, oder Klappe halten.«

Mein Beifahrer atmete tief durch.

»Okay, okay, ist ja gut. Nun mach hier mal keinen Aufstand und fahr endlich weiter. Du hältst ja den ganzen Betrieb auf.«

Das Hupkonzert hinter uns schwoll zu einem Sinfoniekonzert an. Eigentlich fehlten nur noch Becken und Tschinellen. Ich legte den ersten Gang ein, und Lanzerath riss die Beifahrertür zurück ins Schloss. Immer noch nur die Hälfte der Combo zu hören.

»Noch mal!« schnauzte ich ihn an.

»Was nochmal?«

»Die Tür, zum Henker!«

Währenddessen jaulte das Getriebe im ersten Gang wie eine schlecht geschmierte Kettensäge. Lanzerath tat, wie ihm befohlen. Trotzdem immer noch nur die halben Scorpions.

»Und nochmal«, seufzte ich.

Nach dem dritten Türzuschlagen kam Rudolf Schenker mit seinem Gitarrensolo endlich auch wieder von rechts herüber.

»Na, also. Geht doch.«

 

Schon wieder musste ich anhalten, weil die Blechkarawane einfach nicht weiterziehen wollte. Plötzlich rumpelte etwas hinter mir. Oh, nein! Alles, nur bitte keinen Auffahrunfall. Sowas hätte mir gerade noch gefehlt. Ersatzteile für einen über vierzig Jahre alten Unimog wurden selbst im Internet nur noch wie seltene Briefmarken gehandelt. Ich hoffte inständig, dass die massive Anhängerkupplung das Schlimmste hatte verhindern können.

Aber es war kein Auffahrunfall. Ich warf einen Blick in den halbblinden Rückspiegel und konnte gerade noch erkennen, wie eine dunkelhaarige Gestalt mit geradezu akrobatischen Verrenkungen die Ladefläche des Unimog enterte und kurz darauf an den gestapelten Weinkartons vorbei zur nach oben offenen Fahrerkabine stolperte. Ich seufzte. War ich neuerdings Taxiunternehmer, oder was?

Abdelkader Omar Ibn Moutussis grinsendes Gesicht tauchte über uns auf. Abdelkader, in Grafenstein wegen seines schier unaussprechlichen Namens kurz Caddy genannt, besaß auf der Hauptstraße eine Import-Export-Firma. Bei näherer Betrachtung entpuppte sich sein Laden allerdings eher als Schnäppchenmarkt. Caddy handelte mit allem, was nicht niet- und nagelfest war. Von gebrauchten Waschmaschinen bis hin zu Baumwollsocken aus China. Hauptsache, er konnte das Zeug irgendwo spottbillig auftreiben und anschließend mit genügend Profit weiter verscherbeln.

Caddy war lange vor dem 'Arabischen Frühling' aus seinem Heimatland Tunesien über das Mittelmeer nach Lampedusa getürmt und hatte sich von Italien aus erst einmal nach Frankreich durchgeschlagen. Da man Maghrebinern dort allerdings immer noch sehr zurückhaltend begegnet, brach er in Marseille nach kurzer Zeit seine Zelte wieder ab und landete auf Umwegen bei uns an der Mosel. Caddy war Mitte zwanzig und verstand leidlich gut deutsch. Sprechen tat er unsere Sprache allerdings in einer ihm äußerst eigenwilligen Art. Jugendliche würden sagen: total asi. Egal, bei uns in Grafenstein war er jedenfalls längst integriert.

»Jou, Alter, nimmst du mich mit, oder was?«

Lanzerath schaute nach oben. Dabei rümpfte er die Nase und wedelte sich demonstrativ Frischluft zu.

»Gott, der Gerechte! Kommst du gerade von einer Knoblauch-Party, oder gab es bei dir gestern verwestes Dromedar in Kreuzkümmel-Mousse zum Abendessen?«

Abdelkader Moutussi beugte sich tief zu ihm herunter.

»Hör du auf von Verwesung zu labern, Alter. Eh, ich schwör!«

»Irgendein Fahrtziel?« meinte ich. »Aber überleg's dir gut. Die Uhr läuft.«

»Welche Uhr, Alter?«

Ich streckte ihm die Hand entgegen. Erwartungsgemäß schlug der Tunesier ein.

»Halt dich fest und pass nur ja auf, dass dich niemand sieht. Schon gar nicht unser Dorfsheriff. Wir fahren übrigens zu Tuttifrutti.«

»Ist voll mein Ziel, Alter. Eh, ich schwör!«

Lanzerath verdrehte die Augen.

»Kann der nicht langsam mal aufhören, auf alles und jeden zu schwören?«

 

Caddy grinste breit. Mit seiner schmalen gebogenen Hakennase, dem pechschwarzen Lockenschopf und dem ebenso dunklen Ziegenbärtchen sah er eher aus wie ein armenischer Teppichhändler. Darauf angesprochen, reagierte er jedoch immer etwas verschnupft. Er sei Nordafrikaner und mitnichten irgend so ein vorderasiatischer Kameltreiber. Im übrigen spreche er Arabisch, Französisch und Deutsch und habe in Tunis sogar vier Semester studiert. Jedenfalls war Caddy in Grafenstein fast so etwas wie eine Institution. Wer billig Küchengeräte brauchte, der kam am 'Moutussis', wie Abdelkader sein Geschäft offenbar in Anlehnung an das legendäre New Yorker Tiffany's etwas sehr großspurig nannte, letztlich nicht vorbei. Als ehemaliger Ermittlungsbeamter bei der Steuerfahndung wollte ich allerdings lieber nicht wissen, aus welchen zweifelhaften Quellen manche seiner Schnäppchenangebote zuweilen stammen mochten.

Ein paar Minuten später bog ich in die Einfahrt zum Yachthafen ab. Ich fuhr den sanften Abhang hinunter und stellte den Unimog unmittelbar neben der Krananlage ab. Unmittelbar vor dem Schild mit der Aufschrift 'Parken verboten'. Was mich jedoch wenig störte, denn so früh im Jahr lief bei uns an der Mosel zumindest wassersporttechnisch höchstens die Nase. Also kein Grund zur Unruhe.

Caddy hatte die Heckklappe von der Pritsche des Unimog kaum heruntergeklappt, da keuchte auch schon Tuttifrutti heran. Statt seines obligatorischen Anzugs mit Hemd und Krawatte trug er gegen alle Gewohnheit Jeans, Pullover und ein uraltes ledernes Schirmkäppi. Seine struppigen Haare waren streng mit Pomade nach hinten frisiert.

»Was ist denn in dich gefahren?« nahm mir Lanzerath förmlich das Wort aus dem Mund.

Caddys pechschwarze Augen wirkten noch größer als sonst.

»Jou, Alter, hast du die Maler im Haus? Am Wochenende? Eh, kannst du nicht machen. Ist Schwarzarbeit!«

 

Hugo Egon Ballensiefen, wegen der Fast-Namensgleichheit mit einem bekannten deutschen Fernsehmimen von seinen Freunden 'Tuttifrutti' genannt, winkte sichtlich genervt ab.

»Mann, Mann, Mann! Hier ist vielleicht was los! Seit elf Uhr hocken die bei mir herum und saufen, dass es nicht feierlich ist. Man glaubt es nicht. Bringt den Wein bitte gleich in die Küche.«

»Wer hockt wo herum?« wunderte sich Lanzerath.

»Na, die Rocker«, antwortete Ballensiefen. »Tun beinahe so, als gäbe es morgen nix mehr zu saufen. Mann, Mann, Mann! Ich kann euch sagen.«

Ich wuchtete die Sackkarre, an die ich ausnahmsweise mal gedacht hatte, von der Pritsche und schichte die ersten Kartons mit dem Kabinett peu à peu auf.

»Eine Gruppe Motorradfahrer aus Duisburg«, fuhr Ballensiefen fort. »Maschinen fahren die, da fällst du vom Glauben ab. Eine 850er Kawasaki ist für die allenfalls Mofaklasse.«

Ich zog die Augenbrauen nach oben.

»Harleys?«

Ballensiefen nickte. »Aber hallo. Nur vom Feinsten. Easy Rider ist ein Dreck dagegen.«

Lanzeraths Mundwinkel zogen sich schlagartig nach oben.

»Miss Sophie?«

Ballensiefen winkte ab.

»Die sitzt mitten drin im Getümmel. Könnt ihr euch ja vorstellen, dass die sich Sowas nicht entgehen lässt.«

Das musste ich sehen. Ich drückte dem verdutzten Caddy die Sackkarre in die Hand und machte mich schnurstracks auf den Weg zum sogenannten 'Biergarten'. Biergarten war ein bisschen viel gesagt, denn der einzige Gerstensaft in Ballensiefens Außengastronomie war billiges Flaschenbier der Marke Simpel Bräu Extra Herb. Bei Tuttifrutti waren in ersten Linie Wein, Sekt und Trester die Hauptumsatzträger. Brachte mehr Marge, wie er sich in geselliger Runde weltmännisch auszudrücken pflegte. Kein Wunder. Eine Flasche von meinem Grafensteiner Riesling Kabinett kostete im normalen Ladenverkauf acht Euro. Ballensiefen bekam die Flasche für fünf Euro, wenn er mindestens zehn Kartons auf einmal abnahm. Und verkauft wurde das edle Tröpfchen von ihm laut Getränkekarte zu knapp sechs Euro das Glas. Prost Mahlzeit! Ich hatte den falschen Beruf gewählt.

 

Die Rockergruppe hörte man schon von weitem. Herrje, waren das Kerle! Ein IKEA-Kleiderschrank neben dem anderen. Zwanzig Ledermonturen mit zwanzig darüber gestreiften Kutten aus abgewetztem ausgefranstem Jeansstoff und grinsendem Totenkopf auf dem Rücken. Und mittendrin in dem Zauber: Sophia Amalie Berrenrath, hinter vorgehaltener Hand 'Miss Sophie' genannt, 79, Rentnerin, Bewohnerin einer Senioren-WG. Bestehend aus einer Seniorin, einem schwulen Studentenpärchen der Fachrichtung Angewandte Ästhetik und einer fünfundzwanzigjährigen Tabledance-Actrice, die in einem berüchtigten Trierer Bumslokal allabendlich vor zahlungskräftiger Kundschaft nicht nur die Hüften schwingen ließ und ansonsten bei uns im Neubauviertel den Adrenalinspiegel der Sechzehn-plus-Generation in ungeahnte Höhen trieb. Seniorenheim 2.0 mit eingebautem Internetanschluss. Natürlich per Glasfaserabel und mindestens vierhundert Megabit Datendurchsatz pro Sekunde. Nur vom Feinsten. Mit der senilen Schlossherrin in dem alljährlich an Silvester wiederholten Fernsehsketch hatte Sophia Amalie Berrenrath allenfalls den Vornamen gemein.

Und was machten die Lederjacken? Hockten einträchtig auf ihren Biergartenstühlchen aus rostbraunem Metall und lindgrünen Holzlatten und lauschten Miss Sophies Vortrag, wobei die alte Dame mit ihren knorrigen Fingern hektisch über die Oberfläche ihres Tablet-PCs strich. Hin und wieder hob sie demonstrativ den Bildschirm in die Höhe, was stets mit einem ein deutlich vernehmbaren »Boooh, eeeh!« quittiert wurde. Miss Sophie jedenfalls war voll in ihrem Element. Berührungsängste? Kann man das irgendwo downloaden, oder gibt's sowas als App?

 

»Hallo, Sophia«, begrüßte ich die alte Dame, die Zeit ihres Lebens unverheiratet geblieben war, dafür jedoch Generationen Grafensteiner Kinder den Weg zur Realschule oder aufs Gymnasium geebnet hatte. »Erzählst du mal wieder Storys aus deinem jungen Leben?«

Ich nickte den zwanzig Kleiderschränken zu.

»Ihr müsst wissen, die alte Lady hier ist nicht nur von Atlantic City bis San Francisco auf einer 1947er Indian Chief hinunter gedüst. Die Route 66 von Chicago nach Santa Monica ist sie gleich zweimal abgefahren. Erst mit einer Electra Glide und ein paar Jahre später in einer Shelby Cobra im legendären Cannonball-Race. Sie erlangte nur deshalb keine Berühmtheit, weil der verdammte Achtzylinder ausgerechnet zwanzig Meilen vor dem Ziel wegen Ölverlust den Geist aufgab. Bis dahin lag sie mit ihrem Beifahrer an zweiter Stelle.«

Ich holte tief Luft.

»Wie gesagt, mit einer Shelby Cobra, round about dreitausend Meilen ohne Verdeck bei Wind und Wetter. Das muss ihr erst mal einer nachmachen. Gewonnen hat damals übrigens ein Ferrari 365 Daytona. Am Steuer saß ein ehemaliger Formel-1-Pilot.«

Ich klopfte zweimal auf den Tisch.

»Also, Mädels, wenn ihr demnächst bei euch daheim eine ältere Dame am Straßenrand stehen seht, brav anhalten und ihr artig über die Straße helfen. Es könnte sein, dass die mehr Meilen auf dem Tacho hat als ihr mit euren Mofas jemals abfahren könnt.«

 

Im Duisburger Kiez wäre solch ein Spruch natürlich nicht so toll angekommen, aber ich hatte längst erkannt, dass die Mehrzahl der vor mir hockenden Lederjackenträger daheim mit Sicherheit eine noch nicht vollständig abbezahlte LBS-Doppelhaushälfte besaß und tagsüber einem mehr oder weniger gut bezahlten Bürojob nachging. Trotzdem erhob sich im nächsten Augenblick der grobschlächtigste der Kleiderschränke, stampfte wie ein Büffel auf mich zu und packte mich am Kragen.

»Das mit den 'Mofas' nimmst du gefälligst zurück!« knurrte er mich an. Im nächsten Moment ließ er meinen Hemdkragen jedoch wieder los und strich ihn leidlich glatt. Er drückte mir sogar die Hand.

»Aber die Lady da hinten ist okay. Ich wäre froh, mein Bengel hätte daheim so eine als Lehrerin. Trinkst du einen mit?«

Vorsichtshalber wich ich einen Schritt zurück und zählte insgeheim nach, ob sich auch noch alle fünf Finger an meiner Hand befanden.

»Keine Chance, Leute, denn eigentlich bringe nur den Nachschub. Wenn ich mich nicht beeile, habt ihr alle hier gleich nichts mehr zu trinken.«

Lautes 'Heuheuheu!' aus neunzehn Kehlen ertönte, dem sich ein monotones und eindringliches Klopfen von neunzehn Weingläsern auf den zusammengerückten Holztischen anschloss. Im nächsten Augenblick tauchten zwei junge Frauen mit voll beladenen Tabletts auf. Die beiden Saftschubsen hatte ich in Tuttifruttis Restaurant bisher noch nie gesehen. Offenbar Saisonarbeitskräfte. Dem harten Akzent zufolge vermutlich Rumäninnen oder Bulgarinnen. Bei der Wahl des neuen Bedienpersonals hatte Ballensiefen jedenfalls voll ins Schwarze getroffen. Die waren aber auch schnuckelig. Beine bis zum Himmel, und beim Blick in deren Ausschnitt konnte einem einsamen Biker mit Sicherheit ganz schön warm ums Herz werden. Ich seufzte insgeheim. Hoffentlich hatte Tuttifrutti nicht vergessen, die beiden Mädels ordentlich bei der Arbeitsagentur anzumelden.

 

~~~~~~~

 

Träge suchten sich die graubraunen Fluten der Mosel ihren Weg in Richtung Rhein. Hin und wieder passierte ein Frachtschiff die Außenanlagen des Yachthafens. Ab und an kam auch ein Sportboot herein. Ich schaute mich um. Mit mir hockten nur Tuttifrutti, der Leichenfledderer, Caddy und Miss Sophie am einzigen noch eingedeckten Tisch auf der Terrasse des Yachthafen-Restaurants. Die Sonne war längst untergegangen, und es wurde empfindlich kühl. Ballensiefens übrige Gäste waren längst im Inneren seines Restaurants verschwunden.

Hugo Egon Ballensiefen hatte sich hier in Grafenstein ganz schön was aufgebaut. Das Ausflugslokal unmittelbar an der Mosel übernahm er kurz nach seiner Heirat von den Schwiegereltern. Er erkannte rechtzeitig die Zeichen der Zeit, erwarb die Genehmigung für einen Yachthafen und baute die ehemalige Anlaufstelle für Schiffe der Gewässeraufsicht nach und nach in eine florierende Sportbootmarina um. Knapp siebzig Liegeplätze nannte er inzwischen sein Eigen. Der Betrieb wurde ordentlich gemanagt, und so kamen die Leute nicht nur aus Koblenz, Trier und Bonn sondern sogar aus Luxemburg und Frankreich, um in Grafenstein einen Liegeplatz zu ergattern. Sogar ein kleiner Werftbetrieb hatte sich eingerichtet. Das hatte den Vorteil, dass die Eigner ihre Boote auch im Winter im Hafen lassen konnten, was zusätzliches Geld in die Kassen spülte. Und jemand, der sich für teuer Geld einen Liegeplatz in einer der wenigen Marinas an der Mosel leisten konnten, wollte sich abends bestimmt nicht mit Büchsenravioli zufrieden geben oder kilometerweit zum nächsten Restaurant latschen. Yachthafen und Restaurant passten vom ersten Moment an zusammen wie die Faust aufs Auge.

 

Während Ballensiefen Ende der Neunzigerjahre alle seine Kraft und Zeit in das Unternehmen steckte, brannte seine Frau Eva allerdings mit irgendeinem langhaarigen Hallodri, von dem sie sich während eines Kurzurlaubs den Kopf hatte verdrehen lassen, nach Gomera durch. Das war zwar vor meiner Zeit an der Mosel, aber ich hatte mir von gewöhnlich gut unterrichteten Kreisen sagen lassen, dass gegen den Rosenkrieg, den die Beiden vor dem Familiengericht veranstalteten, die Völkerschlacht bei Leipzig ein müdes Geplänkel gewesen sein musste. Eva jedenfalls verschwand mit jeder Menge Kohle in der Tasche auf die Kanaren, das Familiengericht bestimmte indes, dass Tochter Julia als ordentliches deutsches Mädel nichts in einer ehemaligen Hippiekommune zu suchen und deshalb gefälligst bei ihrem Erzeuger in Grafenstein zu bleiben habe. Jedenfalls hat Julia die Entscheidung der Familienrichterin dem Vernehmen nach nie bereut. Ballensiefen verwöhnte die Kleine auch heute noch nach Strich und Faden. Mit geradezu erschreckendem Ergebnis, aber das sollte mir egal sein. Ich war unverheiratet, kinderlos und habe das nie bereut. So it is!

 

Sophia fröstelte. Ballensiefen holte eine Decke und warf sie der alten Dame über die Schultern.

»Was macht eigentlich Julia?« fragte unser Totengräber.

Zwei Doofe, ein Gedanke. Caddy bekam erwartungsgemäß sofort glänzende Augen. Es galt in Grafenstein als offenes Geheimnis, dass er sich womöglich in Ballensiefens Tochter verguckt haben könnte. Ihm jedenfalls schien der Altersunterschied von neun Jahren wenig auszumachen. Ballensiefen hingegen schon. Aber bei Julia hatte so jemand wie er ohnehin keine Chance.

»Noch immer Probleme in Mathe?«

Ballensiefen verdrehte die Augen.

»Wenn es das nur wäre«, jammerte er los. »Nein, es ist der Weisz, mit dem sie nicht zurecht kommt. Ihr wisst schon, der Rektor an unserer Realschule. Der Kerl ist vielleicht Sowas von reaktionär, das glaubt ihr nicht. Sie hat ihn in Geschichte. Glasklare Betonfünf. Wie sie es auch anstellt, sie bekommt bei dem Kerl kein Bein auf die Erde. Es ist wie verhext.«

Sophia legte ihr Tablet beiseite, auf dem sie bis zu diesem Augenblick pausenlos herumgeklickt hatte.

»Was hast du denn gegen den Weisz?«

»Der Typ ist doch wohl nur ätzend«, fauchte Ballensiefen. »Beim letzten Elterngespräch hätte nicht mehr viel gefehlt, und ich wäre dem Kerl an den Kragen gegangen.«

»Was hat er denn angestellt?« mischte ich mich ein.

Ballensiefen winkte ab.

»Angestellt? Gar nichts. Aber mit dem kann man doch nicht reden. Geschichtsunterricht. Darunter stelle ich mir vor, dass man den Kids die historischen Entwicklungen in Europa und der Welt beibringt. Und zwar wenigstens vom frühen Mittelalter bis zur Gegenwart. Habe ich etwa nicht recht? Was macht der Weisz stattdessen? Der reitet nur auf der Zeit von 1933 bis 1945 herum, als wenn es nichts anderes gegeben hätte. Ja, ich weiß, war eine beschissene Zeit damals. Da will ich auch gar nichts beschönigen. Meinen eigenen Opa haben sie damals ins Arbeitslager gesperrt, weil er sich 1944 geweigert hatte, als Luftschutzhelfer einzuspringen. Aber sollen die Kids etwa nur noch das lernen, was in den paar Jahren passiert ist? Gab es davor und danach etwa nichts von Bedeutung? Kein Dreißigjähriger Krieg? Keine Aufklärung? Napoleon? Ost-West-Konflikt? Fall der Mauer? Offenbar nicht. Nur ständig das Dritte Reich. Das ist doch unerträglich!«

Caddy ballte die Fäuste.

»Jou, Alter, soll ich mal mit dem reden? Ich hab da ziemlich gute Argumente. Eh, ich schwör!«

Ich verschränkte die Arme im Nacken.

»Ich komme mit Gregor eigentlich ganz gut klar. Zugegeben, er ist ein Sturkopp, wie er im Buche steht, aber eines ist der Mann auf keinen Fall, nämlich konfliktscheu. Ich erinnere da nur an die Demo vergangenen Herbst gegen den Einzug der Rechten bei uns in den Gemeinderat, die einzig und alleine er organisiert hat. Wo waren denn die Grünen oder die Sozialdemokraten? Haben sich fein herausgehalten. Getreu dem Motto: Halt dich raus, dann kriegste auch keinen rein. Es ist einzig und allein Gregor zu verdanken, dass der Schröder damals gerade mal fünf Prozent der Stimmen erhielt. Möchte nicht wissen, wie das ohne die Demo unter Umständen ausgegangen wäre. Deshalb haben wir nämlich zum Glück auch nur einen dieser Galgenvögel bei uns im Gemeinderat, und das sind eigentlich schon zwei zuviel. Was seine pädagogischen Fähigkeiten betrifft: Niemand kann erwarten, dass jeder Lehrer auf jedem Gebiet Fachmann ist. Seit Steckenpferd ist halt die Zeit von 1933 bis 1945. Lasst ihm doch den Frieden.«

Ballensiefen heulte förmlich auf.

»Verstehe ich ja alles. Bin doch nicht weltfremd. Aber trotzdem. Deutschland im Geschichtsunterricht auf die paar Jahre einzudampfen, zeugt doch wohl von einem beschränkten Horizont. Das habe ich dem Kerl auch klipp und klar ins Gesicht gesagt. Ob er vielleicht auch von was anderem Ahnung hätte. Was macht er? Klappt Julias Schülerakte zu und erklärt das Gespräch für beendet. Ich hätte dem Typ so eine hineinhauen können.«

»Und was ist mit Julias Mitschülern?« wollte der Totengräber wissen.

Ballensiefen winkte ab.

»Der Weisz ist bei denen ein rotes Tuch. Letztens haben ein paar Burschen aus der Neunten seinen Wagen auf Ziegelsteine hochgebockt und nebenbei noch sämtliche Räder abmontiert. Aber nicht etwa geklaut. Die Jungs haben die Reifen von den Felgen gehebelt und sämtliche Einzelteile fein säuberlich neben dem Wagen aufgeschichtet.«

»Dummejungenstreich. Wie hat er reagiert?«

»Das will ich dir sagen«, entrüstete sich Ballensiefen. »Der Weisz wohnt anscheinend in irgendeinem gottverlassenen Nest irgendwo in der Nähe der Autobahn. Als er die Bescherung sah, war der letzte Bus weg, und Steinhöfel kam mit seinem Taxi angeblich auch nicht. Kein Wunder. Dessen Enkel gehört schließlich auch zu Weisz' Schülern. Was macht also der Typ? Ruft den ADAC an, lässt seinen Wagen abschleppen und nimmt sich das teuerste Zimmer im Hotel. Anderntags präsentierte er seinen Schülern die Rechnung für die Abschleppaktion mit dem lapidaren Hinweis, dass es mit der kommenden Klassenfahrt damit erst mal Essig sei. Man solle sich bei den Tätern, ja, er sagte ausdrücklich 'Tätern', bedanken. Herr im Himmel, der sollte seine Koffer packen und endlich abhauen.«

 

Gregor Weisz war einer meiner wenigen Freunde, seit es mich vor fünf Jahren erneut an die Mosel verschlug. Zugegeben, Gregor war bestimmt kein einfacher Mensch. Eher ein Kerl mit jeder Menge Ecken und Kanten, dafür aber grundanständig und verlässlich. Vielleicht verstanden wir uns ja deshalb so gut. Als während der Eisweinlese bei uns mal Not am Mann war, stand Gregor sofort Gewehr bei Fuß, schnappte sich kommentarlos eine Kiepe, band sie sich auf den Buckel und stapfte wie selbstverständlich mit uns hinauf in den Weinberg. Bei fünf Grad unter Null. An einem Sonntag um sechs Uhr in der Frühe. Das war Gregor. Auf so jemanden war Verlass.

 

Sophia grinste verschmitzt.

»Ich erinnere mich an einen ähnlichen Fall Mitte der Fünfziger in Köln. Da gab es auch so einen Pauker, den niemand leiden konnte. Deutsch und Geschichte. Ich sage nur: Schillers Glocke und Schliemanns Kampf um Troja. Bis zum Erbrechen. Heute wäre das Interesse unter den Heranwachsenden an Homer vermutlich höher, seit vor ein paar Jahren Brad Pitt in die Rolle des Achill geschlüpft ist. Hmmmh, das ist aber auch ein Sahneschnittchen, sage ich euch! Six-Packs bis zum Abwinken. Ich habe den Film bestimmt...«

Die alte Dame verdrehte für einen kurzen Augenblick verzückt die Augen.

»Aber zurück zum Thema. Der Typ fuhr eine BMW Isetta. Ihr wisst schon, die Knutschkugel. Und was macht seine Oberstufe? Packen sich den Wagen, so ein Ding wog damals gerade mal ein paar hundert Kilo, schleppen ihn auf den Sportplatz und schmeißen ihn mitten in den Sandkasten für den Weitsprung. Der Pauker musste anderntags einen Kranwagen anrollen lassen. Aus eigener Kraft ließ sich die Isetta nämlich nicht aus dem Dreck zerren. Und mit anpacken wollte natürlich auch keiner. Nicht mal das Lehrerkollegium. Von wegen Rücken, oder so.«

 

Gleicher Akt, nächster Aufzug. Und zwar mit Beckentusch.

Wie auf Bestellung bog ein fünfzehnjähriger Lockenschopf um die Ecke und steuerte schnurstracks auf Ballensiefen zu. Auftritt Julia, Bizets Carmen in platinblond. Burberry-Bluse, Gürtel aus dem Hause 'Der Tod trägt Prada', Two-tone-Jeans von Faith Connexion, Casadei Highheels. Rein theoretisch lief da ein zweibeiniger Kleinwagen herum. Zugegeben, ein gebrauchter Kleinwagen, aber immerhin. Kein Wunder, dass bei manch einem in der Neunten der Adrenalinspiegel in astronomische Höhen kletterte.

»Jou, Sonnenschein«, strahlte Caddy wie auf Kommando.

Julia würdigte ihn erwartungsgemäß keines Blickes. Stattdessen ging sie schnurstracks auf ihren Erzeuger zu.

'Hast'e mal 'nen Hunni?«

Typisch Scheidungskind. Verwöhnt bis zum Erbrechen. Aber erstklassiger Einstand. Und das alles, ohne auch nur einmal mit der Mascara-Wimper zu zucken.

»Wofür?«

Typisch Tuttifrutti. Völlig falscher Ansatz. Der lernt's nie! Ich muss es schließlich wissen. Denn: Isch 'abe ga' keine Auto, Signorina!

»Das willst du nicht wirklich wissen«, meinte Julia und streckte ihm nur demonstrativ die rechte Hand entgegen.

Ballensiefen atmete tief durch.

»Erst möchte ich erfahren, wofür du hundert Euro brauchst. Bist du noch bei Trost? Vorgestern erst hast du einen Fünfziger von mir bekommen.«

»Wir wollen heute Abend in den Klub.«

Der 'Klub' war die Disco im Nachbarort. Ich war in letzter Zeit selbst häufiger dort zu Gast, wenn mir daheim die Decke auf den Kopf fiel. Wie die als Fünfzehnjährige allerdings an Murad, dem türkisch-stämmigen Türsteher mit seinem immer wieder gerne zur Schau gestellten Bizeps vom Format Gewichtheber-Oberschenkel ungeschoren vorbeikommen wollte, war mir ein Rätsel. Aber das war in erster Linie Julias Problem.

»Wer, wir?« erwiderte Ballensiefen, obwohl er das tatsächlich gar nicht wissen wollte.

Seine Tochter rollte bühnenreif mit den Augen.

»Na, mit den Jungs halt. Kennst du eh nicht.«

Diese Vorstellung behagte wohl auch Caddy nicht besonders.

»Eh, was für Jungs? Die sollen bloß ihre Griffel von dir lassen. Eh, ich...«

Weiter kam er nicht. Julia baute sich wortlos vor ihm auf, nahm seine Cola und schüttete den Inhalt in einen der Blumenkübel.

»Eh, ist heute Ramadan, oder so.«

Ballensiefen schlug mit der flachen Hand auf den Tisch, dass die Gläser tanzten.

»Ach, nee! Die kenne ich also nicht. Dann bring sie mal schleunigst vorbei, die Jungs, damit ich sie kennenlerne.«

Miss Sophie schaute ihn vorwurfsvoll an.

»Nun lass mal gut sein. Hast du deinen Eltern früher etwa auch alle deine Freunde vorgestellt?«

Ihre Stimme nahm einen geradezu verschwörerischen Klang an.

»Ich weiß noch, wie Hans und Berta mich mal angerufen haben und sich jämmerlich darüber beklagt haben, dass du...«

»Das gehört nicht hierher!« begehrte Ballensiefen auf.

Julias Augen wurden groß wie Untertassen.

»Was gehört nicht wohin?«

»Na, die Sache damals mit der Kleinen von der Kirmes...«

Ballensiefen legte der alten Dame blitzschnell die linke Hand auf den Mund. Mit seiner Rechten fingerte er bereits an seiner Hosentasche und zog sein Portemonnaie hervor. Sekunden später wechselten zwei Fünfziger den Besitzer.

Julias Augen leuchteten auf.

»Na, also. Geht doch. Aber jetzt will ich trotzdem noch...«

»Schnüss halten und abhauen«, entgegnete Sophia. »Du darfst alles fragen aber noch lange nicht alles wissen. Also, ab durch die Mitte, mein Fräulein. Nun mach schon, ehe er es sich vielleicht noch anders überlegt!«

 

Die Sache mit Gregor ließ mir keine Ruhe.

»Sag mal, Julia, was ist denn da eigentlich bei euch an der Schule los?«

Julias Gesichtszüge begannen mit einem Schlag zu entgleisen.

»Du meinst den Weisz?« fauchte sie los. »So ein Arschloch. Mehr Arsch geht eigentlich gar nicht. Ich wünschte, dem würde einer mal sein Sakko auf links drehen. Und zwar solange er noch drinsteckt.«

Ich zog einen Stuhl herbei. Caddy strahlte und machte sofort bereitwillig Platz.

»Also, ich höre.«

Das Funkeln in Julias Augen nahm an Bedrohlichkeit zu.

»Der Typ ist doch gaga. Kein Wunder, dass sie den an seiner letzten Schule geschasst haben.«

Ballensiefen blickte erstaunt hoch.

»Sag das nochmal. Der ist rausgeflogen? Wo? Warum?«

Julia grinste verschlagen.

»Nix Genaues weiß man nicht. Ein paar Jungs aus meiner Klasse haben versucht, über das Internet was herauszukriegen, aber die in Trier schweigen wie ein Grab. He, Oma Finchen! Du bist doch so ein Computerfreak. Kannst du da nicht mal was machen?«

Die alte Dame verzog ihr Gesicht. Seit jeher wurde sie von der Grafensteiner Jugend nur 'Oma Finchen' genannt. Daran hatte sie selbst in dreißig Jahren nichts ändern können. Wo sie doch zeitlebens nie geheiratet geschweige denn Kinder bekommen hatte. Die Erwachsenen waren da aber auch nicht viel charmanter. 'Miss Sophie' klang in ihren Ohren genauso blöd. Aber was sollte man machen. Hinterwäldler eben.

»Wenn ich euren Schulcomputer wegen der nächsten Matheklausur anzapfen soll, okay, aber an Denunziationen beteilige ich mich grundsätzlich nicht. Und nenne mich gefälligst nicht 'Oma Finchen'. Du weißt genau, wie sehr ich das hasse.«

Ballensiefen lehnte sich weit zurück und kniff demonstrativ ein Auge zu.

»Ach, was! Der Weisz ist aus seiner alten Penne herausgeflogen. Und schwuppdiwupp bekommt der bei uns die Stelle als Realschulrektor. Das wird ja immer spannender!«

Die alte Dame erhob sich seufzend.

»Was soll daran spannend sein? Möchtest du etwa mit einem Lehrer tauschen? Jeden Tag allein unter dreißig beißwütigen Raubkatzen? Nein? Na, also. Und ich sage euch hier und jetzt, hätte der Weisz tatsächlich Dreck am Stecken, dann hätte der die Rektorenstelle an unserer Realschule nie und nimmer bekommen. Ich kenne zufällig den zuständigen Mann im Schulamt. Das ist ein ganz Scharfer. Der schaut zweimal hin, ehe er einen Lehrer einstellt. Und bei jemandem wie Weisz eher dreimal.«

»Wo war der eigentlich vorher beschäftigt?« Das Thema ließ offenbar auch auch unserem Totengräber keine Ruhe.

Julia rümpfte die Nase.

»Sag ich doch, in Trier. Und davor in Ossiland, glaube ich.«

»Ach, glaubst du«, murmelte ich.

»Das glaube ich nicht nur, dass weiß ich sogar«, fauchte Julia. »Ganz sicher. So wahr ich hier stehe.«

»Dann steh mal schön.«

Aufmüpfige Teenager im Sex-and-the-City-Outfit und mit ständig ausgestreckter Hand hatte ich noch nie leiden können.

»Ich hab jetzt jedenfalls keinen Bock mehr, über den bescheuerten Weisz zu palavern. Stellt ihm doch von mir aus ein Denkmal auf. Am besten mit Inschrift.«

Sie verschwand so rasch, wie sie aufgetaucht war. Allerdings um hundert Mäuse reicher. Kein schlechter Stundenlohn für eine Realschülerin mit schlechtem Notendurchschnitt. Da musste selbst Miss Sophies WG-Genossin Nora in ihrem Trierer Bumslokal mehr rackern. Respekt!

 

Ballensiefen hob die Hand und gab einer seiner neu eingestellten Saftschubsen ein Zeichen. Mit raschen Schritten kam die junge Frau an unseren Tisch geeilt. Mein Lieber Schwan, dachte ich noch bei mir. Tuttifrutti hatte seine Crew aber im Griff! Wieso das ausgerechnet bei seiner Tochter nicht klappte?

»Nochmal dasselbe«, meinte Ballensiefen generös und deutete dabei auf unsere leeren Gläser.

Die junge Frau nickte und begann wortlos das Geschirr wegzuräumen. Sophia schüttelte den Kopf.

»Für mich nicht. Ein andermal gerne. Ich muss los.«

Gleichzeitig klemmte sie sich das Tablet unter den Arm.

»In einer halben Stunde beginnt meine Pokerrunde im Netz. Von irgendwas muss ich ja später mal das Seniorenheim bezahlen können.«

Das erweckte sofort die Neugier unseres Totengräbers. Seniorenheim war schlecht, Hospiz wesentlich besser. Das ging schneller.

»Was für ein Seniorenheim?«

Sophia Amalie Berrenrath grinste wie die sprichwörtliche Sphinx und schüttelte beim Fortgehen nur lässig die erhobene rechte Hand. Verdammt nochmal, dachte ich bei mir. So eine Oma hätte ich vor vierzig Jahren auch gerne gehabt.

Die Augenpaare der anderen übrigen Verdächtigen wanderten schlagartig in Richtung Ballensiefen.

»Jetzt mal unter uns Klosterschwestern. Wie war das damals und überhaupt, mit was für einer Kleinen und auf welcher Kirmes...?«

Lanzerath wischte die Bemerkung mit einer energischen Geste beiseite. Gleichzeitig wanderte sein Blick in Richtung Tresen.

»Lasst doch mal die ollen Kamellen. Mich interessiert vielmehr, wo unser Kneipier diese süßen Mädels aufgegabelt hat. Kommen die aus Russland?«

»Rumänien«, antwortete Ballensiefen. »Aber behalt's für dich. Du weißt ja, wie die Leute reden.«

Seine Stimme wurde dabei so leise, dass man ihn kaum verstehen konnte. Na ja, dachte ich noch bei mir. Tuttifrutti ist alt genug. Der wird schon wissen, was er tut.

 

 

 

Kapitel 2

 

Montag

 

Ein bisschen brummte mir immer noch der Schädel. Am Sonntag war ich erst in den frühen Morgenstunden nach Hause gekommen, weil im 'Klub', unserer Dorf-Disco in Steinfeld, die Cocktails mal wieder in Strömen flossen. Kelim Oztürk, der Besitzer des Lokals, hatte kurz nach Mitternacht die Verlobung seines Schwagers mit dessen Freundin, einer aufgedonnerten Friseuse mit Aufsehen erregendem Piercing quer durch sämtliche Gesichtszüge, bekannt gegeben. Zum Glück war mein Unimog wie ein Pferd und fand daher auch ohne mein Zutun seinen Weg zurück in den Stall. Hinzu kam, dass Breitenbach, unser Ortssheriff, mit seiner kompletten Trachtengruppe zu einer Massenkarambolage gerufen worden war. Also alles ganz easy.

 

Ich war gerade damit beschäftigt, die eingegangenen Bestellungen zu sichten. Zwei Restaurants aus der Umgebung wollten je zehn Kartons Riesling Auslese haben. Unser absoluter Spitzenwein. Das spülte wenigstens endlich mal wieder ordentlich Geld in die Kasse. Ein Feinschmeckerlokal in Bonn erkundigte sich nach unserem Blanc de Noir. Der vorletzte Jahrgang sei bei den Gästen offenbar so gut angekommen, dass man sich rechtzeitig eindecken wollte. Ich seufzte. Ausgerechnet der Blanc de Noir, an dem Thomas, mein Kellermeister, bereits seit Wochen herumexperimentierte. Thomas Schruntz war Perfektionist. Unseren Weinkeller verließ nichts, was nicht absolut topp war. Für meinen Geschmack ließ er sich auf dem Weg zur Meisterleistung allerdings ein wenig zuviel Zeit. Andere Winzer hatten ihren Blanc de Noir längst fertig gekeltert. Wir hinkten inzwischen ganz schön hinterher.

 

Ich drückte Marianne Schäfer, die bei mir seit vorigem Jahr als Halbtagskraft den Verkauf organisierte und gleichzeitig auch für die Buchhaltung zuständig war, ein paar Belege in die Hand und wollte gerade durch die Tür.

»Sag, mal«, meinte sie, ohne von ihrem Bildschirm aufzuschauen, »wann machen wir dieses Jahr eigentlich Betriebsferien? Ich wollte langsam mal ans Buchen denken. Du weißt ja, wer zu spät kommt,...«

Die Dreißigjährige ließ den legendären Satz eines ansonsten glücklosen Präsidenten der ehemaligen Russischen Föderation unvollendet im Raum stehen. Ich runzelte die Stirn.

»Urlaub? Ganz schlecht. Bei mir macht man grundsätzlich keinen Urlaub. Und Betriebsferien sind für mich sowieso ein Fremdwort. Im übrigen warst du doch erst vor ein paar Tagen verreist.«

Marianne ging auf meinen Einwand mit keiner Silbe ein.

»Mitte Mai würde ich gerne zwei Wochen nehmen. Drei wären natürlich besser.«

»Im Mai schon mal gar nicht«, knurrte ich halblaut vor mich hin. »Wo denkst du hin? Ich habe dich zum arbeiten eingestellt und nicht zum faulenzen. Wenn ich das schon höre! Urlaub über die Pfingstfeiertage! Wo gibt's denn Sowas? Auf welchem Planeten lebst du eigentlich?«

»Also, okay?« fragte sie nur.

»Okay«, seufzte ich ergeben.

»Zwei oder drei?«

»In Gottes Namen von mir aus auch drei.«

Sie blickte von ihrem Bildschirm auf und lächelte.

»Na also. Geht doch.«

Ich deutete auf den Wandkalender hinter ihrem Schreibtisch.

»Wo soll's denn hingehen? Westerwald, Eifel oder doch gar ins Sauerland? Bist du denn schon geimpft?«

Mariannes Eltern besaßen in der Nähe von Mayen einen Bauernhof. Dort bauten sie Bio-Gemüse und Obst an. Im Frühjahr brauchten die Schäfers jede helfende Hand bei der Erdbeerernte, im Herbst beim Obstpflücken. Wie ich gehört hatte, kam Marianne ziemlich gut mit den osteuropäischen Erntehelfern zurecht. Vermutlich musste sie ihren Altvorderen zur Hand gehen.

»Für Südfrankreich muss man doch nicht geimpft sein«, meinte sie stirnrunzelnd.

Ich zog nun meinerseits die Stirn in Falten. Über Reisen ins Ausland hatte sie bisher noch nie ein Wort verloren. Ich dachte bis dahin, sie sei eher der bodenständige Typ.
»Südfrankreich? Savoir-vivre? Barbusig am Strand? Wissen deine Eltern überhaupt Bescheid?«

Sie schenkte mir ihr bezaubernstes Lächeln.

»Blödsinn. Ich absolviere in der Camargue ein Praktikum auf einer Farm. Man muss sich schließlich weiterbilden.«

Das sah ihr ähnlich. Andere fuhren nach Südfrankreich wegen des guten Essens oder der Kerls am Strand, und was machte Marianne? Besorgte sich eine Praktikantenstelle mitten in der Pampa. Nun gut, Marianne sah vielleicht nicht gerade aus wie Jennifer Lopez, aber wenn sie in ihrem berühmt-berüchtigten Blümchenkleid mit dem legendären halbrunden Ausschnitt bei uns im Verkaufsraum Wein ausschenkte, dann konnte ich mich anschließend vor Laufkundschaft kaum noch retten.

 

Eigentlich wusste ich nicht viel über Marianne. Angeblich hatte man ihr nach erfolgreich absolviertem BWL-Studium einen Job in einer Unternehmensberatung angeboten, den sie jedoch mit dem lapidaren Hinweis ablehnte, sich dann nicht mehr genug um die Organisation des elterlichen Betriebs kümmern zu können. Kurt und Claudia Schäfer hatten seinerzeit geglaubt, man könne einen landwirtschaftlichen Betrieb mit drei, vier Rindern, ein paar Schweinen, Ziegen und Schafen erfolgreich über die Runden bringen. Nach ihrem Studium konnte Marianne offenbar den völlig heruntergewirtschafteten Hof in einen florierenden Öko-Betrieb umwandeln. Das Vieh wurde bis auf ein paar Tiere für den Streichelzoo abgeschafft und dafür Obst und Gemüse mit Bio-Qualitätssiegel angebaut. Was sie allerdings Knall auf Fall nach Grafenstein verschlagen hatte, blieb mir ein Rätsel. Marianne war in meinen Augen für diesen Halbtagsjob auf so einem kleinen Weingut völlig überqualifiziert. Aber mir sollte es recht sein. Eine Fachfrau in Betriebswirtschaft als Buchhalterin und gleichzeitig Verkaufsgenie im hauseigenen Laden, das war Sowas wie ein Sechser im Lotto.

 

»Fein«, meinte ich. »Das hört sich gut an. Dann kann ich ja auch dein Gehalt normal weiterlaufen lassen. Ich verbuche deinen Urlaub mal als betriebliche Fortbildungsmaßnahme. Das können wir doch bestimmt von der Steuer absetzen, nicht wahr?«

Marianne lächelte nur.

»Was glaubst du, woran ich gerade arbeite?«

»Du bist und bleibst mir ein Rätsel«, meinte ich. »Apropos Farm. Was bauen die eigentlich da unten an? Ich dachte, dort gäbe es nur Salzwiesen.«

»Korrekt, mon ami. Gemüseanbau wäre dort unten tatsächlich etwas mühselig. Nein, auf Les terraces des gardiens werden Camarguerinder gezüchtet. Du weißt schon, diese Mordsviecher mit den eigentümlich geformten Hörnern. Das Fleisch liefern die angeblich bis nach Übersee. Ein Teil der Bullen ist für die Arena vorgesehen. Die Bullen von Les terraces des gardiens gelten nicht gerade als charmante Wegbegleiter, falls du verstehst, was ich meine. Mich interessiert im Grunde genommen auch nicht so sehr die Arbeit der Gauchos als vielmehr, wie die ihren Laden schmeißen. Vielleicht kann ich ja von denen noch was lernen.«

»Da bin ich sicher.«

Falls sich Marianne jemals nach einem anderen Job umsehen sollte, dann hatte ich ein echtes Problem. Im Grunde genommen war das Mädel unbezahlbar. Ohne sie, Kellermeister Thomas Schruntz und Lutz Backhaus, unseren Vorarbeiter aus der Kölner Bronx, hätte ich meinen Betrieb keine zwei Wochen über die Runden gebracht.

»Du fährst doch hoffentlich alleine?« wollte ich noch wissen.

Marianne schaute mich verständnislos an.

»Selbstverständlich fahre ich alleine. Wie kommst du darauf?«

»Bleib bloß sauber«, warnte ich sie.

Marianne schenkte mir ein nachsichtiges Lächeln und widmete sich wieder ihrer Arbeit am Computerbildschirm.

 

Wenig später schlenderte ich über den unbefestigten Schotterplatz, auf dem normalerweise die Laufkundschaft ihre Autos parkte, vorbei an der kürzlich neu errichteten Verkaufsboutique, der Garage für unseren Fahrzeugpark, dem Lager und der Halle für die Vorsortierung der Trauben. Viel los war hier heute jedenfalls wenig. Doch das machte nichts. Ich war gerne allein. Zu lange hatte ich in einem sterilen Großraumbüro gearbeitet, umgeben von ständigem Stimmengewirr der Kollegen, ständig unterbrochen vom Klingeln der Telefone und Rattern der Faxgeräte. Ich atmete tief durch. Herrlich diese Frische. Nicht zu vergleichen mit dem Gemisch aus Männerschweiß, aufdringlichem Damenparfüm und Ausdünstungen der Fotokopierer und Laserdrucker, die uns armseligen Ermittlungsbeamten der Steuerfahndung die Arbeit erleichtern sollten. Unsere Klimaanlage hier an der Mosel war der Wind, der von Frankreich herüberwehte.

Es war jetzt annähernd fünf Jahre her, dass ich von Bochum weg bin. Dabei war ich eigentlich gerne Beamter gewesen. Gesetzestreu, unbestechlich, pflichtbewusst. Preußisch-korrekter Kurzhaarschnitt, gedeckter Anzug, schwarze Lederschnürschuhe. So eine Art Jerry Cotton der Finanzverwaltung. Ich arbeitete seinerzeit als Ermittler bei der Staatsanwaltschaft, die gegen Steuerhinterziehung in großem Stil vorging. Schwarzgeldtransfer ins Ausland gehörte Ende der ersten Dekade dieses Jahrhunderts in der sogenannten 'feinen Gesellschaft' praktisch zum guten Ton. Wer was auf der Bank hatte und keine Steuern zahlen wollte, der verschob sein Vermögen ins Ausland.

 

In den Neunzigern besaß man sein Vermögen noch in Form von Wertpapieren, die in aller Regel als effektive Stücke im Bankschließfach aufbewahrt wurden. Jedes dieser Papiere besaß einen Kuponbogen. Zum alljährlichen Zinstermin schnippelte man mit der Schere einen Kupon ab und bekam dafür am Bankschalter Bares. Cash auf die Kralle. Steuerfrei. Das war damals so selbstverständlich, dass Banken und Sparkassen mit dieser Form der abgabenfreien Geldvermehrung ganz ungeniert am Schalter Werbung machten. Unserem damaligen Finanzminister war das jedoch irgendwann ein Dorn im Auge. So ordnete er in einer stillen Stunde an, dass fürderhin sämtliche einschlägigen Bankfilialen zu den jeweiligen Zinsterminen überwacht zu sein hatten. Das zeigte Wirkung, denn Kapital ist bekanntlich ein scheues Reh, und so machte sich die Geldklientel nach Luxemburg auf und löste einfach dort bei den jeweiligen Dependancen ihrer Bankhäuser die fälligen Kupons ein. Schließlich wurden auf Druck der EU Tafelpapiere auch dort besteuert und zum Schluss ratzfatz komplett vom Markt genommen. Fortan musste man also seine Wertpapiere ganz offiziell in ein Bankdepot einbringen und vom Zinsgewinn brav seine Steuern zahlen. Soweit, so gut. Nur die Leute mit der richtig dicken Knete, die wollten sich von Vater Staat natürlich nicht so ohne weiteres abzocken lassen. Die verschoben ihre Moppen fortan ins EU-ferne Ausland. Vornehmlich ins Reich der Eidgenossen, denn das Bankgeheimnis in der Schweiz galt damals so sicher wie ein Fels in der Brandung. Irgendwann jedoch kam ein windiger Bankangestellter auf die Idee, zwecks Steigerung seiner Jahreseinkünfte die Kunden zu erpressen. Streng nach dem Motto: Wenn du nicht zahlst, dann verrate ich dich halt an den deutschen Fiskus. Weil das die Großkopferten mit ihren vermeintlich anonymen Nummernkonten jedoch nicht sonderlich beeindruckte, besorgte er sich kompromittierende Daten aus dem bankeigenen Computersystem, nicht viele, aber doch soviel an belastendem Material, dass man bei uns daheim aufhorchte. Der Rest ist Geschichte. Als der erste prominente DAX-Vorstand vor laufender Kamera in Handschellen abgeführt wurden, ging unter den oberen Zehntausend auf einmal die nackte Angst um. Und das Geschäft mit den silbernen Datenträgern begann fröhliche Urständ zu feiern.

 

Mir wurde auch so eine CD zum Verhängnis. In Basel pokerte ich von Dienst wegen mit solch einem Bankfuzzi wie ein armenischer Teppichhändler um den Kaufpreis für eine dieser Daten-CDs. Er verlangte zwei Millionen. Ich bot erst mal Siebenhundertfünfzigtausend. Dann standen wir eineinhalb Millionen zu einer Million. Schließlich einigten wir uns auf die Mitte. Ich mit einem breiten Grinsen, er hingegen eher mit einem Messer zwischen den Zähnen.

Daheim in Bochum wurde ich erst noch als der große Zampano gefeiert, denn durch mein Zutun waren der Finanzverwaltung jede Menge kompromittierender Steuerdaten für mindestens den zehnfachen Gegenwert an Steuernachforderungen in die Hände gefallen. Ich erhielt sogar eine offizielle Belobigung vom Finanzminister. Auf Büttenpapier mit Originalunterschrift und Dienstsiegel. Meine Freude währte jedoch nicht lange. Zwei Wochen nach dem Deal wurden Gerüchte laut, ich hätte dem Bankangestellten nur eine Million ausgehändigt und die andere Viertelmillion in die eigene Tasche gesteckt. Vermutlich war das Gerücht von diesem Schmutzfink selbst in die Welt gesetzt worden. Jedenfalls wurde ich kurz darauf suspendiert und zwei Monate später hochoffiziell wegen des Verdachts der Vorteilsnahme und schweren Betrugs vor Gericht gezerrt. Zwar konnte mir der ermittelnde Staatsanwalt letztlich nichts Konkretes nachweisen, da sein Informant aus verständlichen Gründen vor einem deutschen Gericht persönlich lieber nicht in Erscheinung treten wollte, aber das Vertrauensverhältnis zwischen mir und meinem Dienstherrn war perdu. Als man mich dann auch noch auf eine einfache Sachbearbeiterstelle in ein Finanzamt irgendwo in die Walachei versetzen wollte, quittierte ich kurzerhand den Dienst. Wer mir nicht vertraute, mit dem wollte ich auch nichts mehr zu tun haben. Zugegeben, der unerwartete Tod meines Vaters und die damit verbundene Erbschaft erleichterte mir die Entscheidung. Das ist wie gesagt inzwischen rund fünf Jahre her. Bereut hatte ich diesen kühnen Schritt jedoch nie.

 

Ich war so in Gedanken, dass ich den hageren Zweimeter-Burschen mit Halbglatze, Ziegenbärtchen und ungesund blass wirkender Gesichtsfarbe zunächst gar nicht wahrnahm. Thomas Schruntz stand im Eingang des 'Labors', wie er einen stets sorgsam verschlossenen Teil unseres Weinkellers zu nennen pflegte und winkte mir aufgeregt zu. Ich blickte hoch. Thomas trug wie üblich eine gefütterte Baumwollhose, einen dicken Kapuzenpulli und wegen der empfindlichen Kühle im steinernen Gewölbekeller unter dem Weinberg eine griechische Hirtenweste aus Lammfell. Eigentlich hätten nur noch Pelzmütze und Snowboots gefehlt, und er wäre locker als Yeti mit Essstörungen und latentem Haarausfall durchgegangen.

Ich änderte die Schrittrichtung und schlenderte auf die Zweimeter-Bohnenstange im Felloutfit zu.

»Was gibt's?«

Schruntz packte meinen Ärmel und zog mich in das Innere des Weinkellers. Nicht ohne vorher sorgfältig hinter uns abzusperren. Schruntz war Berufshektiker. Wenn dem ein Reagenzglas beim Herumexperimentieren aus der Hand fiel, dann war das gemessen an seinem Getue mindestens einen Artikel in der Frankfurter wert.

 

Triumphierend deutete mein Kellermeister auf zwei Edelstahlzylinder, die nicht weit von seinem Schreibtisches dicht am Mauerwerk des Gewölbes standen. Ich zuckte die Schultern. Na, und? Zwei Metallbehälter. Zugegeben, klinisch sauber. Das war aber auch alles. Gibt's bei BASF in Ludwigshafen massenhaft an jeder Ecke.

Schruntz zog mich an einen kleinen Stehtisch, stellte zwei Probiergläschen darauf ab und kletterte kurz darauf mit einer Leiter auf einen der beiden Metallzylinder. Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, schraubte er einen Inspektionsverschluss auf, und versenkte die Spitze einer Pipette geradezu andächtig in der Öffnung. Den Inhalt der Pipette ließ er erst in seines und dann in mein Probierglas tröpfeln. Ja, tröpfeln. Es kam einem vor, als würde er mit Nitroglyzerin hantieren. Als ich die schwach rosafarbene Flüssigkeit im dämmrigen Licht des Deckengewölbes näher unter die Lupe nahm, dämmerte es mir langsam.

»Unser Blanc de Noir?«

Gleichzeitig bemühte ich mich, kein allzu großes Interesse vorzutäuschen, denn ich wusste aus Erfahrung, wohin das führte. Im schlimmsten Fall kam ich erst gegen Mitternacht aus dem Weinkeller heraus. Schruntz' akademischen Vorträge über Weinanbau im Allgemeinen und die ökologische Weinherstellung im Besonderen konnten mitunter Stunden in Anspruch nehmen.

Der Hagere pflichtete mir stumm bei und sog den Geruch, den der lachsfarbene Inhalt in seinem Glas verströmte, andächtig in sich auf. Ich tat es ihm gleich. Dann nahm ich einen Schluck, kaute herum, stets darauf bedacht, auch wirklich alle Schleimhäute im Mund gleichmäßig zu benetzen, schnupperte den Duft, wie ich es gelernt hatte, mit noch vollem Mund wie ein nach Luft schnappender Karpfen und ließ den Wein anschließend durch die Kehle rinnen.

»Hmm!« brummte ich. »Ja, nicht schlecht. Noch ein bisschen Rotwein aus dem Supermarkt dazu, und wir können das Zeug als Assieto Balsamico verkaufen. Und der ganze Kübel dahinten ist voll davon? Na, du hast Nerven! Wie soll ich das deiner Ansicht nach jemals verkauft bekommen?«

Jemand, der gerade einem Gespenst begegnet ist, hätte vermutlich nicht entsetzter dreinschauen können.

»Schmeckt er dir nicht?« waren Schruntz' erste Worte. Er presste sie geradezu heraus.

Ich runzelte die Stirn und kostete erneut.

»Doch wo du es sagst. Zu Currywurst und Fritten könnte man ihn trinken. Zu Reibekuchen ginge es zur Not auch. Allerdings nur mit viel Zwiebeln als Beilage.«

Langsam konnte ich mich nicht mehr ernst halten. Schruntz und ich kannten uns seit inzwischen vier Jahren, aber meine Art Humor war ihm offenbar bis heute fremd. Wie er mich da mit offenem Mund anstarrte, der Zweimeter-Blässling mit Ziegenbart und Fellweste, das war Slapstick pur. Er tat mir in diesem Augenblick fast ein bisschen leid, aber alleine auf diesen Gesichtsausdruck hätte ich selbst für einen Sechser im Lotto nicht verzichten mögen.

Schruntz' Augen pendelte zwischen meinem breiten Grinsen und den beiden Metallzylindern hin und her. Verlegen knetete er seine Finger. Wie ein Fünftklässler, dem die hochschwangere Lehrerin vorne an der Tafel verzweifelt den Unterschied zwischen Mama-Bär und Papa-Bär zu erklären versucht.

»Na, schön«, meinte er nach einer Weile. »Ist ja auch noch nicht zu spät fürs Jahr. Ich mache mich gleich dran und versuche es nochmal. Also, ich habe da noch eine Idee, wie wir...«

Ich schnaubte geräuschvoll.

»Wenn du an der Rezeptur auch nur ein Jota änderst, Kerl, dann soll dich der Gehörnte holen. Kommendes Jahr kannst du von mir aus soviel herumexperimentieren, wie du willst, aber dieser Wein bleibt so, wie er ist. Haben wir uns verstanden? Ab wann können wir in Flaschen abziehen?«

Schruntz war offenbar immer noch mit dem gedanklichen Spagat beschäftigt, ob er sich jetzt gebauchpinselt oder verarscht fühlen sollte. Es arbeitete deutlich in ihm.

»Nun ja, das könnte vielleicht schon nächste oder übernächste Woche klappen, aber wenn du doch lieber...«

»Also, abgemacht«, meinte ich nur und war bereits an der Tür. »In spätestens zwei Wochen ist alles Poletto. Das kriegst du hin.«

»Ich krieg das hin«, murmelte Schruntz immer noch entgeistert.

 

Draußen auf dem Parkplatz lief mir Marianne über den Weg. Sie machte wohl schon Feierabend und steuerte deshalb schnurstracks auf ihren Wagen zu.

»Hast du mal einen Moment?« fragte ich sie.

Erwartungsvoll kam sie näher. Oh, ich liebe diesen Job. Man schnippt mit den Fingern, und die Leute parieren. Früher war das ganz anders. Na ja, da hatte man wenigstens Pensionsberechtigung.

»Was gibt's?«

»Es gibt Arbeit«, antwortete ich. »Thomas hat den Blanc de Noir so gut wie fertig. In spätestens zwei Wochen füllen wir ab. Als Erstes brauchen wir genügend Hochhalsflaschen, ein vernünftiges Etikett, eine noch bessere Verkaufsstrategie...«

Mariannes runzelte die Stirn. Aber nur kurz. Man wusste schließlich, was sich gegenüber dem Chef gehörte.

»Also, bitte! Das ist doch alles längst erledigt. Schau einfach mal in dein Email-Postfach. Du weißt schon. Computer hochfahren, Outlook anklicken, Posteingang öffnen, Nachricht lesen. Hast du anscheinend lange nicht mehr gemacht. Das Etikett hat ein befreundeter Grafiker aus Neuwied für uns entworfen, und die Verkaufsstrategie lege ich dir morgen auf den Schreibtisch. Ich denke, die Hälfte der Flaschen werden wir alleine über das Internet los. Der Rest ist dein Job.«

Ich kniff das rechte Auge zu.

»Dieses Comic-Bildchen, das du mir da gemailt hast, nennst du allen Ernstes Weinetikett? Und was heißt hier überhaupt 'dein Job'? Bin ich Staubsaugervertreter, oder was? Glaubst du, ich habe nichts Besseres zu tun, als mit einem Kofferraum voll Weinflaschen durch die Gegend zu zuckeln? Wer bin ich denn?«

»Was für ein Kofferraum?« entgegnete Marianne, ohne dass ihr Gesicht auch nur eine Spur an Contenance verlor. »Wenn ich mich recht erinnere, besitzt ein Unimog überhaupt keinen Kofferraum.«

Geräuschvoll stieß ich die Luft aus meinen Lungen. Dabei deutete ich auf ihren Kleinwagen.

»Was ist das nur für eine Welt, in der die Angestellten bessere Autos fahren als der Boss? Kein Wunder, dass Europa nicht aus der Rezession herauskommt.«

Demonstrativ begann Marianne in ihrer Handtasche zu kramen.

»Brauchst du ein Taschentuch?«

»Komm gut nach Hause«, gab ich ihr mit auf den Weg und wandte mich dann demonstrativ ab. »Ich geh jetzt erst mal bei Tuttifrutti einen Saufen. Chef sein ist doch Scheiße.«

»Das trifft sich gut«, meinte Marianne ungerührt. »Dann nimm bitte vier Kartons von der Spätlese mit. Ballensiefen hat vorhin angerufen. Er erwartet offenbar eine Hochzeitsgesellschaft. Da hat er immer gerne genug Vorrat im Haus.«

Ihr zuckersüßes Lächeln wirkte geradezu entwaffnend.

 

Ich nahm jedoch nicht nur die vier Kartons Spätlese mit, ich steckte zusätzlich noch zwei Flaschen von unserem mit Silber prämierten Spätburgunder zwischen Fahrer- und Beifahrersitz, auch auf die Gefahr hin, dass der Wein über das Getriebe gehörig Wärme annahm. Aber besser Wärme als Glasbruch. Wo sonst hätte ich im Innenraum eines Unimog zwei einzelne Flaschen Rotwein schock-resistent verstauen sollen? Ballensiefens Lokal lag zum Glück auf meiner Route. Da brauchte ich wenigstens keinen Umweg zu fahren. Ich musste nämlich auf die andere Seite der Mosel. Über die Brücke und dann die Landstraße hinauf Richtung A1. Genauer gesagt nach Salmfeld, einem öden Nest in der Nähe von Wittlich. Einmal im Monat traf ich mich dort mit Gregor Weisz auf eine Schachpartie.

 

~~~~~~~

 

Es dämmerte bereits, als ich das Ortseingangsschild von Salmfeld passierte. Es war eine dröge Fahrt gewesen, weil der Unimog mit Vollgas auf ebener Strecke eben nur die obligatorischen siebzig Stundenkilometer schafft. Bergauf allenfalls fünfzig. Ich überlegte zum ersten Mal, demnächst für solche Ausfahrten unseren firmeneigenen Kombi zu benutzen. Aber der war ebenfalls uralt, besaß Automatik, und der Schalter für die Sitzheizung hatte zu allem Überfluss auch noch einen Wackelkontakt. Im Winter ging das ja noch, aber im Sommer wollte zumindest von uns Männern niemand mit dem Ding fahren. Von wegen der Fortpflanzungsfähigkeit Und dann auch noch ein Volvo! Hatte ich vielleicht eine fünfköpfige Familie, oder was?

Ich schlich die Hauptstraße entlang, vorbei an der Kirche, der Dorfkneipe und dem Tante-Emma-Laden. Der Ort wirkte heute noch ausgestorbener als sonst. Es begann zu regnen. Obwohl das Verdeck geschlossen war, wurde ich trotzdem nass. Na ja, die Plane war halt nicht mehr die neueste. Auch die Scorpions kamen auf einmal nur noch aus dem linken Lautsprecher. Bestimmt zehnmal hatte ich die Beifahrertür zugeschlagen. Ohne Erfolg. Es war zum Bebaumölen.

Hinter der einzigen Tankstelle im Ort bog ich nach rechts ab und folgte der schmalen Straße die Anhöhe hinauf zu Gregors Anwesen. Warum er als Alleinstehender mitten in der Pampa wohnte, war mir sowieso ein Rätsel. Schon alleine deshalb, weil er dadurch tagtäglich annähernd dreißig Kilometer fahren musste, um zur Schule und wieder zurück nach Hause zu kommen. Bei uns in Grafenstein hätte er an jeder Ecke ein Appartement mieten oder kaufen können. Selbst Miss Sophie hatte längst ihre Zelte im Neubaugebiet aufgeschlagen. Aber Gregor brauchte angeblich Distanz. Abstand zur Schule, zu seinen Schülern und deren Eltern. Vermutlich musste man selbst Pädagoge sein, um seine Einstellung zu verstehen. Mir wäre die ständige Pendelei ein Gräuel gewesen. Aber das lag daran, dass ich nie gern Auto gefahren bin.

 

Vor Gregors Haus ratschte ich die Handbremse nach oben, stellte den Motor ab und blickte mich um. Die wenigen Straßenlaternen spendeten nur ein diffuses Licht, Gregors Haus selbst lag bereits völlig im Dunkeln. Nanu, dachte ich bei mir. Normalerweise hatte er immer die Außenbeleuchtung angeschaltet, wenn er Gäste erwartete. Aber ich dachte mir nichts dabei, packte die beiden Weinflaschen, kletterte aus dem Unimog und warf die Fahrertür hinter mir zu. Inzwischen goss es wie aus Kannen. Ich zuckte die Schultern. Eifel. Der Vorhof zur Hölle. Nur ohne Orchester.

Ich zog den Kopf zwischen die Schultern, riss das Türchen zu seinem Vorgarten auf und sprang die drei Stufen hinauf zur Eingangstür. Mit der freien Hand hieb ich auf die Klingeltaste. Ich wartete. Nichts geschah. Ich drückte erneut auf die Klingeltaste. Meine Güte, schoss es mir durch den Kopf, Gregor wird doch wohl unseren Schachabend nicht vergessen haben. Ich blickte zur Seite. Die vergitterten Fenster von Küche und Bad waren dunkel. Genauso wie der Korridor hinter der Eingangstür mit den Butzenscheiben Das durfte doch wohl nicht wahr sein! Gregor, wo zum Henker steckst du?

 

Als sich auch nach vehementem Bollern gegen die Eingangstür nichts tat, beschloss ich, ums Haus herumzugehen. Ich warf einen Blick durch das Esszimmerfenster. Finster wie ein Kaufhaus am ersten Weihnachtsfeiertag. Ich stolperte weiter. Der Regen troff mir inzwischen in den Halsausschnitt. Die übrigen Fenster wirkten mit ihren heruntergelassenen Rollläden geradezu wie sturmfest verrammelt. Kopfschüttelnd zog ich mein Handy aus der Hosentasche und wählte den Festnetzanschluss meines Freundes. Ein Mobilfunktelefon besaß Gregor nicht. Aus Prinzip, wie er mir irgendwann einmal eingestanden hatte.

»Ja?« meldete sich eine Stimme.

»Herr im Himmel, Gregor, ich bin's. Draußen regnet es wie aus Eimern. Lass mich endlich rein!«

Stille. Dann, nach gefühlt minutenlangem Schweigen, erneut seine Stimme.

»Ja, okay. Tut mir leid. Ich mache dir auf.«

»Wird aber auch Zeit«, brummte ich und versuchte gleichzeitig, mir die Nässe aus den Haaren zu schütteln.

Die Tür wurde aufgeschoben, und Gregors Gesicht erschien im Rahmen. Er blickte sich mehrmals forschend nach beiden Seiten um und zog mich dann ohne weiteren Kommentar ins Innere. Hinter mir fiel die Tür ins Schloss. Gregor drehte den Haustürschlüssel zweimal um und verriegelte auch das monströse Zentralschloss, zu dem ihm irgendwann mal die Kriminalpolizei geraten hatte. Im Korridor war es so finster wie vor einem drohenden Fliegerangriff.

 

Missmutig schälte ich mich aus meiner inzwischen völlig durchnässten Jacke und nieste herzhaft.

»Wohlsein«, meinte Weisz.

»Du mich auch.«

Erst im Wohnzimmer knipste Gregor das Licht an. Es dauerte eine Weile, ehe die Energiesparlampe ihre Betriebstemperatur erreicht hatte. Wortlos drückte ich ihm die beiden Rotweinflaschen in die Hand.

»Schön, dass du gekommen bist», meinte er seltsam abwesend.

Ich sah meinen Freund genauer an. Er war schon immer ein bisschen blass um die Nase, aber heute erschien er mir so bleich wie ein Zombie. Geradezu käsig. Dunkle Ringe unter den Augen erweckten den Eindruck, als hätte er seit Tagen nicht mehr geschlafen. Sein Atem roch deutlich nach Fusel.

»Sorry«, meinte er. »Ich saß unten am PC und habe Klassenarbeiten korrigiert. Dabei habe ich wohl die Zeit vergessen.«

Ich lachte schallend auf.

»Sag mal, bist du taub? Ich habe mir die Finger wund geklingelt und mit der Faust gegen deine Eingangstür getrommelt. Sitzt du etwa auf deinen Ohren? Heute ist unser monatlicher Schachabend. Erste Anzeichen von Demenz? Dann solltest du aber mal dringend einen Arzt aufsuchen.«

Gregor warf mir einen erstaunten Blick zu.

»Unfug. Ich saß, wie gesagt, unten am PC und...«

»Blah, blah, blah«, erwiderte ich wenig zugänglich. »Keine Entschuldigung.«

»Magst du einen Cognac?«

»Nee, ich habe Wein mitgebracht. Schließlich muss ich noch fahren.«

»Okay, also keinen Cognac.«

 

Er stolperte hinüber zur Anrichte, auf der bereits ein ordentlich gefülltes Glas mit bernsteinfarbenem Inhalt stand. Gregor hatte mit Sicherheit nicht unten an seinem PC gearbeitet. In Wirklichkeit war er hier oben im Wohnzimmer. Im Stockfinstern. Aber weshalb hatte er mir nicht aufgemacht? Weisz nahm das Glas in die Hand, schwenkte den Inhalt ein paar Mal hin und her und schluckte den Inhalt schließlich in einem Zug hinunter.

»Wein hast du mitgebracht? Wie aufmerksam.«

»Okay, wer bist du, und was hast du mit meinem Freund gemacht?«

Er schaute mich irritiert an. Ich hingegen schüttelte verständnislos den Kopf.

»Ich bringe jedesmal Wein zu unserem Schachabend mit. Hast du das etwa auch vergessen?«

Gregor versuchte ein Grinsen. Es misslang deutlich.

»Unfug.«

Gleichzeitig deutete er auf einen der beiden Sessel, die vor einem niedrigen Couchtisch standen.

»Setz dich. Ich hole einen Korkenzieher.«

»Den habe ich dabei«, antwortete ich wenig versöhnlich.

»Na, dann ist's ja gut.«

Er ließ sich in dem anderen Sessel nieder.

»Und Gläser?« fragte ich, während ich die erste Flasche entkorkte. »Gläser habe ich nämlich nicht mitgebracht. Oder trinken wir neuerdings aus der Flasche?«

Weisz hieb sich mit der flachen Hand gegen die Stirn und sprang auf.

»Gläser. Natürlich.«

Ich sah, wie er zum Wohnzimmerschrank schwankte. Gregor schien bereits mehr als einmal an der Cognacflasche genippt zu haben.

»Sagst du mir jetzt bitte endlich, was mit dir los ist? Komme ich ungelegen?«

Weisz stellte zwei Weißweingläser auf dem Couchtisch ab. Ich stutzte. Weißweingläser für den Spätburgunder? Und wo waren die Untersetzer? Solange ich ihn kannte, hatte er noch nie Gläser ohne Untersetzer auf den Tisch gestellt. Ich schaute ihn mir genauer an. Der Junge war ja völlig durch den Wind. Das Hemd hing ihm aus der Hose, seine Haare waren völlig zerrauft, und sein Rasierapparat schien neuerdings auch nicht in Ordnung zu sein.

»Sag mal, ist dein Rasierer kaputt? So kenne ich dich ja gar nicht. Also, jetzt mal heraus mit der Sprache. Was ist mit dir los? Brauchst du Hilfe?«

Weisz schaute mich an, als hätte ich gerade einen schlechten Herrenwitz erzählt.

»Dummes Zeug.«

Gleichzeitig deutete er auf das Beistelltischchen neben der Couch, in dessen Oberfläche von erfahrener Hand ein Schachbrett eingearbeitet worden war. Die weißen und schwarzen Spielfiguren standen wohlgeordnet dort, wo sie zum Auftakt eines Matches auch hingehörten. Außer dem schwarzen König. Der lag im Mittelfeld. Mit der Nase nach unten. Schachmatt nach null Zügen. Sowas gab's doch nicht!

»Wollen wir dann mal eine Partie spielen?« fragte er.

Ich nahm den gestrauchelten schwarzen König auf.

»Sieht fast so aus, als hättest du schon ohne mich angefangen. Ich habe übrigens gewonnen, wie's scheint. Spiel, Satz und Sieg!«

Weisz nahm mir die Spielfigur aus der Hand.

»Weiß der Teufel, wieso der mitten auf dem Brett liegt.«

Jetzt wurde es mir zu bunt.

»Hör mal, ich lasse mich von dir doch nicht verarschen! Dass hier was nicht stimmt, das sieht doch wohl ein Blinder mit Krückstock. Ich möchte jetzt eine Antwort! Wieso verbarrikadierst du deine Hütte wie vor einem drohenden Angriff der Hunnen, wieso machst du nicht auf, wenn man bei dir klingelt, wieso säufst du am helllichten Tag Cognac, und wieso bekommt der schwarze König auf dem Spielfeld neuerdings Nasenbluten?«

Weisz versuchte krampfhaft, meine Augen zu fixieren. Klappte aber nicht. Klarer Fall für die Alkoholkontrolle. Ich tippte auf mindestens zwei Promille.

»Meinst du nicht, das waren ein paar 'wieso' zuviel?«

Mit Daumen und Mittelfinger drückte ich mir die Augen zu, während mein Zeigefinger die Falte zwischen den Augenbrauen massierte. Das tat ich immer, wenn ich krampfhaft nachzudenken versuchte. Heute kam ich jedoch zu keinem brauchbaren Ergebnis.

»Also nochmal ganz langsam zum Mitschreiben. Sind etwa die Schuldeneintreiber aus dem Trierer Bahnhofsviertel hinter dir her, oder hast du sonst was angestellt? Heraus mit der Sprache!«

Weisz versuchte mir fest in die Augen zu schauen. Jedenfalls so fest, wie es eine halbe Flasche Cognac gerade noch zuließ. Seine Pupillen wanderten ziellos hin und her. Bei einer Alkoholkontrolle hätte er seinen Lappen jedenfalls bis zur Pensionierung abgeben dürfen.

 

Weisz erhob sich aus seinem Sessel und deutete auf die schmale Treppe im Korridor, die in den Keller führte.

»Du gibst ja anscheinend doch keine Ruhe, Dann komm mal mit. Ich möchte dir was zeigen.«

Ich folgte ihm in sein Arbeitszimmer. Auch hier waren sämtliche Rollläden heruntergelassen. Ich blickte mich um. Typisches Lehrerbüro. An den Wänden die typischen Billy-Regale mit Büchern und DVD-Hüllen, ein Sidebord mit Stapeln von Papier und an der Stirnwand direkt neben den schmalen vergitterten Fenstern ein breiter Arbeitstisch mit einem Flachbildschirm und einer fleckigen Tastatur. Irgendwo unten im Fußraum stand der PC. Die Kontrolllampen leuchteten. Es sah so aus, als hätte er tatsächlich hier unten gearbeitet.

Weisz hockte sich vor den Bildschirm und deutete auf einen Drehstuhl, der irgendwo in einer Ecke stand. Ich zog ihn heran. Währenddessen nahm Gregor die Maus zur Hand, klickte auf die linke Taste, und der Bildschirm leuchtete auf. Es war ein ziemlich großer Monitor. Mindestens siebenundzwanzig Zoll. Den benutzte man nicht zum Korrigieren von Klassenarbeiten. Eher zur Bild- oder Videobearbeitung. Das Ding war jedenfalls nagelneu. So ein Trumm in seinem Arbeitszimmer wäre mir vorher bestimmt aufgefallen.

»Also, was willst du mir zeigen?«

Weisz öffnete den Internetbrowser.

»Geduld.«

Seine Finger wirbelten über die Tastatur. Dabei vertippte er sich jedoch mehrmals, sodass er die Eingabe immer wieder korrigieren musste. Endlich schien die Adressangabe zu passen und er hieb förmlich auf die Enter-Taste.

»MyHistory«, brummte ich halblaut. »Irgend so ein soziales Netzwerk. Und weiter?«

Er tippte einen Benutzernamen und ein Passwort ein. Auf dem riesigen Bildschirm tauchte eine Accountseite auf. Ich schaute zweimal hin. Ein Grinsen huschte über mein Gesicht.

»Minnie Maus. Wie originell.«

»Damit man bei MyHistory herumstöbern kann, braucht man einen eigenen Account. Ist bei anderen sozialen Netzwerken ähnlich.«

»Mir egal. Was geht mich MyHistory an? Braucht kein Mensch. Höchstens ein paar Teenies, um sich vor den Klassenkameraden wichtig zu machen. Oder solche Gestalten, die bei Facebook längst Hausverbot haben.«

»Nicht nur das«, meinte Weisz und deutete auf den Bildschirm.

Auf der Personensuchmaske trug er seinen Namen ein. Mehrere Treffer standen zur Auswahl an. Sein Name schien offenbar in Osteuropa ziemlich geläufig zu sein. Er drückte auf einen Eintrag im Mittelfeld. Bruchteile von Sekunden später flammte eine Maske mit der Überschrift seines Namens auf. Mit Bild, sämtlichen persönlichen Angaben, ungesperrt, praktisch für jedermann einsehbar. Das überraschte mich nicht. Es gab genug Idioten auf der Welt, die sich vor wem auch immer unbedingt prostituieren mussten. Aber dass ausgerechnet Gregor dazu gehörte?

 

Miss Sophie hatte mich mal in einer stillen Stunde in die Geheimnisse von Facebook & Co. eingeweiht. Mein Weingut besaß ebenfalls einen entsprechenden Webauftritt. Dafür hatte Marianne gesorgt. Als junge Frau, die mit dem Internet praktisch groß geworden war, meinte sie lapidar, ohne eine ordentliche Webseite und einen Social Media Account wäre Onlinehandel nur die halbe Miete. So richtig wohl war mir dabei jedoch von Anfang an nicht, zumal ich wusste, dass man jederzeit Kommentare auf unserer Seite posten konnte. Zufriedene Kunden, unzufriedene Kunden, Konkurrenten oder einfach bloß Spinner. Nicht selten, dass Marianne alle Hände voll zu tun hatte, ungebührliche Einträge von unserer Webseite zu löschen. Andererseits, wer Weingut Brenner eintippte, landete mit wenigen Mausklick unmittelbar in unserem Online-Shop. Meine elende Krämerseele hatte schließlich grünes Licht für das Konto bei Facebook gegeben.

 

»Nur fürs Protokoll: Von mir stammt diese Seite nicht. Aber jetzt schau dir das mal an.«

Mit ein paar Mausklicks öffnete Gregor die Bildergalerie. Was sich da vor meinen Augen auftat, das verschlug mir glattweg die Sprache. Gregor mit Joint im Mund, mit zwei Whiskyflaschen in den Händen, aus denen er offenbar gleichzeitig trank, wobei der verschüttete Inhalt sein Hemd einnässte. Die Krönung stellte ein Foto dar, wie Gregor sprichwörtlich in der eigenen Kotze lag. Widerlich.

»Um es gleich vorweg zu nehmen: Das bin ich nicht. Ich trinke keinen Whisky, und Haschisch rauche ich erst recht nicht. Im übrigen bin ich auch nicht so korpulent wie der Typ auf den Bildern. Keine Ahnung, wie man sowas hinbekommt.«

Ich atmete tief durch.

»Warum bist du damit nicht schon längst zur Polizei gegangen?«

»Um auch noch die Öffentlichkeit mit der Nase förmlich drauf zu stoßen? Bis jetzt ist das allenfalls ein böser Bubenstreich. Zugegeben, einer der ganz untersten Kategorie. Als Urheber kann praktisch jeder infrage kommen. Bei MyHistory existiert keine Plausibilitätskontrolle für die Anmeldung.«

»Denkst du, das waren deine Schüler?»

Seine Stimme nahm einen verbitterten Ton an.

»Wer denn sonst? Ich kenne doch meine Pappenheimer. Das ist genau deren Handschrift. Kleine Ursache, große Wirkung. In jedem Fall für mich als Rektor.«

»Dann tu doch was!«

Weisz winkte ab.

»Da gibt's nichts zu tun. Außer vielleicht, die Seite bei MyHistory als anstößig zu melden.«

»Und warum machst du das nicht?«

Weisz lehnte sich zurück und verschränkte die Arme im Nacken. Ich musste mich förmlich dazu zwingen, die Schweißflecken unter seinen Achseln zu ignorieren. Das war doch nicht Gregor! Gregor hatte ich noch nie Cognac trinken sehen, und er achtete, seit ich ihn kannte, geradezu penibel auf Körperpflege. Sollte da in letzter Zeit irgendwas an mir vorbeigelaufen sein? Sollte er vielleicht doch als Urheber dieser Bilder im Internet...?

Weisz riss mich aus meinen Gedanken.

»Habe ich längst probiert. MyHistory hat seinen Firmensitz irgendwo in der Ukraine. Die reagieren überhaupt nicht auf Anfragen. Probleme, wie ich die habe, gehen denen offensichtlich sonst wo vorbei.«

»Dann würde ich mich an die Staatsanwaltschaft wenden und Anzeige erstatten.«

»Die müssten mir erst mal glauben. Denk doch mal nach. Ein alleinstehender Pädagoge, der unter falschem Namen in einem Netzwerk herumschnüffelt. Anschließend muss ich vielleicht noch den Beweis antreten, dass ich nicht selbst hinter diesem Unsinn stecke.«

Ich kniff erneut die Augen zusammen und massierte meine Schläfen. Dann schaute ich hoch. Unsere Blicke trafen sich. Gregors Augen wirkten unendlich müde.

»Und du willst hierbei wirklich nur tatenlos zusehen? Das ist doch Mobbing! Mobbing im Quadrat. Deinen Schülern sollte man mal gehörig den Arsch versohlen!«

Weisz winkte ab.

»Wie ich diese Burschen einschätze, warten die doch nur darauf, dass ich irgendwas Unüberlegtes tue. Ein paar von deren Eltern sind Rechtsanwälte. Gegen die hätte ich doch überhaupt keine Chance. Anschließend kriegen die mich noch wegen Verleumdung und übler Nachrede dran, und dann wäre ich meinen Job schon wieder los. Als Beamter darfst du dir ja heutzutage nicht einmal mehr einen Verkehrsunfall mit Personenschaden leisten.«

 

Weisz beugte sich nach unten und schaltete den PC aus. Der Bildschirm erlosch Kurz darauf nahmen wir wieder oben im Wohnzimmer Platz. Er deutete auf das Schachbrett.

»Wir wollten doch immer mal die Schachpartie Reti gegen Aljechin, 1925 in Baden-Baden, nachspielen. Du fängst an.«

Er bemühte sich, konzentriert auf das Schachbrett zu schauen. Ich wusste nicht ob ich lachen oder weinen sollte.

»Nun vergiss doch bitte mal das blöde Schachspiel! Hier geht es um deine Reputation als Leiter der Grafensteiner Realschule. Da will dir offenbar jemand gehörig ans Bein pinkeln. Lässt dich das etwa wirklich so kalt? So abgebrüht kann doch niemand sein. Ich an deiner Stelle...«

»Du bist aber nicht an meiner Stelle!« begehrte Weisz auf. »Und hör gefälligst auf, dich in mein Leben einzumischen.«

Ich starrte ihn entgeistert an.

»Ich mische mich in dein Leben ein? Sag mal, geht's noch? Ich komme zu unserer monatlichen Verabredung vorbei, und wen treffe ich an? Meinen besten Freund, der sichtlich angetrunken in einem verriegelten und verrammelten Haus hockt und das alles, weil er anscheinend von seinen eigenen Schülern gemobbt wird. Nur zur Erinnerung: Du hast mir die Webseite gezeigt. Freiwillig. Also erzähle mir nicht, ich würde mich in dein Leben einmischen.«

Weisz lächelte matt.

»Sorry, war nicht so gemeint. Aber ich bin einfach fertig mit den Nerven.«

Ich nahm den Spätburgunder und goss uns ein. Der Wein schmeckte seltsam korkig.

»Für mich sieht das glasklar danach aus, dass sich deine Schüler aus der Neunten für die abgesagte Klassenfahrt rächen wollen.«

»Das mit der abgesagten Klassenfahrt ist Quatsch. Weiß der Teufel, wer dir das erzählt hat.«

»Ballensiefen. Seine Tochter...«

Weisz lachte kurz und trocken auf.

»Das hätte ich mir ja denken können. Unsere Queen of Rock'n Roll. Die lügt doch schon, wenn sie nur den Mund aufmacht.«

Jetzt wurde ich neugierig. Und ich wollte eine Erklärung dafür, warum er angeblich aus seinem letzten Job geflogen war.

»Ich bin ganz Ohr«, meinte ich und nahm erneut einen Schluck aus meinem Glas. Der Wein schmeckte eindeutig korkig.

»Nur soviel: Ich habe die Klassenfahrt nicht abgesagt. Die ist schließlich von den Eltern längst bezahlt. Ich habe gegenüber der Klasse lediglich zu verstehen gegeben, dass ich nach dieser blödsinnigen Aktion mit den abmontierten Reifen aus verständlichen Gründen nicht mehr als Begleitperson zur Verfügung stehe. Dumm nur, dass auch von den Kollegen keiner große Lust verspürt, diese Rabauken acht Tage lang zu begleiten. Ach, und noch was: Diese Vandalen haben für die Demontage der Reifen anscheinend eine Kettensäge benutzt. Hast du eine Ahnung, was ein Satz neuer Reifen für einen Audi A6 im Fachhandel kosten? Mitsamt Alufelgen? Die waren nämlich auch hin. Tut mir leid, aber auch Kinder aus gutem Hause müssen lernen, das Sowas nicht geht. Das Hotel habe ich übrigens selbst bezahlt. Ist ja schließlich meine Schuld, dass ich nicht in Grafenstein wohne. Ich hätte ja auch eine ganz normale Autopanne haben können. Den Rest übernimmt zum Glück meine Vollkasko. Aus Kulanzgründen, obwohl die eigentlich bei Vandalismus gar nicht zahlen müssen.«

 

»Ja, Himmel nochmal, wenn es nicht die Klassenfahrt ist, welchen Grund gibt es denn dann für diese hirnrissige Aktion?«

Weisz atmete tief durch.

»In der Neunten geht das Gerücht um, Julia hätte die letzte Fünf in Geschichte nur deshalb kassiert, weil ihre Auffassung von den Folgen der Reichskristallnacht nicht exakt mit der ihres Lehrers übereinstimmt. Das ist völliger Unsinn, und das habe ich auch deinem Freund Ballensiefen erklärt. Als guter Pädagoge akzeptiere ich jede eigene politische Meinung, es sei denn, sie wäre volksverhetzend oder einfach nur absurd. Nein, mein Lieber, Julias Arbeit entsprach ganz einfach nicht dem Leistungsniveau einer neunten Realschulklasse. Sie sollte sich endlich mal auf den Hosenboden setzen und pauken. Andere tun das ja auch.«

»Apropos Reichskristallnacht. Wie man hört, gibt es bei dir ja wohl tatsächlich nichts anderes im Unterricht.«

Weisz schüttelte den Kopf.

»Auch so Legende, die nicht zutrifft. Zu Beginn meiner Lehrtätigkeit in Grafenstein fing ich im Unterricht mit der Zeit nach 1945 an. Also Kalter Krieg, Mauerbau, Stationierung von Atomwaffen und so weiter. Was glaubst du, was ich mir deswegen alles habe anhören müssen? Ich sei doch selber Ossi. Warum ich unbedingt mein eigenes Nest beschmutzen wolle? Also stellte ich den Lehrplan um und begann mit der Weimarer Zeit und war dann auch ziemlich schnell bei Hitler und der NSDAP.«

Er nahm das Weinglas und leerte den Inhalt in einem Zug.

»Jetzt hättest du aber erst recht was erleben können. Schon nach der dritten oder vierten Unterrichtsstunde wurde ich regelrecht ins Kreuzverhör genommen. Ob ich jüdische Vorfahren hätte oder aus Israel stamme. Ich sage dir, ein paar von diesen Früchtchen haben Vorstellungen, da fällst du vom Glauben ab. Wäre ich vom Verfassungsschutz, hätte ich die eigentlich längst wegen Volksverhetzung verhaften lassen müssen. Möchte wissen, von wem die das haben.«

Schlagartig fiel mir unser Gemeinderatsmitglied aus dem rechten politischen Spektrum ein.

»Der Schöder?«

Weisz zuckte die Schultern.

»Könnte sein. Wäre ganz dessen Handschrift. Vielleicht verstehst du jetzt, warum ich die Zeit von Dreiunddreißig bis Fünfundvierzig so intensiv durchnehme.«

 

Ich schwieg und starrte auf das Schachbrett. In Grafenstein lief offenbar gehörig was aus dem Lot. Und Gregor schien in dem Schlamassel mitten drin zu stecken. Ich dachte an die Spielfigur. An den schwarzen König, der mit dem Gesicht auf dem Spielfeld lag. Ich sprach Gregor darauf an.

»Tut mir leid, ich war frustriert. Ist ja auch kein Wunder. Ehrlich gesagt, ich bin es so satt...«

Er griff zur Weinflasche, um sein Glas aufzufüllen. Ich fiel ihm in den Arm.

»Ich denke, du hast genug für heute.«

Weisz nickte.

»Vermutlich hast du recht.«

Die heruntergezogenen Rollladen fielen mir ein.

»Warum ist eigentlich dein Haus verrammelt wie vor einem Fliegerangriff? Hast du Angst vor einem terroristischen Anschlag?«

Weisz warf mir einen vielsagenden Blick zu.

»Wir leben hier auf dem Land. Jemand aus den neuen Bundesländern hat es sowieso schwer bei den Einheimischen. Wenn jetzt auch noch einer von diesen Bauernburschen auf die Seite von MyHistory stößt, dann ist hier aber was los, kann ich dir sagen.«

Ich überlegte.

»Hast du Lust, ein paar Tage auf dem Weingut zu verbringen? Ich finde, das wäre im Augenblick die beste Lösung.«

»Habe ich auch schon überlegt. Aber was wäre morgen? Oder übermorgen. Ich habe keine Lust, mich zu verstecken. Dann kann ich ja gleich davonlaufen.«

»Was ich dich noch fragen wollte: In Grafenstein geht das Gerücht um, du wärst an deiner letzten Schule rausgeflogen. Ist da eigentlich was Wahres dran?«

Weisz erhob sich.

»Weißt du was, mein Junge? Das war ein Scheißtag heute, und ich habe ehrlich gesagt sowieso keine rechte Lust mehr auf ein Schachspiel. Lass mir die beiden Flaschen Wein einfach da. Die trinken wir bei unserem nächsten Treffen.«

Wenn das mal kein Rauswurf war, aber Gregor schien für heute tatsächlich fertig mit der Welt zu sein. An seiner Stelle hätte ich mich vermutlich nicht anders verhalten. Deshalb stocherte ich auch nicht mehr weiter nach.

»Wenn was ist, rufst du an, okay?«

Er drückte mir die Hand und versuchte ein Lächeln.

»Was soll schon sein?«

»Eben«, meinte ich nur und spurtete durch den immer noch prasselnden Regen zu meinem Unimog.

 

 

 

Kapitel 3

 

Dienstag

 

Anderntags holen mich ganz andere Sorgen ein. Ich hockte gerade mit der Frankfurter am Frühstückstisch, als Marianne in die Küche stürmte. Mir reichte bereits ein kurzer Blick, um festzustellen, dass wir in der Firma eine neue Baustelle hatten.

»Was gibt's?« meinte ich und deutete auf einen freien Platz an meinem Tisch.

Sie ignorierte meinen Hinweis und überreichte mit stattdessen einen Brief. Ich steckte mir das halbe Croissant in den Mund und nahm das Schreiben mit der freien Hand entgegen. Es stammte von einem unserer Hauptabnehmer in Holland. Ein großer Weinhandel in der Nähe von Rotterdam. Ich überflog die ersten Zeilen. Dann stutzte ich und schaute genauer hin. Wijnkontoor Hazel beanstandete die letzte Lieferung unseres Spätburgunders. Der Wein sei angeblich korkig. Man habe die Ware zahlreicher Kunden zurücknehmen müssen und verlange Schadenersatz. Mir fiel der gestrige Abend ein. Der Spätburgunder hatte tatsächlich sonderbar geschmeckt. Ich hatte das aber auf die ohnehin miese Stimmung geschoben. Doch jetzt? War da bei uns in der Produktion etwas schief gelaufen?

»Thomas soll einfach mal die letzte Lieferung Flaschenkorken überprüfen. Ich war ja von Anfang an dafür, Kunststoffkorken zu verwenden, aber du kennst ihn ja. Er ist halt Vertreter der alten Schule. Vielleicht ist ihm das endlich eine Lehre.«

»Aber rasch«, nickte Marianne. »Das ist nämlich nicht das einzige Problem. Köpenbrinck in Hamburg, der die Vier-Sterne-Lokale in der Hansestadt und Umgebung beliefert, hat die komplette Rotweinbestellung storniert. Sowas ist noch nie passiert. Liebe Güte, die Buschtrommel arbeitet neuerdings vielleicht schnell!«

Ich seufzte.

»Okay, okay. Ich kümmere mich darum.«

 

Nachdem Marianne verschwunden war, stopfte ich mir den Rest des Croissants in den Mund und leerte meine Tasse Kaffee. Notgedrungen legte ich den Wirtschaftsteil der Frankfurter beiseite. Euro- und Bankenkrise mussten warten, jetzt ging es erst mal um die eigene Haut. Ich erhob mich und verließ das Haus. Draußen nieselte es. Ich zog den Kragen meiner gefütterten Wellensteyn höher und hastete über den menschenleeren Parkplatz hinüber zum Weinkeller. Dort angekommen riss ich die Tür auf, schüttelte die Regentropfen von meiner Jacke und warf sie auf einen Stuhl. Thomas hockte gedankenversunken an seinem Labortisch und experimentierte mit verschiedenen Reagenzgläsern und Pipetten herum.

»Na, großer Meister«, begrüßte ich ihn. »Kommst du voran?«

»Geht so«, meinte er, ohne auch nur andeutungsweise den Blick zu heben.

»Ist das alles, oder wirst du heute irgendwann gesprächiger?«

Normalerweise sprudelte es aus Thomas nur so heraus, wenn ich mich nach seiner Arbeit erkundigte. Heute schien er seltsam mundfaul. Ich zog das Schreiben des niederländischen Weinhändlers hervor.

»Wir haben anscheinend Probleme mit den Korken.«

Thomas blickte auf und nahm mir mit einer Pinzette den Brief aus der Hand.

»Was dir bloß wieder haben. Ausgerechnet die Holländer. Die trinken doch sowieso alles, Hauptsache es hat mehr als zwölf Prozent unter der Haube. «

Ich grinste kurz, wurde aber sofort wieder ernst. Einmal im Monat durfte man ja auch mal den Chef raushängen lassen.

»Hör mal, das sind wichtige Kunden. Denen kann man doch keinen korkigen Wein andrehen. Köpenbrinck zum Beispiel hat die komplette Bestellung storniert. Willst du mich ruinieren? Kontrollierst du etwa die Flaschenabfüllung nicht mehr sorgfältig genug?«

»Quatsch«, meinte er nur und widmete sich wieder seinen Reagenzgläsern.

Studierter Önologe hin oder her, ich war hier schließlich immer noch der Chef und nicht das Kasperle.

»Was heißt hier 'Quatsch'? Sind die Korken deiner Meinung nach in Ordnung, oder nicht? Wenn ja, dann möchte ich eine klare Ansage, damit ich den Holländern ein paar warme Worte zurückschreiben und auch Köpenbrinck beruhigen kann. Falls nein, dann will ich eine Erklärung, warum dir das nicht längst aufgefallen ist. Ich war gestern in Salmfeld, und da haben Gregor und ich genauso eine Flasche Spätburgunder aufgemacht. Ehrlich gesagt, der Wein schmeckte tatsächlich mehr als seltsam.«

Thomas hob den Kopf.

»Was soll ich deiner Meinung nach tun? Jede Flasche vor dem Verkauf entkorken und zur Sicherheit einen Schluck nehmen?«

Ich warf Thomas einen auffordernden Blick zu. Er begriff auch so.

»Okay, okay, ich mache mich an die Arbeit«, meinte er wortkarg.

»Vielleicht stellst du jetzt endlich mal auf Kunststoffkorken um«, gab ich ihm mit auf den Weg. »Ist sowieso preiswerter.«

»Nur über meine Leiche!« rief er mir entrüstet hinterher.

 

Kurz darauf hockte ich wieder in meinem Schreibtischsessel und saugte an meiner Moods. Marianne öffnete demonstrativ das Fenster, um Frischluft hereinzulassen.

»Du bist heute Morgen so seltsam einsilbig. Was ist los? Haben wir die Pest an Bord?«

Sie deutete mir an näherzukommen. Was ich auf ihrem Computerbildschirm sah, verschlug mir glattweg den Atem. Langsam dämmerte mir, wieso sich auch der Yeti bei mir im Weinkeller neuerdings so seltsam einsilbig verhielt.

»Scheiße!« rutschte mir heraus

»Da sprichst du ein großes Wort aber sehr gelassen aus. In meinen Augen ist das eine Riesensauerei. Sag mal, hat der sie nicht mehr alle?«

Meine Halbtagskraft drückte die kompromittierenden Bildern auf der Webseite mit einem raschen Mausklick weg. Unser Firmenlogo erschien auf dem Bildschirm. Ich hatte die beiden gekreuzten Weinflaschen, auf die mein Vater zu Lebzeiten so stolz gewesen war, immer als ein bisschen spießig empfunden. In diesem Augenblick wirkten sie geradezu beruhigend.

»Ich war gestern bei Gregor. Unser monatliches Schachspiel, du weißt schon. Dazu ist es aber nicht gekommen. Er hat mir diese Internetseite aus freien Stücken gezeigt. Gestern allerdings waren die Fotos noch nicht für jedermann zugänglich. Auf Gregors Mist ist das jedenfalls nicht gewachsen.«

Marianne musterte mich nachdenklich.

»Was macht dich da so sicher?«

»Die Bilder sind ganz eindeutig getürkt. Vermutlich mit einem Bildbearbeitungsprogramm. Ich werde mal mit Miss Sophie darüber reden. Im übrigen hättest du Gregor gestern mal sehen sollen. Der war völlig durch den Wind. Fix und fertig. Der hat inzwischen Angst, vor die Tür zu gehen.«

»Das kann ich verstehen«, meinte sie.

Ich winkte ab.

»Glasklarer Fall von Mobbing. Da gibt's nix zu deuteln.«

Marianne warf mir einen ratlosen Blick zu.

»Diese Kampagne dient einzig und allein dem Zweck, Gregor eins auszuwischen«, fuhr ich fort. »Mit Sicherheit stecken seine Schüler aus der Neunten dahinter. Es geht um eine angeblich abgesagte Klassenfahrt und schlechte Zensuren. Allerdings ist das hier kein Streich mehr. Damit sind sie eindeutig zu weit gegangen.«

Mir fiel etwas ein.

»Wie bist du eigentlich auf die Internetseite gestoßen?«

Marianne lächelte milde.

»Heute Morgen landete eine Mail mit Hinweisen auf Sonderangebote im Supermarkt von den Balfelders bei uns im Postfach. Normalerweise landet Werbung gleich im Papierkorb, aber wegen angeblicher Niedrigpreise habe ich dann doch einen Blick riskiert. Der Link führt einen jedoch nicht zu den Balfelders sondern schnurstracks auf die Seite von MyHistory.«

Ich stöhnte innerlich auf. Spätestens heute Abend, wenn auch die Letzten ihre Mails gecheckt hatten, wusste es der ganze Ort.

Ich fasste einen Entschluss.

»Bin mal kurz weg. Kommst du solange alleine klar?«

»Ist der Papst katholisch?«

Ich grinste und schnappte mir meine Wellensteyn. Auf dem Weg zum Unimog riss ich mein Handy aus der Jeanstasche und wählte die Nummer von Gregors Wirkungsstätte.

»Realschule Grafenstein, Helene Sommer am Apparat. Was kann ich für Sie tun?«

 

Helene Sommer, eine der drei Moselhexen. Die Dreißigjährige war bei uns vor einigen Jahren zur Weinkönigin gekrönt worden. Böse Stimmen in Grafenstein und Umgebung behaupteten, den Titel hätte sie nur deshalb bekommen, weil ihr Stiefvater, Besitzer des Weinguts Dornesch, dem Krönungsausschuss einiges an Flüssigem überreicht hatte, wobei das Flüssige angeblich eher die Form von gebündeltem Barem gehabt haben soll. Den Sekretärinnenjob in der Realschule übte Helene angeblich nur deshalb aus, um sich daheim auf dem elterlichen Weingut nicht den Buckel krumm schuften zu müssen. Aber wie gesagt, alles nur böse Gerüchte.

»Grüß dich, Helene.«

Ich versuchte es auf die freundschaftliche Tour, obwohl ich wusste, dass sie mich am liebsten schon morgens auf nüchternen Magen zum Frühstück verspeist hätte. Roh und ungesalzen.

»Ach, du bist es bloß. Was gibt's?«

Ich holte tief Luft. Inzwischen hatte ich den Unimog erreicht und kletterte hinter das Lenkrad.

»Ist Gregor in der Schule?«

»Du meinst unseren Rektor?«

Trotz der Entfernung spürte ich ihren lauernden Blick bis in die Fahrerkabine des Unimogs.

»Wen sonst?«

»Den kann ich jetzt nicht stören. Die haben Klassenarbeit in der Siebten. Machtergreifung.«

Ihre anschließenden Worte klangen wie ein abfälliges Grunzen.

»Sein Lieblingsthema. Da kann man nichts machen.«

Mir fiel ein Stein vom Herzen. Ich hatte mir insgeheim schon Sorgen gemacht.

»Er ist in der Schule? Ganz sicher?«

»Natürlich. Was soll die blöde Fragerei?«

»Dir auch ein schönes Leben«, antwortete ich und steckte das Handy zurück in meine Jackentasche.

 

Ich überlegte. Lehrerkollegium und Schulverwaltung schienen von den jüngsten Entwicklungen an der Internetfront offenbar noch nichts mitbekommen zu haben. Helene hätte sonst mit Sicherheit ganz anders reagiert, zumal sie wusste, dass Gregor und ich befreundet waren. Mir drängte sich der Verdacht auf, dass die Verleumdungen zunächst offenbar ganz gezielt gestreut worden waren. Anders ließ sich diese geradezu trügerische Ruhe vor dem Sturm nämlich nicht erklären.

Während der Diesel vorglühte und wegen Nässe und Kälte erst nach ziemlich asthmatischem Husten zudem auch nur sehr unwillig anspringen mochte, hatte ich erneut das Handy am Ohr. Ich trat energisch auf das Kupplungspedal. Wie erwartet knirschte es unüberhörbar, während sich der erste Gang mühevoll den Weg zu den einzelnen Zahn- und Kegelrädern in Inneren des Getriebes bahnte. Ich gab Gas. Der Unimog ratterte los wie eine schlecht geölte Kettensäge.

»Sophia?« brüllte ich ins Handy.

Mein fahrender Untersatz war heute akustisch in ganz besonderer Stimmung. Ein Leopard II war Mozarts Requiem dagegen.

»Bist du das, Bub?« rief eine energische Stimme.

»Logisch. Das hört man doch wohl an dem Radau im Hintergrund. Wer in deinem Bekanntenkreis fährt denn sonst noch einen Unimog aus den frühen Siebzigerjahren?«

Einen Augenblick herrschte Stille, dass ich bereits befürchtete, die alte Dame hätte aufgelegt. Doch dann meldete sie sich wieder. Sie klang sogar ein wenig aufgeregt

»Gut, dass du anrufst. Du bist mit dem Laster unterwegs? Fein. Dann sei bitte so gut, und bring mir mein Segway vorbei. Das Ding habe ich gestern beim Balfelder stehen lassen müssen. Der Akku war schon wieder leer. Dass mir das teure Ding bloß keiner klaut!«

Typisch Miss Sophie. Hauptsache, die neueste Technik an Bord, aber an Sowas Profanes wie ein Akkuladegerät dachte sie offenbar erst, wenn es zu spät war.

Ich räusperte mich.

»Wir müssen reden. Es geht um Gregor Weisz. Da gibt es ein Problem...«

»Na, dann komm doch vorbei«, unterbrach sie mich. »Ich bin daheim. Alte Leute freuen sich ja bekanntlich immer über Besuch.«

Beinahe hätte ich lauthals losgelacht. Alte Leute? Hallo? Die hatte vermutlich bloß Langeweile. Nora schlief bestimmt noch, und das schwule Studentenpärchen hockte dafür längst artig in der Uni.

»Gib mir zwanzig Minuten. Ich bringe dir auch deinen Stehroller mit. Bis gleich.«

Energisch trat ich das Gaspedal bis zum Bodenblech durch.

 

Doch die Buschtrommel holte mich schneller ein als erwartet. Ich zuckelte gerade mit dem Segway auf der Ladepritsche in Richtung Neubaugebiet, als mein Mobiltelefon lautstark auf sich aufmerksam machte. Ich warf einen Blick in den Rückspiegel. Man musste vorsichtig sein. Die Ortsgendarmerie lauerte hierzulande überall. Zu einer Freisprecheinrichtung hatte ich mich bisher nicht durchringen können. Hätte bei dem Lärm, den der Diesel gerade an kalten Tagen verursachte, sowieso nicht viel Sinn gemacht.

»Hier ich, wer da?« bellte ich in den Sprechschlitz.

»Na, wer wohl«, schnaufte eine wohlbekannte Stimme.

Unser örtlicher Leichenfledderer. Der hatte mir gerade noch gefehlt.

»Ach, du bist's. Ist gerade schlecht. Ich bin mit dem Auto unterwegs.«

»Welches Auto?«

»Na, mit dem Unimog.«

»Das Ding nennst du Auto?«

Lanzerath lachte kurz auf, wurde dann aber gleich wieder ernst. Geradezu todernst

»Hast du heute schon einen Blick in dein Email-Postfach geworfen?«

»Klar.«

Sicherheitshalber steuerte ich den rechten Straßenrand an. Bei dem Geräuschpegel konnte man während der Fahrt wirklich kaum was verstehen und im übrigen war es besser für meinen Punktestand in Flensburg.

»Meinst du die mit den Sonderangeboten im Supermarkt?«

»Was sonst?«

»Vergiss die Mail. Schüler-Mobbing. Glasklare Sache.«

Lanzerath zählte offenbar auch zum Kreis der Auserwählten. Man durfte demnach gespannt sein, wer noch alles ad hoc über die angeblichen Sonderangebote aus dem Hause Balfelder informiert worden war. Ballensiefen jedenfalls nicht. Tuttifrutti hätte mich bestimmt als Erster kontaktiert. Vermutlich nicht mal Balfelder selbst, so unaufgeregt wie es heute Vormittag vor seinem Laden zuging.

»Was heißt hier 'vergessen'?« beschwerte sich Lanzerath. »Die Bilder sprechen doch wohl für sich. Ich für meinen Teil...«

»Sagt dir der Begriff 'Fotomontage' etwas?« unterbrach ich ihn. »Ich bin deswegen auf dem Weg zu Miss Sophie. Vielleicht schafft sie es ja, diesen Schweinkram aus dem Netz zu löschen.«

»Fotomontage, sagst du?« In Lanzeraths Stimme schwang jedenfalls Zweifel mit.

»Du hast richtig verstanden. Jedenfalls werde ich versuchen, die Sache irgendwie hinzubiegen. Tu mir bitte den Gefallen und behalte die Angelegenheit für dich. Sprich um Himmels Willen bloß nicht mit Susanne darüber. Sonst können wir nämlich gleich einen Aushang am Schwarzen Brett machen.«

»Was hat denn Susi damit zu tun?«

»Gar nichts. Jetzt lass mich endlich weiterfahren und posaune bloß nichts in der Gegend herum.«

»Wer posaunt hier? Ich bin verschwiegen wie ein Grab. Du fährst zu Miss Sophie? Okay, bis gleich!«

Ehe ich etwas erwidern konnte, hatte Lanzerath bereits aufgelegt. Mist, der hatte mir gerade noch gefehlt. Ich legte den Gang ein und gab Gas.

 

~~~~~~~

 

Am Ortsrand von Grafenstein hatte unsere umtriebige Bürgermeisterin vor einigen Jahren ein weitflächiges Areal mit Hilfe des Gemeinderates in Bauland umgewandelt. So dauerte es auch nicht lange, bis die ersten Ein- und Zweifamilienhäuser aus dem Boden schossen. Einige der Bauunternehmer aus der Umgebung verdienten sich jedenfalls eine goldene Nase. Selbst unser Bestattungsunternehmer soll dabei allem Anschein nach tüchtig abgesahnt haben, wie die Gerüchteküche wissen wollte. Er konnte wohl seinerzeit eine ansehnliche Fläche Brachland verhökern, die sein Schwiegervater angeblich als Mitgift für dessen Hochzeit mit Susi mit in die Waagschale geworfen hatte, damit es sich Lanzerath im letzten Moment bloß nicht noch anders überlegte.

Als allerdings Stefan Balfelders Frau Melanie in unmittelbarer Nachbarschaft der Siedlung mit angeblich staatlicher Förderung einen Sozialwohnbaukomplex errichten wollte, regte sich Widerstand unter den Hinzugezogenen. Melanie Balfelder musste das Projekt erst einmal zähneknirschend auf Eis legen, aber abgehakt schien die Sache für sie und ihren Mann damit noch lange nicht. Die Balfelders hatten in der Hoffnung, selbst ein dickes Geschäft zu machen, vom Vorbesitzer ein größeres Geländestück erworben. Gewöhnlich gut unterrichtete Kreise behaupteten, dass sie dabei gehörig über den Tisch gezogen worden waren. Jetzt hockten die Beiden auf einer Menge Land, das sich nicht so bebauen ließ, wie sie sich das ursprünglich vorgestellt hatten und suchten händeringend nach einem Ausweg aus der Misere, denn ohne rechtskräftigen Bebauungsplan gab's natürlich auch keine Zuschüsse von Vater Staat. Gut so.

 

Meine Fahrt durch das Neubaugebiet führte an gepflegten Vorgärten, Häusern mit hellen Fassaden, Doppelgaragen und Carports vorbei. Kein Wunder, dass man hier keine Sozialwohnungen in nächster Umgebung duldete. Sozialwohnungen bedeuteten den Zuzug sogenannter 'kleiner Leute'. Leute mit geringem Einkommen und geringem Niveau. Wider Willen musste ich schmunzeln. Ich wollte gar nicht wissen, wie viele der hier unlängst gebauten Häuser sowieso de facto den Banken gehörten. Und von wegen Niveau. Ich hatte mir von Gregor sagen lassen, dass die schlimmsten Rabauken an seiner Schule aus dem Neubauviertel stammten.

Schließlich erreichte ich Miss Sophies Anwesen und stellte den Motor ab. Wohltuende Ruhe setze ein. Seufzend kletterte ich aus der Fahrerkabine und zerrte das schwere Segway von der Ladefläche. Herr im Himmel, warum konnte Miss Sophie nicht mit einem normalen Damenfahrrad unterwegs sein? War das Teil vielleicht schwer!

Nur wenige Augenblicke vergingen, bis mir geöffnet wurde. Nora lächelte verführerisch, raffte ohne große Eile die Aufschläge ihres nur nachlässig zusammengebundenen Morgenmantels zusammen und blickte sich dabei neugierig nach allen Seiten um. Gegenüber unterbrach eine etwa fünfzigjährige Frau die Gartenarbeit.

»Habe die Ehre, Frau Doktor!« rief Nora lauthals über die Straße. Wiener Dialekt. Originalton 13. Bezirk. »Geh, was mach'n die Tulpen? Klappt's dies Johr, oder wer'ns a wieda so verdrummelt san wie ollerwei?«

Die Angesprochene mit dem Spaten in der Hand antwortete nicht, senkte stattdessen den Kopf und fuhr unbeirrt mit ihrer Gartenarbeit fort.

»Geh, schod«, meinte Nora und schüttelte ihre noch feuchten Haare im frischen Frühlingswind aus.

»Ihr Mann ist da a bisserl g'schmeidiger. Zumindest bei uns in dera Bar. Der lasst auch gern mal ahn Fuffzger springen. Zumind'st, wahn's i amol an der Stange umanand hupf.«

Das glaubte ich ihr gerne. Nora Waldner war fünfundzwanzig Jahre alt, stammte aus Hietzing, strippte momentan in einem Trierer Table-Dance-Bumslokal und passte mit ihrem breiten Wiener Dialekt in die Grafensteiner Neubausiedlung in etwa so perfekt wie die sprichwörtliche Faust aufs Auge. Kein Wunder, dass jemand wie Frau Tietmeyer von gegenüber mit jemandem wie Nora wenig anfangen konnte. Sie war die Mensch gewordene Versuchung. Wenn Nora im Sommer in Hotpants und Bikinioberteil den Vorgarten mähte, dann beschlich einen das Gefühl, Raucherpausen wären neuerdings nur noch vor Miss Sophies Haus erlaubt.

»No, Freinderl?«

Ihre Stimme klang genauso rauchig wie verheißungsvoll. Ich hielt ihr meine Wange hin, die sie erwartungsgemäß ganz zart abbusselte.

»Tät'st di besser rasiern«, tadelte sie mich und trat einen Schritt zur Seite, damit ich endlich eintreten konnte.

»Verehrung an den Herrn Gemahl, Frau Doktor«, rief sie erneut quer über die Straße.

Frau Tietmeyer tat indes immer noch so, als habe sie überhaupt nichts gehört.

»Du sollst die Nachbarn nicht ärgern«, brummte ich und schälte mich aus meiner Jacke.

»Geh, Bürscherl. Was du scho wieder hast«, meinte Nora und öffnete dabei ein Stück weit ihren Bademantelgürtel.

Was ich dabei zu sehen bekam, hätte einen pubertären Sechzehnjährigen glattweg ins Koma versetzt. Jetzt musste selbst ich langsam zusehen, dass ich auf andere Gedanken kam.

»Wo steckt Sophia? Und wie geht's Klaus und Peter?«

»Geh, woast eh! Sie hängt am Computer omanand, und die beiden Turteltäubchen san in der Uni. Ollerwei so wie jeden Tag. Magst ahn Braunen?«

»Später vielleicht«, meinte ich nur und hängte meine Jacke an die Garderobe. »Ich muss dringend zur Mutter Oberin, falls es genehm ist.«

Nora begann an dem ohnehin nur noch sehr locker gebundenen Gürtel ihres Bademantels zu spielen und ließ die beiden Enden im Kreis wirbeln. Und nicht nur die. Teufel aber auch!

»Hast ahn Termin, Schnucki?«

Ich ahnte, was sie im Schilde führte und riss mich deshalb zusammen. No way! Ich musste zur Zauberin von Oz. Dringend.

»Was denkst du. Und nun lass mich endlich vorbei. Ich hab's eilig.«

»Geh, schod«, rief mir Nora hinterher, als ich im Flur verschwand.

Grinsend zog sie den Bademantelgürtel wieder fester um die Hüften.

 

Ich erreichte Miss Sophies Refugium. Nora hatte ihre beiden Zimmer im ausgebauten Dachgeschoss, Klaus und Peter Kastenreuth bewohnten den ersten Stock, die alte Lady hingegen residierte im Erdgeschoss. Das lag daran, dass der Architekt seinerzeit dort die beiden größten Räume eingeplant hatte. Ich klopfte kurz an, wartete auf ihre Aufforderung zum Eintreten, atmete nochmal tief durch und drückte die Klinke. Der Weg stand offen. Mitten hinein in die Kajüte von Käpt'n Jack Sparrow. Mit Flachbildschirm und Highspeed-Internetzugang.

Der Fußboden von Sophia Amalie Berrenrath's Wohnzimmer bestand aus echtem Schiffsparkett. Angeblich vom Deck einer Fregatte aus dem 19. Jahrhundert. Im Zentrum des Raums stand ein riesiger Kapitänstisch mit grüner Lederplatte und Messingbeschlägen, dahinter ein hölzerner Drehsessel. Decke und Wände des Raums waren holzvertäfelt. Schwere Brokatgardinen umrahmten die Fenster. An den Wänden hingen Imitationen von Bullaugen aus Messing und Stiche historischer Segelschiffe, und in mehreren Glasvitrinen standen Modelle von Schonern und Brigantinen längst vergangener Epochen. Krönung des Ganzen jedoch war der Original-Maschinentelegraph eines Kreuzfahrtschiffes aus den Zwanzigerjahren unmittelbar vor dem riesigen Fenster mit Blick auf den Garten. Was genau hinter Miss Sophies Vorliebe für maritime Devotionalien steckte, war angeblich nicht nur mir schleierhaft. Es schien beinahe, als hätte sie sich irgendwann mal unsterblich in einen Hochseekapitän verliebt. Oder vielleicht selbst ein Kaperschiff befehligt. In einem ihrer früheren Leben. Zuzutrauen wäre ihr das durchaus gewesen.

Mein Blick wanderte weiter. Hinter Miss Sophies Drehsessel befand sich eine breite Kommode im Kolonialstil mit mehreren Schubladen und zwei reichlich verzierten Schranktürchen. Jeder Eingeweihte wusste, was sich dort befand. Der Highspeed-Internetrouter eines bekannten Kabelnetzbetreibers und ein NAS-Server, über den man zu jeder Tages- und Nachtzeit und von jedem Raum aus auf Miss Sophies Musiksammlung und ihre Videobibliothek zugreifen konnte. Nur der gewaltige Flachbildschirm im XXL-Format an der Wand über der Kommode galt als einziges sichtbares Zugeständnis an das längst angebrochene 21. Jahrhundert. Im Augenblick lief ein Film über bretonische Leuchttürme im Sturm. Natürlich in UHD, what else.

Der Espresso-Vollautomat auf der Kommode amüsierte mich jedesmal aufs Neue, da ich Miss Sophie bei sich daheim noch nie einen Kaffee habe trinken sehen. Die alte Dame bevorzugte vielmehr Calvados Hors d'Age und neuerdings meinen Blanc de Noir, worauf ich durchaus stolz sein durfte. Bisher hatte die alte Dame ihren Wein dem Vernehmen nach ausschließlich von namhaften Winzern aus der Provence und der Gegend um Bordeaux bezogen. In Gesellschaft pflegte Miss Sophie ihre Drinks stets auf einem mit Brokatdamast bezogenen Kanapee zu sich zu nehmen. Für Besucher standen zwei schwere Ohrensessel zur Verfügung.

In ihrem Alter hätte man nicht mehr viel Besuch, gestand mir Miss Sophie irgendwann einmal in stiller Stunde ein. Das war angeblich der Grund, die drei jungen Leute in ihre WG aufzunehmen. Alt werden war ihrer Ansicht sowieso schon nicht lustig, aber alt werden und gleichzeitig auch noch allein sein, dazu verspürte die alte Dame offenbar überhaupt keine Lust.

Mein Blick fiel auf die gewaltige Fensterfront, die einen ungehinderten Blick auf den Garten zuließ. Im Hintergrund schmiegte sich ein niedriges Gewächshaus an die bestimmt vier Meter hohe Hecke, die zwangsläufig jeden Blickkontakt neugieriger Nachbarn unterband. Aus gutem Grund. In dem Gewächshaus züchtete Miss Sophie eine besondere Art von Grünpflanzen. Unter Rotlichtlampen, die von der hauseigenen Solaranlage verlässlich und kostengünstig mit Strom versorgt wurden. Miss Sophie rauchte ab und zu gerne mal einen Joint. Natürlich ausschließlich zur Linderung ihrer Arthritis, wie sie stets auf besorgte Nachfrage verschmitzt lächelnd versicherte. Wie es ihr gelungen war, ihren Hang zu verbotenen Heilkräutern über Jahre hinweg vor der örtlichen Polizei geheimzuhalten, war nicht nur mir ein Rätsel.

 

Sophia Amalie Berrenrath deutete auf einen der beiden Polstersessel.

»Setz dich, Bub. Was möchtest du trinken?«

»Bin mit dem Wagen da. Allenfalls einen Espresso.«

Die alte Dame seufzte, ging hinüber zur Kommode und stellte eine kleine Tasse unter den Auslass des Kaffee-Vollautomaten. Das Mahlwerk verursachte zunächst einen Höllenlärm, während die Kaffeebohnen nach und nach pulverisiert wurden. Anschließend kam sie mit dem frisch aufgebrühten Espresso und einem Holzkästchen zu mir an den Tisch und nahm auf ihrem Kanapee Platz.

»Trink, mein Junge«, meinte sie und deutete auf die Tasse mit dem dampfenden Gebräu.

Ich kostete den Espresso. Er war köstlich. Selbst Ballensiefens Profigerät aus Italien für zehntausend Euro kam an diesen Geschmack und solche Crema nicht heran. Vorsichtig stellte ich die Tasse ab.

»Wir müssen reden.«

Sophia schmunzelte.

»Du tust ja richtig geheimnisvoll.«

»Stimmt. Jedenfalls wäre ich froh, wenn es ein Geheimnis bliebe. Die Angelegenheit ist auch so schon mehr als grotesk.«

»Jetzt stottere hier nicht herum, sondern sag mir endlich, worum es genau geht. Dass ihr jungen Leute auch immer so umständlich sein müsst.«

 

Die Tür zum Wohnzimmer schwang auf. Im Türrahmen stand, mittlerweile halbwegs züchtig bekleidet, ihre wesentlich jüngere Mitbewohnerin. Na ja, das hautenge T-Shirt und der Minirock gingen höchstens mit viel Hühneraugenzudrücken gerade noch als jugendfrei durch. In ihrem Schlepp befand sich unser Totengräber. Schwarzer Anzug, schwarzer Schlips, gegelte Haare. Eigentlich hätte nur noch das Mundharmonikagedudel von Enrico Morricone gefehlt.

»Habe die Ehre, gnä Frau. Wos mach'n mer' mit döm Bursch'n da? Mag er eini kemma?«

»Der schon wieder«, seufzte ich.

»Ist schon gut, Nora«, meinte Sophia und deutete ihrem unerwarteten Gast an, ebenfalls Platz zu nehmen.

Lanzerath wartete zur Sicherheit ab, bis die Wohnzimmertür ins Schloss fiel.

»Kein Benehmen!« schimpfte er schließlich drauflos. »Und dann auch noch dieses Kauderwelsch. Wie hältst du das bloß mit dieser Schnepfe aus?«

»Dös hab i g'hört, du Klappsarg-Händler, damischer!« schimpfte es hinter der geschlossenen Tür. »I hab ka Benehm'n, aber mir dafür ständig auf die Titt'n glotz'n. Dös hob i gern.«

Lanzerath zuckte zusammen. Miss Sophie grinste.

»Sie beruhigt sich schon wieder. Könnt ihr jetzt verstehen, warum ich mir keinen Wachhund zulege? Zumindest was ihr Mundwerk angeht, nimmt es Nora mit jedem Pitbull-Terrier auf. Aber jetzt möchte ich endlich wissen, welche Ehre mir euer Besuch verschafft.«

Ich holte tief Luft und begann zu berichten. Von meinem Treffen mit Gregor Weisz am vergangenen Abend, von der Mobbing-Attacke im Internet und der Email von heute Morgen.

Sophia Amalie Berrenrath öffnete das Holzkästchen, nahm ein zum Ende hin leicht kegelförmig zulaufendes Papiertütchen heraus und lehnte sich bequem zurück. Wie von Zauberhand lag ein Zippo in ihrer Hand. Es flackerte kurz auf, und das Cannabis verbreitete seinen eigentümlichen Duft. Ich hob den Zeigefinger.

»Lass dich bloß nicht erwischen!«

»Ist nur gegen meine Schmerzen«, erwiderte Sophia. »Ihr wisst doch, die Arthritis.«

Dabei sog sie noch einmal tüchtig an dem selbstgedrehten Glimmstängel, inhalierte tief und stieß den Rauch nach einer Weile genüsslich zur Decke. Gleichzeitig tippte sie mit der freien Hand auf dem Tablet herum, das neben ihr auf dem Kanapee lag. Nach einem kurzen Augenblick legte sie das Gerät beiseite.

»Bei mir ist die Mail versehentlich im Spam-Ordner gelandet. Wer hat eurer Ansicht nach sonst noch Kenntnis davon?«

»Ich zumindest«, meinte der Totengräber.

»Und Marianne«, gab ich zu. »Sie hat mich heute Morgen erst mit der Nase drauf gestoßen.«

»Du warst natürlich mal wieder zu faul dazu, als Erster einen Blick in dein Email-Postfach zu werfen, stimmt's?« tadelte mich die alte Dame. »Schade, sonst hätten wir einen Mitwisser weniger. Was sagt eigentlich dein Freund Gregor dazu? Du hast doch wohl mit ihm gesprochen, oder?«

Ich seufzte.

»Na ja, nicht direkt. Ich habe versucht ihn telefonisch zu erreichen, aber er beaufsichtigte gerade eine Klassenarbeit. Da war er unabkömmlich.«

 

Sophia sog erneut an ihrem Joint, legte das glimmende Stäbchen dann jedoch beiseite. Sie erhob sich, holte ihr Notebook aus der Kommodenschublade und schaltete es ein. Ein paar LEDs begannen aufgeregt zu blinken, und wenige Sekunden später zeigte der Bildschirm eine mir unvertraute Bildschirmoberfläche. Kali Linux hatte mir Sophie irgendwann mal schmunzelnd anvertraut. Eigentlich eine spezielle Software für digitale Forensik und Penetrationstests. Mit anderen Worten etwas für Hacker oder Leute, die sich Hacker berufsbedingt vom Halse halten wollten. Windows sei in ihren Augen inzwischen nur noch Einfallstor für Viren und Spionagetools. Wer sicher im Netz unterwegs sein wollte, dürfte halt nichts von der Stange installieren.

Wenig später erschien eine schier endlose Liste von Einträgen auf dem Bildschirm. Miss Sophie überflog die einzelnen Zeilen.

»Also bei meinen Leuten ist die Mail jedenfalls nicht eingegangen. Wenigstens ein Lichtblick.«

Lanzerath zog die Stirn in Falten.

»Was heißt hier 'bei deinen Leuten'? Hast du etwa Zugriff auf anderer Leute Email-Postfächer?«

»Was denkst du denn, wie oft mich über die Woche Leute aus dem Ort anrufen, weil sie irgendein Problem mit ihrem Computer haben. Soll ich da vielleicht erst jedesmal sämtliche Zugangspasswörter abfragen, die auf irgendwelchen Zettelchen wer weiß wo notiert sind? Da käme ich ja zu nie was. Aber keine Sorge, die Leute wissen Bescheid.«

Lanzerath begann unruhig in seinem Sessel hin und her zu rutschen. Ich ahnte bereits, was der als erstes tun würde, sobald er wieder daheim war: sämtliche Passwörter ändern. Um Sowas Profanes kümmerte sich bei mir daheim Marianne. Wozu gab es schließlich Angestellte?

»Und wie viele wären das, wenn man mal fragen darf?«

»So um die Hundert. Allein achtzig Leute aus meiner Nachbarschaft haben sich von mir Virenscanner und Firewall einrichten lassen. Es gab Zeiten, da meinten Klaus und Peter, ich solle Computerkurse abhalten oder eine Beratungsfirma gründen. Am besten mit eigenem Call-Center.«

»Kommst du etwa auch an meine Mails heran?«

Lanzeraths wurde für einen kurzen Augenblick ziemlich blass. Endlich passte seine Gesichtsfarbe mal zu seinem Job. Ein Leichenbestatter mit permanenter Sonnenbankbräune, wie sah das überhaupt aus?

Sophia lächelte nachsichtig.

»Sowas würde ich nie tun. Das gehört sich nicht.«

Ich schaute die alte Dame nachdenklich an.

»Kannst du feststellen, von wem die Mail stammt?«

Sie tippte ein paar Mal auf der Tastatur ihres Notebooks herum.

»Ein simpler Google-Account unter dem Namen unseres Supermarktbesitzers. Keine große Sache. Ein Postfach unter falschem Namen kann jeder Dreizehnjährige einrichten, falls er sich daheim nicht bloß mit seiner Spielekonsole beschäftigt. Balfelder selbst wird wohl kaum dahinterstecken. So blöd, unter seinem eigenem Namen in aller Öffentlichkeit auf die MyHistory-Seite von Weisz hinzuweisen, wird er ja wohl kaum sein, oder?«

»Kann man da eigentlich nichts machen?« wollte ich wissen.

»Schwierig. Um zu erfahren, wer hinter der Mail steckt, müsste man erst einmal den passenden Email-Account knacken. Das wiederum hieße, unzählige Passwörter auszuprobieren. Viel Vergnügen. Habt ihr die nächsten zehn Jahre Zeit? Bei den Internetzugängen, die ich eingerichtet habe, dürfte sogar das BKA einige Schwierigkeiten haben. Und selbst wenn uns das gelänge, dann haben wir zwar Zugang zu dem Email-Postfach, aber wer letztlich in persona dahinter steckt, das wissen wir immer noch nicht. Es sei denn, derjenige wickelt über das Postfach zum Beispiel seine Geschäftskorrespondenz ab. Aber so blöd wird wohl kaum jemand sein.«

»Du kannst einem ja Mut machen«, seufzte ich.

»Und was ist mit dem Account bei MyHistory?« wollte Lanzerath wissen.

»Genauso schwierig. Selbst wenn der Kerl dieselbe Email-Adresse für das dortige Login benutzt, dann bleibt als nächste Hürde das Passwort bei MyHistory.«

»Du willst damit sagen, man ist da wirklich machtlos? Was wäre eigentlich, wenn Weisz MyHistory auffordern würde, die Seite vom Netz zu nehmen?«

Sophia warf mir einen vielsagenden Blick zu.

»MyHistory ist nicht Facebook, Twitter oder WhatsApp. Die hocken meines Wissens irgendwo im Kaukasus. Jedenfalls ganz tief im Osten. Wahrscheinlich verstehen die nicht mal richtig Englisch. Nein, das könnt ihr vergessen. Wenn überhaupt, dann gelingt das nur mit Hilfe der Staatsanwaltschaft über ein Rechtshilfeabkommen. Ich sehe da aber wenig Aussicht auf Erfolg.«

»Na, toll!« brummte Lanzerath. »Es lebe das Internet! Der letzte rechtsfreie Raum auf dieser Welt.«

Sophia klappte ihr Notebook zu.

»Ich lasse mir was einfallen.«

Ihr Blick glich dabei der einer Sphinx.

»Was hast du vor?« wollte unser Totengräber wissen.

Wir erhielten stattdessen ihre Standardantwort. Von wegen, man dürfe zwar alles fragen, aber noch lange nicht alles erfahren.

 

Eine halbe Stunde später hockten wir bei Tuttifrutti und starrten hinaus in den Regen. Das Wetter passte im Augenblick so richtig zu meiner Stimmung. Ich hatte es schon im Dienst nicht ausstehen können, wenn uns jemand an der Nase herumführte und man dabei nur tatenlos zusehen konnte. Genau wie jetzt.

Eine der beiden Rumäninnen trat an unseren Tisch. Ich blickte hoch. Herrschaften! Was man da an einem so trüben Tag wie heute so alles zu sehen bekam, das konnte einem aber wirklich die Schnürsenkel aufdröseln. Kein Wunder, dass man bei Tuttifrutti neuerdings selbst an einem normalen Werktag kaum noch einen freien Tisch ergatterte. Inzwischen schien halb Grafenstein zur Mittagszeit in Ballensiefens Restaurant einzutrudeln. Na, ihn wird's freuen.

»Was darf's sein?«

Lanzerath konnte seinen Blick kaum von gewissen appetitlichen Wölbungen lösen.

»Äh, was können Sie uns denn empfehlen?«

Dabei musste er sich mehrmals räuspern. Die junge Frau lächelte zuckersüß, beugte sich weit vor und deutete auf einen Eintrag in der Speisekarte.

»No, ist Forelle ganz frisch. Mecht'ns Salat dazu?«

Hätte Lanzerath noch mehr Stielaugen bekommen, wäre das mit Sicherheit als sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz ausgelegt worden.

»Er nimmt das Wildschwein«, antwortete ich für den Sprachlosen. Mit Fisch hätte man ihn jagen können, wie er mir mal versicherte. »Für mich dasselbe.«

Die junge Rumänin lächelte und verschwand in der Küche.

»Nur nebenbei, du bist verheiratet, falls du das vergessen haben solltest«, ermahnte ich ihn.

Beim Hinweis auf seinen Familienstand erwachte unser Totengräber schlagartig aus seiner Erstarrung.

»Lass bloß Susi aus dem Spiel.«

Ballensiefen trat zu uns an den Tisch.

»Na, Männer. Das ist ein Wetterchen, nicht wahr? Seit dem Wochenende habe ich praktisch keinen Umsatz mehr im Außenbereich gemacht.«

Ich blickte mich um.

»Dafür läuft es drinnen offenbar umso besser.«

»Zumindest, seit du deinen Personalbestand ein wenig aufgefrischt hast«, fügte Lanzerath hinzu.

»Und, was gibt's sonst Neues?« wechselte Ballensiefen daraufhin abrupt das Thema.

Ich warf unserem örtlichen Leichenbestatter einen warnenden Blick zu.

»Probleme mit einer Weincharge. Die letzte Korkenlieferung war offenbar nicht in Ordnung.«

»Susanne will sich unbedingt die Haare färben lassen«, fügte Lanzerath hastig hinzu.

»Eure Sorgen möchte ich haben«, meinte Ballensiefen und widmete sich im nächsten Moment den neuen Gästen, die gerade eintrudelten.

Mein Handy klingelte. Ich hob ab. Es war Marianne.

»Ich mache gleich Feierabend. Kommst du dann bitte in den Laden?«

Ich runzelte die Stirn.

»Jetzt schon? Ich sitze gerade bei Tuttifrutti und...«

»Du hast Besuch.«

»Was? Wer?«

»Das wirst du schon sehen, wenn du hier bist.«

Dann war es wieder stumm in der Leitung.

Ich stand auf.

»Sag Ballensiefen, er soll mir den Schwarzkittel mit der Post schicken. Muss in die Firma. Weiß der Henker, was da schon wieder los ist.«

»Geh doch in Rente«, rief mir Lanzerath hinterher, aber da war ich bereits durch die Tür und hastete auf den Unimog zu.

 

~~~~~~~

 

Ich verstand sowieso nicht, warum Marianne mich am Telefon so zur Eile angetrieben hatte. Mit Laufkundschaft war bei diesem Wetter bei uns oben am Berg nun wirklich nicht zu rechnen. Doch als ich das Büro betrat, begriff ich langsam. Vor meinem Schreibtisch wartete ein schätzungsweise siebzig- bis fünfundsiebzigjähriger Mann in geradezu abenteuerlichem Outfit. Ich runzelte die Stirn. Kannte ich den Typ etwa? Er jedenfalls schien mich zu kennen.

»Grüß dich, mein Junge.«

»Mein Junge?« erwiderte ich verblüfft. »Danke für die Rosen. Ich bin Mitte Vierzig.«

Der Alte lächelte und erhob sich.

»Weiß ich doch. Erkennst du mich nicht?«

Ich schaute genauer hin. Dann traf es mich wie ein Blitz. Vor mir stand kein Fremder. Vor mir stand ein Toter. Jeder bei uns in der Familie hatte geglaubt, der Kerl läge längst irgendwo sechs Fuß tief unter der Erde. Ich übrigens auch. Zumindest bis zu diesem Augenblick. Teufel aber auch! Wie lange war das her? Dreißig Jahre? Fünfunddreißig?

Ich atmete tief durch.

»Jetzt hol' mich doch der Gezwirnte!«

 

Da stand er also vor mir, der seit Jahrzehnten verschollen geglaubte ältere Bruder meines Vaters. Ich rechnete kurz nach. Fünfundsiebzig musste er inzwischen sein. Unter einem ehemaligen Regierungsbeamten in seinem Alter stellt man sich gewöhnlich einen älteren Herrn mit leichtem Bauchansatz und weißem Haarkranz vor. Mit dunkelgrauem Anzug, Krawatte und blank polierten Schnürschuhen. Strenger Seitenscheitel, Nickelbrille und im schlimmsten Fall gestutzter eisgrauer Vollbart. Längst auf der Suche nach einem Seniorenheim für betreutes Wohnen. Selbstverständlich barrierefrei mit bequemem Zugang für den Rollator.
Der Kerl, der mir da milde lächelnd seine Hand entgegenstreckte, führte all diese Vorstellungen ad absurdum. Zugegeben, der Typ war alt, sein Gesicht von tiefen Falten zerfurcht, die Haut an seinem Hals wie gegerbtes Leder, die Hände sehnig und mit dunklen Altersflecken übersät. Aber Anzug, Krawatte, Schnürschuhe? Nichts von alledem. Unwillkürlich trat ich einen Schritt zurück und schaute genauer hin. Auf den ersten Blick wirkte mein Gegenüber wie ein Indianerhäuptling im Freizeitdress. Zum Zopf gebundene Haare, über den Schultern eine rehbraune Fransenlederjacke und weiter unten derbe Jeans und Cowboystiefel. Aus seinem von der Sonne gebräunten Gesicht stachen eigentümlich helle graublaue Augen und eine imposante Hakennase hervor. Um den Hals trug er ein großflächiges Amulett, nur von einer dünnen Lederschnur gehalten. Hätte er mich mit »Hugh!« begrüßt, ich glaube, das hätte mich in diesem Augenblick überhaupt nicht überrascht.

 

Karl Brenner, oder sollte ich besser sagen: Häuptling Grauer Star, hielt mir immer noch die rechte Hand entgegen. Ich ergriff sie zögernd und wunderte mich über seinen festen Druck. Mein Blick fiel auf den Garderobenständer. Dort hing ein beinahe bis zum Boden reichender Ledermantel und ein breitkrempiger Hut. Was jetzt eigentlich noch fehlte, war der Patronengurt mit einem Colt Peacemaker im offenen Holster. Nur der Koffertrolley, der dort gegen die Wand lehnte, wollte nicht so recht zu dem abenteuerlichen Erscheinungsbild meines unerwarteten Besuchers passen. Alleine war er anscheinend auch nicht gekommen. Aus einer Ecke meines Büros tauchte ein Hirtenteppich auf. Genauer gesagt, ein Hirtenteppich auf vier Beinen. Irischer Wolfshund, Typ höher gelegter Struppi. Der Köter baute sich vor mir auf und fletschte demonstrativ die Zähne.

»Allez!« brummte der Alte und deutete auf den Boden.

»Ici! Vite, vite!«

Die knapp hüfthohe Promenadenmischung faltete sich förmlich zusammen und legte sich artig nieder. Allerdings ohne mich dabei auch nur eine Sekunde aus den wachsamen Knopfaugen zu lassen.

»Das ist übrigens Robespierre.«

»Was du nicht sagst«, erwiderte ich und musterte den laufenden Flohzirkus. »Hat der die französische Revolution also doch noch überlebt?«

Robespierre hob den Kopf und knurrte unmissverständlich.

 

Mir war schleierhaft, was mein in Vergessenheit geratener Onkel nach über dreißig Jahren urplötzlich bei uns in Grafenstein verloren hatte. Dem Vernehmen nach sollen sich mein Vater und sein Bruder kurz vor meinem dreizehnten Geburtstag furchtbar zerstritten haben. Worum es dabei genau ging, darüber schwiegen meine Eltern beharrlich bis zuletzt. Irgendetwas musste sich zu fraglicher Zeit zwischen den Dreien zugetragen haben. Etwas so Dramatisches, dass Onkel Karl von da an in unserer Familie totgeschwiegen wurde. Ob das vielleicht mit der Grund dafür war, dass sich meine Eltern kurze Zeit später trennten? In der Verwandtschaft hielt sich jedenfalls ein böses Gerücht, aber davon wollte ich nichts wissen. Was nicht sein durfte, das nicht sein konnte. Alte Bauernweisheit.

»Wie geht's dir?«

Der Alte schmunzelte.

»Wie soll es einem alten Knacker wie mir schon gehen? Sieht man doch wohl, hoffe ich. War in Südfrankreich. Tolles Land, immer Sonne. Was will man mehr?«

 

Unwillkürlich fiel mir mein dreizehnter Geburtstag ein, an dem mir meine Mutter praktisch zwischen Kaffee und Kuchen eröffnete, Onkel Karl käme nicht vorbei. Er käme vermutlich überhaupt nicht mehr zu Besuch. Und um des lieben Friedens Willen sollte ich Vater nicht darauf ansprechen. Die Beiden hätten sich verkracht, meinte sie nur kurz angebunden. Erwachsenenkram. Vielleicht würde sich das ja auch irgendwann wieder einrenken.

Onkel Karls Wegbleiben tat mir besonders weh, denn für mich war er immer Sowas wie ein Vorbild gewesen. Der ältere Bruder meines Vaters genoss wie kein anderer sein Junggesellenleben, und das war bei uns auf dem Land, wo nicht selten schon vor dem zwanzigsten Geburtstag geheiratet wurde, ziemlich exotisch. Karl Brenner arbeitete in leitender Position im Bonner Wirtschaftsministerium, kam dadurch viel in der Welt herum und ging wie kein anderer stets mit der neuesten Mode. In meinen Augen war er der Gentleman par exellence, Sowas wie ein James Bond mit Pensionsberechtigung. Na ja, als Teenager hat man so seine Vorstellungen.
Ein Jahr später, ich war gerade Vierzehn geworden, nahm ich mir ein Herz, kaufte mir am Bahnhof eine Zugfahrkarte und machte mich auf den Weg an den Rhein. Ich traf ihn in seiner Wohnung in Rüngsdorf an und stellte ihn auch zur Rede, doch auch mein Onkel weigerte sich beharrlich über die Geschehnisse am Tag vor meinem dreizehnten Geburtstag zu sprechen. Wutentbrannt verließ ich Bonn und beschloss, nie wieder ein Wort mit ihm zu wechseln.

 

»Hauptsache, dir ist es die letzten Jahre gut ergangen«, entgegnete ich einsilbig.

Das Lächeln des alten Mannes fror ein wenig ein.

»Ach weißt du, ich musste einfach mal weg aus Deutschland und was anderes sehen.«

Bis zu diesem Augenblick hatte ich mich beinahe sogar ein bisschen über das unerwartete Auftauchen meines verschollen geglaubten Onkels gefreut. Schließlich war er für mich immer eine wichtige Bezugsperson gewesen. Aber auf einmal war er für mich nur noch ein blöder alter Kerl in einer geradezu grotesken Verkleidung. Der grinsend vor mir stand, seinen Köter herumkommandierte und mir von irgendeinem Dauerurlaub an der Côte d'Azur vorschwärmte. Ich hätte ihm in diesem Augenblick so eine hineinhauen können. Aber irgendwas hielt mich ab. Es war nicht der Hund, der jede meiner Bewegungen argwöhnisch verfolgte und keinen Hehl daraus machte, sich lieber jetzt als gleich auf mich zu stürzen. Es waren Karls Augen, die mit einem Mal jeglichen Glanz verloren.

Ich deutete auf den freien Stuhl vor meinem Schreibtisch.

»Behalte ruhig Platz. Kaffee?«

»Gern«, meinte er, ließ sich auf dem Stuhl sinken und tätschelte den Kopf seines vierbeinigen Begleiters.

Mir entging nicht, dass er sich etwas linkisch bewegte.

»Kann Robespierre vielleicht einen Napf mit Wasser bekommen?«

»Auch das noch.«

Ich suchte einen großen Blumenuntersetzen und goss einen knappen Viertelliter Mineralwasser hinein. Als ich ihm die Schale vor die Nase stellen wollte, knurrte der Köter schon wieder. Der musste aber dringend mal zum Tierpsychologen.

»Robie!« warnte mein Onkel. »Allez! Boire!«

Der Hund begann artig das Wasser zu schlabbern. Kopfschüttelnd ging ich hinüber zu unserer Espressomaschine und nahm zwei Tassen zur Hand. Als ich anschließend wieder an meinem Schreibtisch hockte, schaute ich ihn auffordernd an.

 

»Und? Was willst du hier?«

»Dich besuchen«, kam es beinahe wie aus der Pistole geschossen. Es schien, als hätte er auf diese Frage gewartet. War ja auch irgendwie logisch.

»Mich besuchen?«

»Nenne es von mir aus, wie du willst. Ich bin jetzt Fünfundsiebzig, und da dachte ich mir, die Zeit wäre vielleicht gekommen...«

»Ach, dachtest du dir«, unterbrach ich ihn.

»Was bist du denn auf einmal so sauer?«

Ich musste mich richtig zusammenreißen, dass mir jetzt nicht der Kragen platzte.

»Das will ich dir sagen! Du brichst Knall auf Fall jeglichen Kontakt zu uns ab und lässt jahrzehntelang nicht von dir hören und sehen, dass wir alle glaubten, du würdest längst irgendwo sechs Fuß unter der Erde verrotten, und dann tauchst du urplötzlich wie ein Schachtelteufelchen aus der Versenkung auf und beschwerst dich, dass man dir nicht gleich um den Hals fällt? Sag mal, geht's noch? Was glaubst du eigentlich, wer du bist?«

Robespierre ging sofort in Habachtstellung. Dass er dabei knurrte und die Zähne fletschte, daran hatte ich mich inzwischen fast schon gewöhnt. Karl Brenner hob die Tasse an seinen Mund, trank einen Schluck und klopfte Robespierre beruhigend auf sein Hinterteil. Der Köter hockte sich wie auf Kommando hin. Es vergingen ein paar Augenblicke, die mir in diesem Moment wie Ewigkeiten vorkamen.

»Wie geht es eigentlich deiner Mutter? Wie ich hörte, ist sie nach Süddeutschland gezogen?«

»Lass Mama aus dem Spiel«, erwiderte ich tonlos. »Sie ist tot. Seit inzwischen mehr als zehn Jahren.«

An seinem auf und ab hüpfenden Adamsapfel konnte ich erkennen, dass mein Gegenüber heftig schluckte.

»Woran ist sie gestorben?«

»Krebs.«

»Das tut mir leid.«

»Spar dir deine salbungsvollen Worte.«

 

Mein Vorarbeiter rettete die Situation. Lutz Backhaus stürmte wie üblich grußlos ins Büro, warf seine Arbeitsjacke über die Garderobe und stemmte die Fäuste in sie Hüften. Ein zu heiß gebadeter Rodeohengst war Walt Disneys Bambi dagegen. Wer Lutz nicht kannte, der musste jetzt echt Angst bekommen, im nächsten Moment womöglich Zeuge einer handfesten Auseinandersetzung zu werden.

»Dat glöv ich nit«, polterte er mit breitem rheinischem Dialekt drauflos. »Die hann doch alle 'nen Ratsch am Kappes. Wehs du, wat die ons do jelevert hann? Kenne Rebstöck us ahnständijem Holz, nä, die Drissköpp hann Baumstämm op denne sing LKW. Mensch, Chef, damet kanns'te en Huus baue. Dat eß doch för ze laache!«

Lutz Backhaus war ein feiner Kerl. Pünktlich, verlässlich, ehrlich. Aber im Augenblick passten mir seine Sorgen überhaupt nicht in den Kram. Ich erhob mich, ging um meinen Schreibtisch herum und klopfte ihm auf die Schulter.

»Lass mal gut sein, Lutz. Darum kümmert sich morgen früh Marianne. Sag den Leuten, sie sollen den Kram wieder aufladen und heimfahren. Aber jetzt trink erst mal einen Espresso. Ist ja ein Mistwetter draußen.«

Lutz Backhaus ging an den Kaffeeautomaten und ließ die tiefschwarze Brühe in einen kleinen Pappbecher laufen. Als er sich wieder zu mir umdrehte, steckte ich ihm vorsorglich eine von meinen Moods zwischen die Zähne und hielt ihm mein Feuerzeug unter die Nase. Mein Vorarbeiter nickte leidlich zufrieden.

»Es joht, Chef. Äver su jeht et wirklich nit. Dat es doch Kokolores. Suh kann doch kenne Minsch arbigge!«

»Was ist mit unseren Männern?« wollte ich wissen.

»Die hann ich in de Keller jeschick. Wat solle die och drusse em Rähn romstonn. Do müsse se halt oprüme. Mehr künne me hück suwiesu niet mieh dunn.«

»Okay, Lutz, aber pass auf, dass ihr Thomas nicht stört. Der hat im Augenblick alle Hände voll mit unserem Blanc de Noir zu tun.«

Backhaus zog an dem Filterzigarillo und grinste.

»Jeht klar, Chef. Dä Strunz bruch sing Ruh. Hann ich kapiert.«

Er steckte sich den Rest des Zigarillo in den Mundwinkel, fischte sich seine Jacke vom Haken und stürmte mit der gleichen Geschwindigkeit nach draußen, wie er kurz vorher hereingeschneit war. Was mich am meisten beeindruckte: Robespierre hatte sich währenddessen nicht einen Zentimeter von seinem Platz gerührt.

 

Dafür erhob sich mein Onkel von seinem Stuhl.

»Ich bin dann auch mal wieder weg. Du hast ja offenbar alle Hände voll zu tun, mein Junge. Hätte nicht herkommen sollen. Meine Schuld. Dein Vater hatte schon recht. Ich bringe immer nur alles durcheinander.«

Doch so einfach wollte ich ihn diesmal nicht davonkommen lassen.

»Warum bist du damals eigentlich so sang- und klanglos abgehauen, ohne irgendeinen Ton zu sagen. Herr im Himmel, sag mir doch endlich mal, was damals tatsächlich passiert ist!«

Ich muss wohl nicht erwähnen, dass sich Robespierre wie auf Kommando drohend vor mir aufbaute. Es hätte vermutlich wirklich nicht mehr viel gefehlt, und dieser wandelnde Flokati wäre mit ans Hosenbein gegangen.

»Hat dir deine Mutter wirklich nie gesagt, was sich damals kurz vor deinem dreizehnten Geburtstag bei euch daheim abgespielt hat?«

Ich runzelte die Stirn.

»Was soll sich wo abgespielt haben?«

Wortlos ging mein Onkel zur Garderobe, um sich seinen langen Mantel überzustreifen. Mir fiel auf, dass er hinkte und sich auch beim Ankleiden ein wenig schwer tat. Ich dachte mir jedoch nichts weiter und schob die fehlende Gelenkigkeit auf sein fortgeschrittenes Alter. Als er den breitkrempigen Hut aufsetzte, sprang Robespierre an seine Seite und wedelte mit dem Schwanz.

»Elisabeth hatte an diesem Tag Besuch«, meinte er mit tonloser Stimme.

»Besuch? Von wem?«

Ein nachsichtiges Lächeln huschte sein Gesicht. Ehe er nach seinem Koffertrolley greifen konnte, sprang ich vor und hielt ihn am Ärmel fest. Mir fielen die Gerüchte wieder ein, die sich lange Zeit in Grafenstein hielten. Das war auch der Grund dafür gewesen, dass ich direkt nach der Schule das Weingut meines Vaters verließ und ins Ruhrgebiet zog, um dort meine Berufsausbildung zu beginnen. Weinbau war damals ohnehin nicht so mein Ding.

»Was meinst du mit 'deine Mutter hatte an diesem Tag Besuch'?«

Ein Ruck ging durch seinen Körper.
»Na, schön. Wenn du wirklich Wert darauf legst, es nach all den Jahren unbedingt erfahren zu wollen. Ich hatte den Terminplan meiner Dienstreise so gelegt, dass ich auf keinen Fall deinen dreizehnten Geburtstag verpasse. Ich trudelte daher bereits einen Tag früher bei euch ein. Da man mich so früh jedoch nicht erwartet hatte und mir deshalb auch niemand öffnete, suchte ich nach dem Hausschlüssel, der seit jeher unter den Geranien versteckt war.«

Er machte eine Pause. Schon wieder schüttelte er den Kopf.

»Und, was passierte dann?« fragte ich ungeduldig.

»Liest du keine Bücher? Schaust du nicht fern? Ich habe deine Mutter mit einem andern Kerl im Bett erwischt. Das war passiert. Wie ich später erfuhr, handelte es sich einen gewisseen Alwin Mayrhofer. Irgendein Gastronom aus Rosenheim, der bei euch des öfteren auftauchte, um Wein für seine beiden Restaurants einzukaufen.«

Ein Sprichwort fiel mir ein: Wo Rauch ist, da ist auch Feuer. Hatten die Gerüchte in Grafenstein also doch gestimmt. Ich wollte es trotzdem nicht wahrhaben.

»Das glaubst du doch selbst nicht. Doch nicht Mama!«

Karl Brenner schüttelte erneut den Kopf.

»Lass gut sein, mein Junge. Mütter sind auch nur Menschen und Elisabeth, das kannst du mir glauben, war nie ein Kind von Traurigkeit. Aber das ist alles eine halbe Ewigkeit her, und du glaubst mir, so aufgebracht wie du im Moment bist, vermutlich sowieso kein Wort. Lassen wir die alten Geschichten einfach ruhen.«

Ich packte ihn derb am Kragen. Dass Robespierre währenddessen seine Zähne in meinem Hosenbein vergrub, merkte ich zum Glück überhaupt nicht.

»Ich will jetzt endlich die ganze Wahrheit hören!«

Mein Onkel schaute mich lange und sehr nachdenklich an. Er zog seinen Hund von mir fort und legte mir seinen rechten Arm um die Schulter.

»Na schön, mein Junge. Dann mach mir noch einen Espresso, und dir holst du am besten einen Schnaps. Glaube mir, du wirst ihn brauchen.«

 

Als ich spät abends mein Büro abschloss, hatte ich das Gefühl, im falschen Kino zu sitzen. Danach hatten Karl und meine Mutter irgendwann mal eine heimliche Affäre. Allerdings vor ihrer Ehe mit meinem Vater, wie er mir mehrfach versicherte. Als sein nichts ahnender Bruder Josef, also mein Vater, irgendwann um ihre Hand anhielt, habe er die Liaison auch sofort beendet. Das fiel ihm eigentlich leicht, wie er beteuerte, denn ein Leben auf dem Land hätte er sich ohnehin nicht vorstellen können. Dazu war er viel zu sehr mit seinem Job verheiratet. Während sich Josef und Karl nach wie vor gut verstanden, suchte meine Mutter angeblich immer häufiger nach einem Grund, die beiden ungleichen Brüder auseinanderzubringen.

An besagtem Tag kam also mein Onkel unerwartet früh von seiner Dienstreise zurück. Da Karl wusste, dass sich bei uns im Ort das hartnäckige Gerücht hielt, Elisabeth würde es mit der ehelichen Treue nicht so genau nehmen, warf er schon um des familiären Friedens Willen den bajuwarischen Gaststättenbesitzer kurzerhand aus dem Haus. Karls Schilderung zufolge drehte meine Mutter, offenbar in Sorge um ihre Ehe, allerdings den Spieß um. Sie drohte angeblich damit, meinem Vater zu beichten, dass er in Wirklichkeit ihr Liebhaber sei, sollte er sich jemals nochmal in Grafenstein blicken lassen. Rosamunde Pilcher. Hardcore-Version.
Auf meine Frage, was ihn anschließend ausgerechnet nach Südfrankreich getrieben habe, meinte er augenzwinkernd, der Job in Bonn hätte ihn zum Schluss gelangweilt, und er hätte auch mal was anderes machen wollen. Warum es ausgerechnet Goucho auf einer Rinderfarm in der hintersten Provence sein musste, leuchtete mir dabei allerdings nicht ein.

Wie dem auch sei, es war sowieso nur die halbe Wahrheit. Hätte mir mein Onkel an diesem Abend die ganze Wahrheit gebeichtet, ich bin sicher, ich hätte ihn rausgeschmissen und mich am nächsten Tag in irgendeinen Flieger gesetzt. Mir wäre eine Menge Trouble erspart geblieben. Aber man kann halt nicht immer gewinnen.

 

 

 

 

Kapitel 4

 

 

Mittwoch

 

Ausgerechnet mit Back in Time aus Robert Zemeckis Filmklassiker Zurück in die Zukunft weckte mich der Radiowecker. Das passte zu meiner Stimmung aber wie die Faust aufs Auge. Ich schüttelte die Erinnerungen an den vergangenen Abend ab, sprang unter die Dusche, schlüpfte in Jeans und Pullover und machte mich auf den Weg nach unten. Schon als ich die Küchentür aufstieß, bemerkte ich, dass heute einiges anders schien als sonst. An meinem Küchentisch hockten Marianne und Thomas und stopften sich belegte Brötchen im Sechserpack zwischen die Kiemen. Am Herd stand ein unangenehm ausgeruhter Fünfundsiebzigjähriger mit Schürze um die Hüften und rührte in einer Pfanne herum. Es roch verführerisch nach Rühreiern mit Speck. Ich glaubte es nicht!

Wie auf Kommando kam ein vierbeiniger Bettvorleger um die Ecke geschossen und baute sich drohend vor mir auf. Karl pfiff leise durch die Zähne, machte eine Kopfbewegung, und der Köter trollte sich zurück in seine Ecke. Den Trick musste er mir irgendwann mal verraten. Ob Sowas vielleicht auch bei meinen Lohnarbeitern im Weinbau funktionierte?

»Weißt du, was ich dort unten im Süden die meiste Zeit vermisst habe?« meinte Karl und deutete gleichzeitig auf den freien Stuhl am Kopfende des Tischs. »Ein ordentliches deutsches Frühstück mit Brötchen, Wurst und Käse. Bei uns gab es, wenn überhaupt, ausschließlich Croissants mit Konfitüre und Milchkaffee oder ein Baguette. Jahrelang, tagaus tagein. Eigentlich hätte man trübsinnig werden müssen.«

Ich konnte es immer noch nicht fassen.

»Was machst du da?«

»Wonach sieht's denn aus, du Schlafmütze! Nun setz dich schon gefälligst hin! Möchtest du auch was von dem Rührei?«

Das hatte es ja noch nie gegeben! Trapper Geierschnabel als Küchenhilfe und ein Bettvorleger, der fortwährend nach meinem Hosenbein schnappte. Ich glaube, jetzt saß ich wirklich im falschen Kino.

Karl Brenner trat an meinen Platz, schüttete mir eine Holzfällerportion auf den Teller und setzte sich neben mich.

»Was liegt an, Leute?« fragte er aufgeräumt. »Kommt ihr alleine klar, oder soll ich helfen?«

»Du sollst erst mal gar nichts.«

Gleichzeitig stopfte ich mir sein Rührei mit Speck, Schinken, fein gehobelten Waldpilzen und jeder Menge Kräuter in den Hals. Himmel! Wenn der Kerl was konnte, dann war das kochen. Das schmeckte ja überirdisch!

»Geheimrezept«, schmunzelte er, als sich meine Portion dem Ende zuneigte.

»Ganz toll«, stöhnte Marianne.

»Das sollten Sie öfters für uns machen«, meinte Thomas und wischte sich demonstrativ mit einer Serviette über den Mund.

»Wann geht nochmal gleich dein Zug?« fragte ich beiläufig.

 

Ich prüfte gerade die wenigen eingegangenen Bestellungen, als Thomas im Büro auftauchte. Er schüttelte seinen nassen Regenmantel aus, denn draußen goss es immer noch wie aus Kannen. Frühling an der Mosel. Ich sollte meine Sachen packen und ans Mittelmeer ziehen. Am besten gemeinsam mit meinem Onkel. Der kannte dort unten anscheinend ein paar lauschige Plätzchen, wo man es sich richtig gut gehen lassen konnte. Robespierre stob schwanzwedelnd auf ihn zu. Thomas beugte sich nach unten und kraulte seinen Kopf.

»Was gibt's?« fragte ich ohne große Begeisterung.

Der Köter nervte, und die Auftragslage meiner Firma riss mich im Augenblick auch nicht gerade vom Hocker. Offenbar hatten sich unsere Probleme mit dem korkigen Wein in der Branche rasch herumgesprochen. Scheiß Internet!

Thomas kam gleich auf den Punkt.

»Die letzte Lieferung aus Girona war tatsächlich minderwertig. Mist, dabei haben die Spanier so einen guten Ruf. Ich werde mich mal in Portugal umhören. Da gibt es...«

»Vergiss Spanien und Portugal«, unterbrach ihn Marianne. Gleichzeitig erhob sie sich von ihrem Arbeitsplatz und schlenderte zu uns herüber. Robespierre schmiegte sich bei jedem Schritt an ihre Beine. E-kel-haft!

»Ich habe da eine Quelle in Norddeutschland aufgetan. Die bieten Kunststoffkorken zu einem geradezu sensationellen Preis an. Dann haben wir auch endlich keinen Ärger mehr mit korkigem Wein.«

Marianne schaute Thomas erwartungsvoll an. Unser studierter Önologe schnaubte verächtlich.

»Kunststoffkorken. Produzieren wir neuerdings Supermarktqualität, oder was?«

»Darum geht's nicht«, hob ich bedeutungsvoll an. »Es kann aber nicht sein, dass wir in einer Woche drei komplette Chargen zurücknehmen müssen und anschließend alles in den Gully kippen können.«

»Aber da mache ich nicht mit«, begehrte Thomas auf. »Kunststoffkorken. Sowas verwenden doch höchstens diese Limowein-Hersteller aus Kalifornien.«

»Du hast gehört, was der Boss gesagt hat. Korken aus Kunststoff, und Schluss!«

Ich wirbelte herum. Hinter mir war Karl aufgetaucht. Er ließ mich gar nicht erst zu Wort kommen. Und was sag ich? Der blöde Köter musste natürlich gleich anfangen zu knurren.

»Ich kenne das Problem mit korkigem Wein. Gerade bei uns im Süden kommt Sowas häufig vor. Jedenfalls ist es kompletter Unsinn zu behaupten, Kunststoff-Verkorkung würde auf geringe Qualität hinweisen. Das brauche ich dir als Fachmann doch nicht wohl zu erklären, oder?«

Er schmunzelte.

»Man muss ja nicht gerade Drehverschlüsse verwenden oder den Wein in Tetrapacks füllen.«

Thomas verschränkte beleidigt die Arme vor der Brust. Ich schaute meinen Onkel scharf an.

»Danke fürs Mitspielen, aber das hier ist meine Party. Wann ging nochmal gleich dein Zug?«

»Jetzt hör aber mal auf!« beschwerte sich Marianne. »Sei doch froh, dass Karl hier ist. So gut wie heute habe ich schon lange nicht mehr gefrühstückt.«

»Darum geht's aber nicht», brummte ich wenig versöhnlich vor mich hin.

Dafür machte Thomas überraschenderweise einen Rückzieher.

»Okay, okay, wenn ihr mich alle so lieb darum bittet. Dann schau'n wir mal, was dabei herauskommt. Aber macht mich hinterher bloß nicht dafür verantwortlich, wenn keiner mehr unseren Wein haben will.«

Er schnappte sich seine Jacke von der Garderobe, tätschelte kurz Robespierres Kopf und stapfte in den Regen hinaus.

»Na, also. Geht doch«, meinte mein Onkel.

Ich erhob mich und wies demonstrativ auf meinen Schreibtischsessel.

»Dann setz dich doch her, wenn du meinst, du könntest alles besser.«

Karl klopfte mir auf die Schulter.

»Blödsinn. Was du nur wieder denkst. Du machst das sehr gut. Ich bin richtig stolz auf dich, mein Junge.«

Ehe ich etwas entgegnen konnte, war er bereits wieder in der Küche verschwunden. Robespierre blieb allerdings im Büro zurück. Der blöde Köter hockte sich auf seine vier Buchstaben und ließ mich nicht einen Moment aus den wachsamen Knopfaugen. Marianne schlenderte zurück an ihren Schreibtisch. Ihre Schultern zuckten geradezu konvulsivisch.

Blödes Volk. Ich sag's ja immer: Chef sein, ist Scheiße. Aber, was red' ich.

 

Doch der Spaß hatte noch lange kein Ende. Kaum, dass ich mir eine Moods angezündet hatte und gleichzeitig nach meinem Aschenbecher suchte, den Marianne, die militante Nichtraucherin in meinem Laden, immer wieder erfolgreich vor mir zu verstecken gelang, klingelte mein Handy. Ich warf einen Blick aufs Display. Oha, Frau Berrenrath.

»Hallo, Sophia. Was gibt's?«

»Komm doch bitte mal vorbei«, meinte sie. »Aber ohne Lothar. Nora ist immer noch eingeschnappt.«

Ich senkte unwillkürlich meine Stimmlage.

»Was Neues von der Internetfront?«

»Kann man so sagen.«

»Okay, bis gleich.«

»Ach, ja, ehe ich es vergesse. Kannst du mich vor dem Rathaus auflesen? Der Segway tut's nicht.«

»Schon wieder der Akku?« seufzte ich. Dieser blöde Elektrostehroller war schließlich Sowas von schwer!

»Richtig geraten«, antwortete die alte Dame. »Ich muss wohl mal mit unserer Bürgermeisterin ein erstes Wort reden. Wir brauchen dringend eine Ladestation in Grafenstein. Alle reden von Elektromobilität, aber keiner tut was. Das ist doch auf Dauer kein Zustand!«

Ich stand auf, schob mich an Robespierre vorbei, der sofort böse zu knurren anfing und angelte mir meine Wellensteyn vom Garderobenständer. Gleichzeitig nickte ich Marianne zu.

»Bin mal kurz im Ort. Du hältst solange die Stellung?«

»Nimmst du mich mit?« ertönte eine Stimme aus dem Off.

Karl stand im Türrahmen. In vollem Trapper-Geierschnabel-Outfit. Sogar den Ledermantel hatte er bereits übergeworfen.

»Würde heute Abend quasi zur Feier des Tages gerne ein Daube de bœf zubereiten. Dafür brauche ich aber vernünftigen Rinderbraten. Ihr jungen Leute habt ja nie was Vernünftiges im Kühlschrank. In Grafenstein gibt es doch wohl einen Supermarkt, oder irre ich mich?«

»Was für eine Feier des Tages? Du wolltest doch längst unterwegs sein. Streikt etwa schon wieder die Bahn?«

»Daube?« mischte sich Marianne ein. »Etwa mit Ratatouille?«

Ein Lächeln huschte über Karls Gesicht.

»Wenn du möchtest. Aber dann muss mir jemand beim Gemüseputzen helfen. Ich kann schließlich nicht alles alleine machen. Bin halt keine Siebzig mehr.«

»Klar, helfe ich«, rief meine Bürohalbtagskraft begeistert. »Ich wollte heute sowieso Überstunden machen, und da könnte ich Ihnen anschließend in der Küche helfen.«

»Gern. Ich heiße übrigens Karl.«

»Weiß ich doch«, lächelte Marianne.

»Wieso Überstunden?« mischte ich mich ein. »Du bist doch sonst nicht so übereifrig.«

»Ich möchte am Wochenende genügend Zeit haben fürs Shoppen mit einer Bekannten. Am Freitag mache ich frei.«

»Mit einer Bekannten? Kenne ich die? Und was willst du überhaupt einkaufen? Du hast doch alles.«

Karl schüttelte den Kopf.

»Kann es sein, dass ihr zwei heimlich verheiratet seid, und keiner weiß was davon?«

Er erntete einen bitterbösen Blick und eine ziemlich erstaunte Miene.

»Okay, okay, war ja nur so ein Verdacht.«

 

Als wir das Büro verließen und über den Parkplatz hinüber zum Unimog hasteten, musste ich schon wieder an mich halten. Karl hatte darauf bestanden, Robespierre mitzunehmen. Er brauche angeblich seinen täglichen Auslauf. Und was machte der blöde Köter als erstes, als wir am Unimog ankamen? Er hob das Bein. Genau am Einstieg zur Fahrerkabine.

»Ja, geht's noch?« beschwerte ich mich, was Robespierre sofort ein grollendes Knurren aus seiner Kehle entlockte.

Kurz darauf konnte ich mir jedoch ein Grinsen nicht verkneifen. Der Köter stand vor der brusthohen Ladefläche und versuchte dreimal vergeblich hinaufzuspringen. Karl beugte sich nach unten, fasste ihn am Halsband und versuchte ihm beim Sprung zu helfen. Es misslang. Mein Onkel schaute auffordernd hoch.

»Nun steh hier nicht herum, wie ein Ölgötze, sondern pack gefälligst mit an!«

»Ich bin doch nicht lebensmüde«, meinte ich nur und deutete auf Robespierres gefletschten Zähne. »Glaubst du, ich möchte den Rest des Tages in der chirurgischen Notaufnahme verbringen?«

»Du bist aber auch ängstlich.«

»Ich bin nicht ängstlich. Dein Köter ist schlecht erzogen.«

»Nenn ihn nicht andauern Köter. Das hört er nicht gerne.«

Jetzt fletschte ich die Zähne.

»Ich dachte, der versteht nur Französisch.«

Als ich Hund und Herrchen weiterhin ratlos im Regen herumstehen sah, hatte ich ein Einsehen und deutete auf die Garage.

»Okay, nehmen wir in Gottesnamen den Kombi.«

Wir gingen in die Halle, ich öffnete den Kofferraum des uralten Volvo, und mit einem Sprung war Robespierre im Innern verschwunden. Und nicht nur das. Mit einem Satz war er anschließend auch über die Rücksitzbank gesprungen und hockte danach genau zwischen Fahrer- und Beifahrersitz. Weil dieser vierbeinige Flohsack zu allem Überfluss auch noch Anstalten machte, mir an Ort und Stelle am liebsten das rechte Ohr abzubeißen, wurde es mir zu bunt.

»Wenn der da hinten nicht gleich Ruhe gibt, dann brauchen wir gar nicht erst in den Supermarkt zu fahren«, warnte ich meinen Onkel. »Dann gibt's nämlich heute abend bei uns irischen Wolfshund. Und zwar entweder medium oder gut durch.«

Mein Onkel drehte sich nach hinten.

»Place! Tu es insupportable!«

Was sag ich? Der Köter rollte sich brav auf der Rücksitzbank zusammen und schloss sogar die sonst so wachsamen Augen.

»Er mag Autofahren«, erklärte mein Onkel.

»Wenigstens etwas«, brummte ich wenig begeistert und startete den Kombi.

 

~~~~~~~

 

Am Rathausplatz angekommen, stolperten wir als erstes über den Menschenauflauf vor dem Springbrunnen. Presse, Polizei, und eine ganze Reihe aufgebrachter Bürger hatten sich versammelt. Mittendrin ein Stand der Ultrarechten und ein paar Jugendliche, die eifrig Broschüren unter den Anwesenden zu verteilen versuchten.

Robespierre nahm sofort die schmale Rasenfläche vor dem Rathaus ins Visier, wo er gänzlich unbeeindruckt von den Umstehenden erst einmal ein fettes Ei ins Grün legte. Karl und ich schlenderten hinüber zu der Demo. Vor dem Stand der Nationaldemokraten, die sich bei uns etwas verschämt 'Bürgerinitiative Grafenstein' nannten, hatten sich überwiegend ältere Leute aus dem Ort eingefunden, um heftig gegen die Rechten im Allgemeinen und deren Wahlprogramm im Besonderen zu protestieren. Die Ortsgendarmerie versuchte indes vergeblich, etwaige aufgebrachte Gemüter zu beruhigen. Die Presse schoss wie üblich bei solchen Versammlungen eifrig Fotos.

»Erinnert mich an den Front National«, meinte mein Onkel. »Bei uns in Südfrankreich stehen die auch an jeder Ecke.«

Mein Blick wanderte zu dem Infostand der Braunen. Unter einem der beiden Sonnenschirme, die heute allerdings eher als Regenschutz dienten, stand Axel Schröder. Der fünfunddreißigjährige Eventmanager und seines Zeichens einziges Gemeinderatsmitglied der 'Bürgerinitiative' hatte Menschenmenge, Polizei, Presse und seine vier Helfershelfer allem Anschein nach gut im Griff. Jedesmal, wenn sich während seiner Hetzkampagne gegen unkontrollierten Ausländerzuzug, Islamisten und allgemeinen Sittenverfall Unmut in der Gruppe der Anwesenden regte, begannen die Jugendlichen lautstark irgendwelche kruden Parolen zu skandieren. Ich schaute genauer hin. Allem Anschein nach Schüler der Grafensteiner Realschule. Vom Alter her aus der neunten Klasse. Gregor würde begeistert sein.

 

»Sie wissen doch gar nicht, was Verfolgung bedeutet!« beschwerte sich lauthals ein älterer Mann.

Zustimmendes Gemurmel. Ein anderer mischte sich ein.

»So einen wie dich hätten 'se nach Buchenheim verfrachten sollen. Da hätts'te aber mal seh'n können.«

Erneut ging ein zustimmendes Raunen durch die Menge.

Schröder hob beschwichtigend die Arme.

»Aber, aber, liebe Mitbürger. Was hat denn meine Sorge um unsere Sicherheit hier in Grafenstein mit Verfolgung zu tun? Kein Mensch spricht hier von Ausweisung oder Asylverweigerung. Was ich allerdings nicht will, und da stehe ich gewiss nicht alleine...«

Weiter kam er nicht. Ein Mann mit hochrotem Kopf bahnte sich den Weg durch die aufgebrachte Menge. Ich brauchte nicht zweimal hinzuschauen. Gregor.

Weisz packte einen der Polizeibeamten am Ärmel und zerrte ihn förmlich vor den Informationsstand unseres örtlichen Rechtspopulisten. Anschließend baute er sich drohend vor den Jugendlichen auf. Schröder schenkte er nicht mal einen flüchtigen Blick.

»Was treibt ihr hier? Ihr habt gleich Unterricht. Also packt eure Sachen zusammen und ab in die Schule!«

»Sie haben uns gar nichts zu sagen«, beschwerte sich einer der Jugendlichen.

»Penne ist doch Scheiße«, meinte ein anderer. »Erst recht Ihr Geschichtsunterricht. Ist doch sowieso alles gelogen.«

Weisz schien ehrlich aufgebracht.

»Ihr habt gehört, was ich gesagt habe. Los jetzt!«

»Reaktionäres Arschloch«, rief eine Stimme, als sich Weisz gerade zu dem Polizisten umdrehte.

»Wer war das?«

»Suchen Sie sich doch einen aus«, meinte das einzige Mädchen in der Gruppe und grinste frech.

Karl steckte zwei Finger zwischen die Lippen und ließ einen kurzen Pfiff ertönen. Keine fünf Sekunden später hockte Robespierre neben ihm. Ich sah meinen Onkel fragend an.

»Sicher ist sicher«, meinte er nur.

Schröder kam hinter seinem Info-Stand hervor und baute sich drohend vor Weisz auf.

»Das habe ich gerne. Vor ein paar Jahren Jahren noch dem Honecker mit bunten Fähnchen zugejubelt und jetzt unseren Kindern was von Demokratie erzählen wollen. Verschwinden Sie doch nach Vorpommern. Die roten Säcke dort warten die doch nur auf so Typen wie Sie.«

Zustimmendes Gejohle bei den Jugendlichen, Gemurmel unter den Erwachsenen. Weisz drehte sein Gesicht zur Menge.

»So etwas muss ich mir nicht bieten lassen, meine Herrschaften. Und Sie auch nicht. Bereiten Sie dem ein Ende. Leute wie Axel Schröder und seine braune Bande...«

Weiter kam er nicht. Schröder sprang vor und packte Weisz am Mantelkragen.

»Pass mal gut auf, Freundchen! Was hast du da gerade gesagt? Sag das nochmal.«

Breitenbach, unser Dorfsheriff, bemerkte zwar die Auseinandersetzung zwischen den beiden Männern, schritt jedoch nicht ein. Sein Kollege hielt sich ebenfalls zurück. Weisz packte die Hände seines Kontrahenten und streifte sie ab.

»Fassen Sie mich nicht an!«

Mein Onkel drehte sich zu mir um.

»Wer ist der andere Kerl?«

»Der sich da so aufregt? Gregor Weisz, unser Realschulrektor.«

Karl schaute mich nachdenklich an.

»Kennst du den näher?«

Ich nickte.

»Ein guter Freund des Hauses.«

Mein Onkel atmete tief durch. Ich runzelte die Stirn.

»Passt dir was an ihm nicht?«

Karl blieb mir eine Antwort schuldig und deutete stattdessen auf die beiden Streithähne. Schröder grinste breit und gesellte sich zu Weisz' Schülern.

»Macht mal Schluss für heute! Ihr habt gehört, was euer Rektor gesagt hat. Keine Widerrede. Ab in die Schule! Wir sehen uns später.«

Die Angesprochenen zögerten keine Sekunde. Wortlos packten sie ihre Sachen zusammen und waren im nächsten Augenblick von der Bildfläche verschwunden.

»So geht Pädagogik, Herrschaften. Da muss man nicht lange herum lamentieren wie andere hier.«

»Von Pädagogik haben Sie doch überhaupt keine Ahnung«, rief Weisz. »Sie sind doch nichts anderes als ein Scharlatan. Und jetzt machen Sie sich auch noch an unsere Kinder heran.«

Die Stimmung in der Menge schlug um. Mehrere Leute winkten ab und verließen demonstrativ die Versammlung. Es vergingen kaum zwei Minuten, da wirkte der Platz vor dem Rathaus beinahe wie ausgestorben.

»Na, Genosse Weisz«, frotzelte Schröder. »Das war ja wohl nichts.«

Sein anschließendes Lachen klang so hämisch, dass ich ihm am liebsten eine reingehauen hätte. Mann, war der Kerl widerlich! Weisz bemerkte mich, hob kurz die Hand und kam auf mich zu. Im Hintergrund packte Schröder in aller Seelenruhe seinen Infostand zusammen. Mir fiel gar nicht auf, dass Karl seinen Hund am Halsband packte und von uns wegzog.

»Grüß dich, Hagen. Tut mir leid, aber ich muss gleich wieder weg. Ich habe noch Unterricht.«

Ich nickte.

»Irgendwas Neues?« fragte ich beiläufig.

Er schaute mich verblüfft an. Sein Blick wanderte für einen kurzen Moment hinüber zu Schröder.

»Ach so, du meinst wegen der Sache mit MyHistory. Nein, nichts Neues.«

Da er die in Umlauf gebrachte Mail mit den getürkten Bildern von sich aus nicht ansprach, beließ ich es dabei.

 

Abgang Weisz, Auftritt Miss Sophie. Ich kam mir langsam vor wie im Staatstheater. Applaus, Vorhang, nächster Akt.

Sophia warf mir einen fragenden Blick zu.

»Was war denn hier gerade los?«

Ich winkte ab.

»Nichts Besonderes. Mini-Demo einer örtlichen Splitterpartei.«

»Schröder?«

Ich nickte.

Sophia deutete auf Karl, der sich immer noch abseits aufhielt. Irgendwie schien sie bemerkt zu haben, dass wir zusammengehörten.

»Und wer ist dieser Herr?«

Wie auf Kommando schlenderte mein Onkel herbei. Mit dem typischen Humphrey-Bogart-Schmunzeln aus Casablanca auf den Lippen. Als Rick Blaine beim Einmarsch der Deutschen in Paris mit einem Champagnerglas in der Hand seiner Ilsa erklärt, er schaue bloß mal wieder in ihre Augen.

»Ich bin Karl Brenner, Hagens Onkel.«

Sophia runzelte die Stirn. Und, was sag ich? Im gleichen Moment huschte Robespierre aus dem Orcus heran und schmiegte sich demonstrativ an ihr rechtes Bein.

»Von einem Onkel hast du mir noch nie was erzählt.«

»Ich habe ihn auch erst gestern nach dreißig Jahren zum ersten Mal wiedergesehen«, antwortete ich wahrheitsgetreu.

Zum ersten Mal, seit ich Miss Sophie kannte, erlebte ich sie ehrlich verblüfft.

»Ist eine längere Geschichte«, meinte mein Onkel. »Hagen wird sie Ihnen bestimmt irgendwann mal in einer stillen Stunde erzählen. Aber was anderes: Dürfen wir Sie vielleicht irgendwohin begleiten?«

Gleichzeitig lupfte er seinen Hut und verbeugte sich dabei wie d'Artagnan vor der französischen Königin. Oh, nein! Eine Liaison unter künftigen Pflegeheimbewohnern fehlte mir noch zu meinem Glück. Ich würde mich gleich nach meiner Rückkehr ins Büro an den PC hocken und sämtliche Zugverbindungen heraussuchen. Hauptsache, das Fahrtziel lag mindestens fünfhundert Kilometer von Grafenstein entfernt.

»Wolltest du nicht in den Supermarkt?« fuhr ich ihm in die Parade.

Er ging auf meinen Einwand gar nicht erst ein.

»Kommen Sie doch zum Abendessen vorbei. Hagen hat bestimmt nichts dagegen, oder? Ich brauche übrigens etwas Geld, mein Junge.«

»Ich weiß nicht recht...«, antwortete Miss Sophie sichtlich verlegen.

Jetzt fehlte nur noch, dass Sophia Amalie Berrenrath rot geworden wäre und wie ein pubertierender Backfisch zu stammeln begonnen hätte. Ehe es tatsächlich noch soweit kam, schob ich die alte Dame vorsichtshalber zum Volvo, wuchtete den Segway auf die Ladefläche und drückte meinem Onkel ein paar Geldscheine in die Hand. Robespierre witterte gleich wieder einen tätlichen Angriff. Knurrend fletschte er die Zähne.

»Und du hältst gefälligst die Schnüss, wenn sich Erwachsene unterhalten!«

Zack, und meine Jeans hatte zwei Gebissabdrücke mehr im rechten Hosenbein.

»Fini!« rief mein Onkel. »C'est un ami!«

Robespierre wandte sich voller Verachtung von mir ab. Vermutlich fehlte wirklich nicht viel, und er hätte demonstrativ das Bein an mir gehoben.

 

»Macht einen netten Eindruck, dein Onkel«, meinte meine Beifahrerin, als wir uns auf den Weg in Richtung Neubauviertel machten.

»Ach was«, brummte ich und starrte missmutig durch die Windschutzscheibe. »Da bist du aber die Einzige, die so denkt.«

Ein flüchtiges Lächeln huschte über Sophias Gesicht.

»Was hast du denn gegen ihn?«

Ich bemühte mich, weiterhin stur geradeaus zu schauen.

»Er taucht nach dreißig Jahren urplötzlich bei mir auf und fängt sofort an, mein Leben durcheinander zu bringen.«

»Wie das denn?«

Ich winkte ab.

»Lass mal. Das ist eine lange Geschichte. Am schlimmsten aber ist der Köter.«

»Der irische Wolfshund? Wieso? Der ist doch brav.«

»Dann nimm die Beiden doch von mir aus in deiner WG auf!« platzte es aus mir heraus.

Sophia hüllte sich in Schweigen. Gleichzeitig lächelte sie nachsichtig und machte es sich wohlig im Beifahrersitz des Volvo bequem. Oh, nein! Warum um alles in der Welt konnte ich nicht für einen Moment meine Klappe halten.

 

~~~~~~~

 

Eine Viertelstunde später hockte ich erneut in Käpt'n Jack Sparrows Kapitänskajüte.

»Nun lass mal hören, was du inzwischen herausbekommen hast.«

»Sei nicht so ungeduldig«, rügte mich die alte Dame. »Dein Onkel braucht bestimmt noch eine ganze Weile im Supermarkt.«

Sie ging zur Kommode, öffnete eine der Türen, nahm eine Flasche Calvados und einen Cognacschwenker heraus und goss mir einen kleinen Schluck ein. Schließlich musste ich ja noch fahren. Anschließend griff sie nach der berüchtigten Holzschatulle mit den unerlaubten Rauchwaren. Wenige Augenblicke später roch es in meiner Umgebung mal wieder wie in einer orientalischen Opiumhöhle. Ich schüttelte den Kopf.

»Dass du mal Grundschullehrerin warst.«

»Herrje, wie oft muss ich das denn noch sagen?« erwiderte sie ohne jede Verlegenheit. »Ist nur wegen meiner Arthritis. Aber jetzt mal Tacheles. Also, die Bilder auf der Webseite bei MyHistory wurden irgendwo in der Nähe von Neuss aufgenommen. Wie ich das herausgefunden habe, möchtest du wissen? Die Bilder wurden ganz offensichtlich mit einem Smartphone neuester Bauart geschossen. Da das Smartphone über GPS verfügt, wurden automatisch auch die Positionsangaben in der Bilddatei festgehalten.«

Ich nippte an meinem Cognacschwenker.

»Und was haben wir davon?«

»Hör erst mal weiter zu, Bub. Die ursprünglichen Bilder stammen von der Facebook-Seite eines gewissen Bernd Düsing. Anscheinend ein Freund skuriler Partyfotos. Jedenfalls erfreut sich Düsings Facebook-Auftritt regen Interesses.«

Ich zog die Stirn in Falten.

»Wie hast du das denn schon wieder herausgefunden? Hast du etwa zigtausend Facebookauftritte kontrolliert?«

Miss Sophie verzog nicht die Spur eine Miene.

»Es gibt da diverse Computerprogramme...«

Sie unterbrach sich und führte den Glimmstängel erneut zwischen ihre Lippen. Als sich endlich der Qualm um ihr Gesicht verzog, lächelte sie nachsichtig.

»Lassen wir das. Details willst du vermutlich gar nicht wissen. Jedenfalls wurden ein paar von Düsings Bildern benutzt, um sie mit einem Bildbearbeitungsprogramm zu verfälschen. Solche Programme erhältst du beinahe monatlich als CD-Beigabe in einschlägigen Fachzeitschriften. Übrigens, eine gute Arbeit. Da hat sich jemand richtig Mühe gegeben. Erst bei erheblicher Vergrößerung werden die Schnittkanten an den Gesichtsrändern sichtbar. Für einen Laien sieht es tatsächlich so aus, als wären das Originalaufnahmen von Gregor Weisz.«

Ich überlegte einen kurzen Augenblick.

»Jetzt mal ganz langsam zum Mitschreiben. Wir haben einen gewissen Bernd Düsing, seinen Facebook-Auftritt und Bilder von Saufgelagen, die irgendwo im Oktober am Niederrhein entstanden sind und anschließend von wem auch immer getürkt wurden. Wenn Gregor beweisen kann, dass er sich zum fraglichen Zeitpunkt nicht in der Umgebung von Neuss aufgehalten hat, dann dürfte er doch wohl raus aus der Sache sein.«

Ich atmete tief durch.

»Und ich statte dem feinen Herrn Düsing mal einen freundlichen Besuch ab und frage ihn, was ihn dazu bewogen...«

 

Miss Sophie schnitt mir mit einer kurzen Handbewegung das Wort ab.

»Bisher ist allenfalls bewiesen, dass Düsing Fotos von irgendwelchen Partys auf seiner Seite bei Facebook gepostet hat. Jeder, der Zugang zu Düsings Facebook-Auftritt besitzt, kann sich die Bilder per Mausklick herunterladen und für seine eigenen Zwecke verwenden. Das ist ja das Perfide an diesen sozialen Netzwerken. Jeder, auch Weisz selber, könnte Urheber der anschließend verfälschten Bilder sein.«

»Aber das ergibt doch keinen Sinn.«

»Natürlich ergibt es keinen Sinn, dass ausgerechnet ein Realschulrektor solche Aufnahmen und dann auch noch unter seinem richtigen Namen veröffentlicht. Der Punkt ist, dein Freund muss beweisen, dass er nichts mit der Seite bei MyHistory zu tun hat. Erst dann ist er raus aus der Nummer. Das wird ihm allerdings schwerfallen, denn er hat sich ja dort bereits als 'Minnie Maus' registrieren lassen, sofern ich dich richtig verstanden habe. Dass die Leute auch immer so voreilig sein müssen...«

Sie unterbrach sich erneut und deutete auf mein Glas.

»Du trinkst ja gar nichts. Möchtest du lieber einen Espresso?«

Ich schüttelte den Kopf.

»Mir geht etwas anderes durch den Kopf. Solche Fotos zu schießen und anschließend im Internet zu veröffentlichen, ist ja an sich nicht strafbar. Höchstens ein Zeichen von Blödheit, weil man es anschließend einigermaßen schwer haben dürfte, noch einen vernünftigen Job zu bekommen. Jeder Personalchef checkt schließlich als erstes die sozialen Netzwerke, wenn er sich über den Lebenswandel eines Bewerbers informieren will. Die Konsequenzen für Gregor wären geradezu fatal. Er ist schließlich Realschulrektor. Den Job in Grafenstein wäre er mit einem Schlag los, und woanders würde er auch keine Anstellung mehr bekommen, sollte das jemals publik werden.«

Sophia nickte.

»Du hast es erfasst. Hier geht es nicht mehr bloß um simples Mobbing. Jemand möchte unseren Realschulrektor loswerden. Und zwar für immer und ewig. Die eigentliche Frage müsste demnach lauten: Wer steckt dahinter und kann man ihn oder sie bremsen?«

»Na, seine Schüler. Die haben doch schon seit langem einen Rochus auf Gregor.«

Miss Sophie winkte ab.

»Glaube ich nicht.«

»Und was macht dich da so sicher?«

»Sonst würden die Bilder längst per Email oder WhatsApp die Runde machen. Man kennt Sowas von Mobbing-Videos, die auf Schulhöfen gedreht werden.«

Ich schaute die alte Dame nachdenklich an. Wie ich Miss Sophie einschätzte, hatte sie sich längst in die entsprechenden Accounts der üblichen Verdächtigen eingeloggt und dort nach dem Rechten gesehen.

»Gegen dich war die Stasi ein Dilettantenverein«, rutschte mir heraus.

Sophia schmunzelte.

»Zum Glück gab's damals ja auch noch kein Internet. Aber danke für die Pralinen.«

Miss Sophie sollte man also besser nicht zum Gegner haben. Sonst zog man besser in eine andere Stadt, ein anderes Land oder gleich auf einen fremden Planeten.

 

»Ich habe mich im Netz ein bisschen über diesen Bernd Düsing informiert«, fuhr sie schließlich fort. »Düsing pflegt regen Kontakt zur braunen Szene. Vorrangig zur Borussen-Kameradschaft. Ein ganz übler Verein. Der Staatsschutz ist schon seit Jahren dabei, diesen alteingesessenen Nazi-Klub verbieten zu lassen, bisher allerdings mit wenig Erfolg.«

Mir schwante Übles.

»Meinst du, Schröder steckt mit denen unter einer Decke?«

»Könnte sein, aber so dumm, bei denen unmittelbar in Erscheinung zu treten, ist der nicht. Unsere braunen Freunde im mittleren und gehobenen Parteimanagement haben dazugelernt. Die Drecksarbeit, das tumbe Grölen auf den Straßen, die Demonstrationszüge, das übernehmen für Leute wie Schröder inzwischen bezahlte Lakaien und deren Mitläufer. Aber mir ist was anderes aufgefallen. Einer von Düsings sogenannten 'Freunden' auf Facebook ist kein Geringerer als Max Balfelder.«

»Das glaube ich jetzt nicht!«

»Darfst du aber. Der Sohn unserer hochverehrten Bürgermeisterin scheint überdies ein besonders glühender Verehrer der Borussen-Kameradschaft zu sein. Ausgerechnet Max Balfelder, dessen Urgroßvater dem Vernehmen nach im Dritten Reich in ein Konzentrationslager gesteckt worden war.«

»Aus welchem Grund?« wollte ich wissen.

»Mitglied im Spartakusbund. Sowas kam bei den Nazis damals überhaupt nicht gut an.«

»Und was sagen die Balfelders dazu?«

»Entweder ahnen die überhaupt nichts von der politischen Gesinnung ihres Sprösslings, oder sie haben, wie zahlreiche andere Eltern auch, längst das Handtuch geworfen.«

Ungläubig schüttelte ich den Kopf.

»Aber doch nicht Max Balfelder. Du kennst ihn doch auch. Immer topp gekleidet, gute Manieren, angeblich ein sehr guter Schüler, wie ich von Gregor erfahren habe. Mitglied der Basketballmannschaft. Demnächst soll er aufs Gymnasium gehen. Und ausgerechnet der soll Mitglied bei den Neonazis sein?«

»Intelligenz, sportliche Erfolge, gute Manieren und gepflegtes Äußeres korrelieren nicht unbedingt mit der politischen Gesinnung des Betroffenen.«

 

Sophia zog ihr Tablet hervor und tippte ein paar Mal auf dem Bildschirm herum. Anschließend lächelte sie zufrieden.

»Gute Nachrichten?« fragte ich höflicherweise.

»Der Termin für die nächste Pokerrunde ist geplatzt. Passt eigentlich gut, sofern die Einladung zum Abendessen noch gilt.«

Ich glaubte, meinen Ohren nicht zu trauen. Miss Sophie war in solchen Dingen eigentlich die Zurückhaltung in Person. Die alte Dame bemerkte meine Verblüffung.

»Oder ist dir meine Anwesenheit nicht recht?«

»Nun hör aber mal auf!« hörte ich mich aufbrausen. »Gegen sieben Uhr hole ich dich ab.«

War ich eigentlich noch bei Trost?

»Fein«, meinte die alte Dame. »Ich freue mich.«

Sie warf mir einen auffordernden Blick zu. Dem Vernehmen nach war die Unterhaltung damit wohl vorbei.

»Und was machen wir jetzt?« wollte ich trotzdem noch wissen.

»Jetzt warten wir erst einmal ab, wie sich alles entwickelt. Keinesfalls sollte jemand von uns oder Weisz selbst in irgendeiner Weise die Initiative ergreifen. Der Ball liegt immer noch im gegnerischen Feld. Mir kommt das ganze ohnehin so vor, als wolle man den Weisz bloß aus seiner Ecke holen. Denn sonst würde die Balfelder-Mail nämlich längst durch halb Grafenstein kursieren.«

Miss Sophie erhob sich demonstrativ.

»Tut mir leid, mein Junge, aber jetzt habe ich meine wöchentliche Chatrunde. Also dann bis sieben Uhr. Und sei bitte pünktlich.«

Verbeugung, Abgang, Kulisse hinten rechts.

So war sie halt, unsere Sophia Amalie Berrenrath.

 

 

 

 

Kapitel 5

 

 

Wir hockten bei Tuttifrutti beisammen und genehmigten uns zur Abwechslung mal einen Pinot Noir, picobello serviert von den beiden rumänischen Schönheiten. Wir, das heißt ich, mein Onkel, Ballensiefen und, wie sollte es anders sein, der Leichenschänder, der in letzter Zeit geradezu einen siebten Sinn für derartige Zusammenkünfte entwickelt zu haben schien. Jedenfalls war der inzwischen überall dabei, wo man ihn gerade brauchte oder auch nicht. Vielleicht lag es aber auch an den Rundungen gewisser osteuropäischer Schönheiten, die unseren Totengräber neuerdings die Vorzüge von Ballensiefens Yachthafen-Restaurant noch intensiver zu schätzen ließ.

Sechster im Bunde war natürlich Robespierre. Der wandelnde irische Bettvorleger lag breit ausgestreckt vor Tuttifrutti und genoss hingebungsvoll dessen Streicheleinheiten. Seine wachsame Knopfaugen waren einzig und allein auf mich gerichtet. Rührte ich mich in meinem Sessel, dann konnte man aber was erleben. Aufgerichtetes Nackenhaar, Grollen aus tiefster Kehle und breit entblößte Zahnreihen. Ich musste jetzt endlich mal ein ernstes Wörtchen mit meinem Onkel reden. So ging das auf Dauer wirklich nicht mehr weiter mit seinem Köter. Hallo? Hatte ich mich richtig verstanden? Hatte ich gerade wirklich 'auf Dauer' gedacht?

 

»Und ihr seid tatsächlich miteinander verwandt?«

Ballensiefen konnte es immer nicht nicht fassen. Jetzt kannte er mich beinahe fünf Jahre und wusste anscheinend immer noch nicht alles über mich. Eine Schande für einen Gastwirt.

Karl nickte bloß.

»Und ihr habt euch seit dreißig Jahren nicht gesehen? Wahnsinn!«

Lanzerath schnaubte verächtlich.

»Glaub mir, die Zeit wird kommen, da wirst du froh sein, wenn Julia...«

»Hör mir auf mit Julia!« rief Ballensiefen. »Ich weiß inzwischen nicht mehr, was mit der Göre los ist.«

Lanzerath tätschelte Ballensiefens Arm.

»Wie lautet doch noch gleich das Sprichwort: Pubertät ist, wenn die Alten anfangen zu spinnen.«

»Was ist denn mit Ihrer Tochter los?« mischte sich mein Onkel ein.

Ballensiefen schüttelte den Kopf.

»Nur noch Chillen, Abhängen und Geldausgeben im Kopf. Schule? Gibt's das auch als App? Möchte wissen, wie Julia es anstellt, im Sommer versetzt zu werden. Ich möchte, dass sie demnächst aufs Gymnasium geht. Mit dem Notendurchschnitt schafft die das allerdings nie.«

»Was meint ihr Klassenlehrer?«

Ballensiefens Gesicht verfärbte sich.

»Du meinst den Weisz? Seit der Geschichte mit den Reifen ist mit dem doch kein vernünftiges Wort mehr zu wechseln.«

Ich warf Lanzerath einen warnenden Blick zu. Das hätte noch gefehlt, wenn der jetzt hier vom angeblichen Mobbing seiner Schüler angefangen hätte zu palavern. Ballensiefen starrte missmutig vor sich hin.

»Julia muss zusehen, dass sie halt irgendwie von der Fünf in Mathe runterkommt. Dann hat sie vielleicht doch noch eine reelle Chance auf ein halbwegs gutes Abschlusszeugnis.«

Julia war bestimmt nicht der Typ Tochter, der bei mir Stürme der Begeisterung auslöste, aber ich konnte ja vielleicht tatsächlich mal mit Gregor reden. Kurze Zeit später verwarf ich diesen Gedanken jedoch genauso schnell, wie er mir gekommen war. Im Hintergrund flog eine Tür auf.

Lanzerath erfasste die Situation als Erster.

»Haste mal 'n Hunni?« kicherte er halblaut vor sich hin.

 

Mozarts Zauberflöte. Auftritt Königin der Nacht. Und zwar in Armani-Jeans, Valentino Kitten Heels, Matthew Williamson Top und XXL-Ohrringe der Marke Vati-abgezockt-dot-com. Konservativ geschätzt kam ich auf ein Austauschgetriebe für meinen Unimog samt Kupplung und neuer Hydraulik. Jedenfalls war Julias Outfit mit Sicherheit kein Fall für Shopping im Fashion Outlet auf der grünen Wiese. Das war inzwischen Mailand pur.

Julia würdigte uns keines Blickes. Stattdessen baute sie sich gleich vor Papa Bär auf.

»Hansi, Max und die Kiki fahren über Pfingsten nach Südfrankreich.«

Diese Ansage ließ sie erst mal ganz locker flockig im Raum stehen. Zeit genug für die Vierzig-plus-Generation, sich mit dem tieferen Sinn ihrer flappsigen Bemerkung auseinanderzusetzen.

»Was soll das heißen?« fragte Ballensiefen.

Julia ließ ihre rot lackierten Fingernägel aufschnappen, dass jedes Leopardenweibchen blass geworden wäre vor Neid.

»Dass ich über Pfingsten auch nach Südfrankreich will.«

»Wohin genau?«

Julia hob indigniert die rechte Augenbraue und deutete gleichzeitig mit ihrem nackten Finger auf meinen etwas unkonventionell gekleideten Sitznachbarn.

»Wer ist denn der Komiker?«

»Ich bin Karl«, lächelte der 'Komiker'.

Ehe Ballensiefen überhaupt eine Chance bekam, Einwände welcher Art auch immer vorzubringen, sprudelte Julia in ihrem jugendlichen Leichtsinn gleich munter drauflos.

»Wir wollen nach Collioure. Das liegt an der spanischen Grenze. Kikis Vater besitzt da eine Ferienwohnung. So toll sein, da unten. Sonne, Strand, geiles Leben. Abhängen, bis der Arzt kommt. Abends in die Disco. Etcetera.«

»Ach was«, staunte der Totengräber.

»Mit 'ner Fünf in Mathe und Geschichte«, platzte es bedauerlicherweise aus mir heraus.

Julias Augen sprühten Funken wie die Radreifen eines ICE bei einer Notbremsung.

»Wer hat dich überhaupt gefragt?«

Der alte Herr rettete die Situation. Karl schenkte dem Mädchen ein breites Großvater-Lächeln und zog sie auf einen freien Stuhl. Erst jetzt bemerkte Julia dessen Hund und beugte sich vor, um ihn zu streicheln. Robespierre gab jedoch gegen alle Erwartungen nur ein kehliges Grollen von sich. Julia zuckte zurück. Zum ersten Mal war mir dieser bellende Flohzirkus richtig sympathisch.

»Collioure?« meinte Karl und kratzte sich am Hinterkopf. »Himmel, was willst du denn da? Außerhalb der Saison ist dort unten doch nichts los. Okay, Saint-Tropez, da kannst du über Pfingsten hinfahren. Aber doch nicht in dieses gottverlassene Nest in der Pampa. Pyrenäen, mein Kind. Schon mal gehört? Das Aufregendste, was es da gibt, sind Ziegenherden und Schafe. Ich an deiner Stelle würde die Bekannten wechseln. Die wollen dich wohl auf den Arm nehmen.«

Julia kniff das rechte Auge zusammen.

»Woher wollen Sie das denn wissen?«

»Ich komme gerade von dort, mein Herz. Ich wohne seit fast zwanzig Jahren in der Provence. Die Gegend dort unten kenne ich, sagen wir mal, wie meine Westentasche. Wie wollt ihr überhaupt dorthin kommen?«

Julias anfänglicher Enthusiasmus schmolz wie Butter in der Sonne. Jegliche Überheblichkeit war mit einem Schlag aus ihren sonst eher spöttischen Mundwinkeln verflogen.

»Mit dem Zug«, meinte sie zögernd.

»Du bist ja nicht bei Trost«, prustete Karl drauflos. »Mit dem Zug quer durch ganz Frankreich? Ich glaube ja es nicht. Umsteigen in Köln, Paris und Marseille. Stickige Abteile, sofern man überhaupt einen Sitzplatz ergattert. Ich könnte mir Schöneres vorstellen. Wieso fahrt ihr nicht mit dem Auto?«

Ballensiefen sog deutlich die Luft durch die Zähne. Julia hingegen wurde immer kleinlauter.

»Dazu sind wir noch nicht alt genug.«

»Aber alt genug, um alleine in der Weltgeschichte herumzugondeln«, juchzte der Totengräber vor Vergnügen.

Julia warf ihm einen vernichtenden Blick zu.

»Macht ja nichts«, meinte mein Onkel. »Warte einfach, bis du den Führerschein hast. Aber Collioure? Ohne die Möglichkeit, sich wenigstens ein bisschen die Gegend anzusehen? Glaube mir, jede Landtagssitzung ist aufregender.«

Julias Miene wechselte zwischen enttäuscht, verunsichert und stinksauer. Zum Schluss entschied sie sich wie erwartet für not amused.

»Sie wollen doch auch bloß alles mies machen!« schimpfte sie drauflos. »Blödes Volk. Mit euch kann man ja sowieso nicht reden.«

Lanzerath hielt demonstrativ seine Hand ans rechte Ohr.

»Wie meinen? Du hast mich doch überhaupt nicht gefragt.«

»Mich auch nicht«, pflichtete ich dem Totengräber bei.

»Was können wir denn dafür, wenn du dich nicht richtig informierst«, beschwerte sich ihr Vater.. »Wozu gibt's das Internet? Du weißt schon: Computer einschalten, Browser anklicken...«

Weiter kam er nicht. Nofretetes Fluch folgte auf dem Fuße.

»Das ist doch alles Scheiße hier! Alles wird einem mies gemacht. Wäre ich damals bloß mit Mama nach Gomera gegangen.«

Karl lachte schon wieder laut auf.

»Ich höre wohl nicht recht! Ausgerechnet Gomera? Tausend durchgeknallte Hippies, die meinen, vor dem nächsten drohenden Weltuntergang noch schnell den Weg zum eigenen Ich zu finden? Liebe Güte! Du weißt ja nicht, wovon du sprichst.«

»Ach, Gomera kennen Sie also auch«, fauchte Julia.

»Klar«, schmunzelte mein Onkel. »Der Trampdampfer, der mich damals von Bremerhaven aus in Richtung Süden mitnahm, hatte ausgerechnet auf Gomera Maschinenschaden. Zwei Monate saß ich dort fest. Fortwährend dreißig Grad im Schatten, Wasserknappheit, ständig Staub entweder aus Nordafrika oder von den Vulkanbergen. Glaube mir, ein Aufenthalt in Guantanamo ist Strandurlaub dagegen.«

Dabei schenkte er ihr ein geradezu entwaffnendes Großvaterlächeln.

»Ach, scheiß doch der Hund drauf!« war das Letzte, was wir an diesem Tag noch von Julia zu hören bekamen. Danach krachte die Tür ins Schloss.

»Kein Benehmen«, rief ihr Lanzerath hinterher.

Allerdings nur halblaut. Unser Totengräber wollte lieber kein unnötiges Risiko eingehen.

Ballensiefen atmete tief durch.

»Das war knapp, Leute. Ihr habt was bei mir gut.«

»Warst du eigentlich jemals auf Gomera?« wollte ich von meinem Onkel wissen.

Karl runzelte die Stirn. Doch seine Augen blitzten vergnügt.

»Auf Gomera? Keine Spur. Wo liegt das überhaupt?«

 

Wir waren gerade erst beim zweiten Glas Wein angelangt, was unsere Stimmung also mitnichten irgendwelche Wellen schlagen ließ, als mein Handy in der Hosentasche zu randalieren begann. Ich zog es aus der Tasche. Das Display zeigte 'Unterdrückte Rufnummer' an.

»Brenner.«

Im Hintergrund hörte ich undeutliches Stimmengewirr.

»Ja, was denn nun?« fragte ich wenig begeistert.

Schließlich meldete sich eine Stimme. Sie klang gehetzt. Gregor.

»Wo steckst du?«

Ich kniff die Augenbrauen zusammen.

»Beim Ballensiefen. Wir warten gerade aufs Essen. Soll ich dir einen Platz freihalten?«

Erneut Gemurmel im Hintergrund. Gregors Stimme wurde leise. Sie klang geradezu verschwörerisch.

»Du bist in Grafenstein? Ein Glück. Kannst du bitte schnell mal vorbeikommen? Ich brauche deine Hilfe. Bei mir brennt die Hütte.«

Ich überlegte. Eigentlich wartete ich aufs Essen. Gestern musste ich schon wegen Karls überraschendem Auftauchen auf mein Wildschwein verzichten. Heute stand Lammcarrėe auf Ballensiefens Speisezettel. Das wollte ich mir auf keinen Fall durch die Lappen gehen lassen.

»Rauf nach Salmfeld? Das wird dauern, alter Freund. Aber wenn es brennt, warum rufst du nicht die Freiwillige Feuerwehr?«

Weisz wurde ungeduldig.

»Doch nicht nach Salmfeld. Ich bin in der Schule. Hier ist der Bär los, kann ich dir flüstern!«

Die anderen bei mir am Tisch horchten auf.

»Was hat er denn, unser Studiosus?« lästerte der Totengräber.

»Braucht er etwa Hilfe bei der Aufsicht?« knurrte Ballensiefen.

Im gleichen Moment erschienen die beiden rumänischen Schönheiten und stellten dampfende Teller vor jedem von uns ab.

»Danke«, murmelte ich.

»Gerne geschehen«, antwortete Olga.

Wie sie hieß, hatte ich inzwischen herausgefunden. Und dass sie aus Siebenbürgen stammte. Ihre Eckzähne waren jedoch zum Glück unauffällig. Sowas hätte uns in Grafenstein noch gefehlt!

»Kommst du also?«

Die Stimme meines Freundes klang geradezu flehentlich.

Ich seufzte und legte demonstrativ meine Serviette beiseite.

»Okay, okay. Bin schon unterwegs.«

»Was ist denn jetzt schon wieder los?« wollte Ballensiefen wissen.

»Termine, Termine«, meinte ich nur und deutete auf meinen Teller. »Schick mir den Teller per UPS nach Hause. Du weißt schon.«

 

~~~~~~~

 

Zehn Minuten später erreichte ich das Eingangsportal der Realschule. Als ich wenige Augenblicke später durch die Eingangstür stürmen wollte, lief ich einem Uniformierten in die Arme. Breitenbach, unser Dorfsheriff. Wir hatten bereits zweimal das Vergnügen miteinander. Einmal anlässlich einer Auseinandersetzung mit zwei Betrunkenen auf dem Weinfest, ein anderes Mal wollte er mich angeblich mit achtzig Sachen in der Ortschaft geblitzt haben. Ausgerechnet mit dem Unimog, von dem alle Welt wusste, dass der selbst bei Rückenwind kaum siebzig Stundenkilometer schafft. Jedenfalls waren wir beiden nicht gerade die besten Freunde.

»Nicht so schnell, Brenner. Hier findet im Augenblick eine polizeiliche Ermittlung statt.«

Ich schaute ihn entgeistert an.

»Eine was?«

Breitenbach wich einen Schritt zurück und musterte mich argwöhnisch.

»Hören Sie schlecht? Eine polizeiliche Ermittlung. Dürfte ich vielleicht erfahren, was Sie hier zu suchen haben?«

So verblüfft war ich nicht einmal, als mein Onkel gestern Nachmittag in meinem Büro auftauchte und behauptete, meine Mutter wäre fremdgegangen.

»Rektor Weisz hat mich vor ein paar Minuten angerufen. Er hätte ein Problem, und ich sollte rasch mal vorbeischauen.«

Breitenbach zückte sein Handy. Nach einem kurzen Gespräch, steckte er es wieder in seine Jackentasche und deutete auf die Treppe.

»Erster Stock links. Konferenzraum. Den Weg kennen Sie ja, oder?«

Ich nahm jedesmal drei Stufen auf einmal und stand kurz darauf vor der Tür zum großen Besprechungszimmer. Drinnen hörte ich mehrere Leute palavern. Ich klopfte an.

»Endlich!« rief Weisz. »Gut, dass du kommst. Du musst den Herren hier dringend was erklären.«

»Dame und Herren«, beschwerte sich eine junge Frau.

 

Ich warf einen Blick in die Runde. An dem großen ovalen Tisch hockten Weisz und drei Leute, von denen ich nur einen flüchtig kannte. Hasso Schäfer, ehemaliger Drogenfahnder in der Landeshauptstadt. Bei seinem letzten Einsatz in der Mainzer Szene war er wohl ein wenig zu übereifrig gewesen, was ihm eine Strafversetzung nach Trier eingehandelt hatte. Die beiden anderen kannte ich nicht. Eine knapp dreißigjährige Frau und ein Typ mit grottenschlecht sitzender Lederjacke. Modell Grabbeltisch vom Winterschlussverkauf. Anscheinend der Schreiberling der Truppe.

»Würden Sie sich bitte kurz vorstellen?« forderte mich die junge Frau auf.

»Brenner. Hagen Brenner. Fünfundvierzig, Jungwinzer, ledig. Mit niemandem hier im Raum verwandt oder verschwägert.«

»Nun ziehen Sie mal keine Show ab«, knurrte Schäfer. »Wir sind hier schließlich nicht beim 'Tatort'.«

»Das hätte noch gefehlt«, rutschte mir heraus.

Die junge Frau nickte mir zu.

»Ich bin Staatsanwältin Stefanie Michels. Angenehm, Herr Brenner.«

Frau Michels war etwa einssiebzig groß, hatte kurze, dunkelbraune Haare, lindgrüne Augen und ein wundervolles Grübchen mitten auf dem Kinn. Genauso stellte man sich eine Staatsanwältin vor. Hübsch, charmant, ausgesprochen attraktive Erscheinung. Jacke, Bluse, kurzer Rock, Schuhe mit nicht zu hohen Absätzen. Sexy, aber nicht kapriziös. Mit Sicherheit knallhart im Umgang mit ihren Delinquenten. Mich beschlich ein ungutes Gefühl. Frau Michels deutete auf die beiden Männer.

»Das ist Kriminalhauptkommissar Hasso Schäfer und der Kollege, der rechts neben ihm sitzt, Kriminalhauptmeister Kroppke. Wir ermitteln hier im Augenblick in einer sehr delikaten Angelegenheit. Aber vielleicht können Sie ja etwas Licht ins Dunkel bringen.«

»Darf ich vorher noch kurz mit meinem Anwalt sprechen?«

Der Farbton ihrer Augen verwandelte sich schlagartig in ein abgrundtiefes Gletschergrün. Genauso unterkühlt parierte sie meine etwas vorlaute Bemerkung.

»Lassen Sie die Späße, Herr Brenner. Für Sowas fehlt mir im Augenblick die Zeit.«

»Okay, okay«, meinte ich nur. Dabei hob ich abwehrend die Hände und wollte um den Tisch herum auf Weisz zusteuern.

»Tss, tss!« zischte Schäfer und deutete mit einer knappen Kopfbewegung auf einen freien Sessel an der gegenüberliegenden Tischseite.

 

»Könnte mir vielleicht jemand verraten, was überhaupt los ist?« eröffnete ich den Schlagabtausch.

Schäfer warf der Staatsanwältin einen knappen Blick zu. Die junge Frau nickte stumm.

»Gegen dreizehn Uhr erhielten wir einen anonymen Anruf. Auf dem Server der Realschule Grafenstein seien angeblich kompromittierende Bilder von Rektor Weisz aufgetaucht. Und zwar ausgerechnet in einem Bereich, der auch Schülern zu Nachschlagezwecken zur Verfügung steht.«

»Stell dir vor, Hagen. Die Bilder auf der ominösen Seite von MyHistory! Für praktisch jeden abrufbar. Ich darf gar nicht daran denken.«

Mein Freund wirkte richtig verzweifelt. Ich wandte mich an Schäfer.

»Haben Sie eine Ahnung, wer hinter dem anonymen Anruf steckt?«

Der Kriminalbeamte schüttelte den Kopf.

»Der Kollege in der Zentrale war leider nicht dazu gekommen, die Sprachaufzeichnung einzuschalten. Jedenfalls informierten wir sofort die Schulleitung.«

Weisz nickte.

»Daraufhin habe ich als erstes den Server heruntergefahren. Das hatte leider zur Folge, dass der Nachmittagsunterricht zwangsläufig ausfallen musste. Im Physikunterricht sind nämlich sämtliche Experimente rechnergesteuert.«

Ich grinste.

»Zu Sowas sagten wir früher 'Party-Notstopp'. Hast du dich mal bei den Schülern umgehört? Vielleicht brauchten die dringend eine Freistunde. Läuft was Interessantes im Kino?«

»Blödsinn«, entgegnete Weisz. »Die kämen doch gar nicht an den Server heran. Das Zugangspasswort kennt nur Kollege Lamann und ich. Aus Sicherheitsgründen wird es wöchentlich gewechselt.«

Vorsichtshalber verkniff ich mir ein Grinsen. Es gab mit Sicherheit noch jemand, der jederzeit Zugriff auf den Rechner hatte: Miss Sophie. Aber das gehörte nicht hierhin. Ich dachte nach. Jochen Lamann hatte sich seinerzeit berechtigte Hoffnungen auf die freie Rektorenstelle gemacht. Dann wurde ihm quasi Knall auf Fall Gregor Weisz vor die Nase gesetzt.

»Was sagt Lamann dazu?«

Stefanie Michels Gesicht blieb so ausdruckslos wie das der Sphinx.

»Mit dem Konrektor haben wir bereits gesprochen. Er ist erkrankt und liegt seit Tagen mit einer schweren Bronchitis im Bett.«

Das überzeugte mich nicht.

»Na, und? Er könnte doch theoretisch von zuhause aus...«

»Nein«, unterbrach mich die Staatsanwältin. »Seinen Laptop, den er für schulische Zwecke benutzt, hat er aus Sicherheitsgründen während seiner Abwesenheit im Tresor deponiert. Das macht er angeblich grundsätzlich so, und das wurde uns auch von Herrn Weisz bestätigt. Privat besitzt Herr Lamann keinen Internetzugang. Auch das haben wir bereits überprüft.«

»Aber er wird doch wohl ein Handy oder ein Smartphone haben.«

Stefanie Michels zuckte die Schultern.

»Er besitzt zwar einen Mobilfunkvertrag in Kombination mit einem subventionierten Handy. Allerdings handelt es sich dabei um ein Uralt-Modell aus den Neunzigerjahren. Mit den Dingern kann man allenfalls eine SMS verschicken.«

»Ein internetfähiges Smartphone kann man an jeder Straßenecke kaufen«, widersprach ich. »Im übrigen gibt es auch Nachbarn oder Freunde.«

»Und den Heiligen Geist«, mischte sich Schäfer ein. »Jetzt werden Sie mal nicht albern. Welchen Grund sollte Lamann denn haben, ausgerechnet an seiner Schule solch einen Schmutz zu veröffentlichen?«

Mir fielen tausend Gründe ein, aber mit Rücksicht auf meinen Freund schwieg ich vorsichtshalber.

»Soweit, so klar. Aber was spiele ich für eine Rolle? Glaubt ihr etwa, dass ich...?«

»Unfug«, unterbrach mich Gregor. »Ich möchte lediglich, dass du den Herrschaften von besagter Webseite auf MyHistory erzählst.«

»Und nicht zu vergessen die Email von heute Morgen«, rutschte mir heraus.

Im gleichen Moment biss ich mir auf die Lippen. Wie blöd konnte einer allein eigentlich sein? Von der ominösen Balfelder-Mail wusste hier im Raum anscheinend niemand etwas. Sonst hätte man mich bestimmt längst darauf angesprochen.

»Welche Mail?« hakte Schäfer erwartungsgemäß nach.

»Heute Morgen erhielten bei uns in Grafenstein ein paar Leute eine allem Anschein nach getürkte Mail. Dem Betreff zufolge ging es angeblich um Sonderangebote im Supermarkt von den Balfelders. Klickt man den Link jedoch an, landet man auf der Seite von MyHistory.«

»Davon weiß ich ja gar nichts«, beschwerte sich mein Freund. »Warum hast du mir nicht sofort Bescheid gegeben?«

Ich zuckte ebenfalls die Schultern.

»Wollte ich ja, aber Helene hat mich nicht zu dir durchgestellt. Wegen irgendeiner Geschichtsarbeit in der Siebten, die du angeblich beaufsichtigen musstest.«

»Können Sie uns die Email zeigen?« mischte sich die Staatsanwältin ein. »Mit Ihrem Smartphone haben Sie doch bestimmt Zugang zu Ihrem Email-Postfach.«

Mein Handy war allerdings genauso ein Oldtimer wie das von Lamann. Es besaß weder Internetzugang noch Zugriffsmöglichkeit auf ein Email-Postfach. Aber mir kam eine Idee.

 

»Hallo, Sophia«, murmelte ich in den Sprechschlitz meines Mobiltelefons. »Kannst du die Email mit dem Hinweis auf Balfelders Sonderangebote weiterleiten?«

Miss Sophie zögerte nicht eine Sekunde. Sie fragte weder nach dem Warum noch dem Wieso.

»Welches Email-Postfach?«

»Kann ich bitte Ihre Email-Adresse haben?« fragte ich die Staatsanwältin.

Wenige Augenblicke später tippte Stefanie Michels mehrmals auf dem Display ihres Smartphones herum. Schäfer beugte sich neugierig über ihre Schulter. Nach einigen Augenblicken, die mir wie eine gefühlte Ewigkeit vorkamen, legte sie das Gerät wieder beiseite. Sie wandte sich an Weisz.

»Okay, Sie werden ganz offensichtlich gemobbt. Soviel steht jedenfalls schon mal fest. Jemand hat Bilder mit Ihrem Konterfei im Internet veröffentlicht, diese per Mail veröffentlicht und anschließend auch noch auf den Schulrechner geladen. Haben Sie einen Verdacht?«

Gregor sah mich hilfesuchend an. Ich zuckte die Schultern. Das ist deine Party, mein Junge. Diese Entscheidung kann ich dir bei Gott nicht abnehmen. Ich seufzte. Wusste der Henker, warum ich mich schon wieder in Dinge einmischte, die mich eigentlich nichts angingen.

»Herr Weisz glaubt, dass hinter der Seite auf MyHistory Schüler seiner neunten Klasse stecken. Es gibt da seit einiger Zeit latente Spannungen. Da liegt natürlich der Verdacht nahe, dass die Urheber der Webseite auch die Verfasser der Mail sind. Da Mobbing neuerdings ein Straftatbestand ist, müsste die Staatsanwaltschaft eigentlich einen richterlichen Beschluss erwirken, um...«

»Sehen Sie«, unterbrach mich die junge Staatsanwältin, »und genau da liegt das Problem. Was bitte, sollte ich Ihrer Meinung nach tun? Die gesamte Elternschaft auf das Präsidium nach Trier vorladen? Schließlich sind die Schüler der neunten Klasse in aller Regel noch minderjährig. Da müsste sich einer von Herrn Weisz' Schützlingen schon mehr als dämlich angestellt haben, damit wir dem- oder derjenigen konkret etwas nachweisen könnten. Im übrigen sieht mir das Ganze hier nach einem typischen Dummejungenstreich aus. Nein, tut mir leid, aber auf dieses schmale Brett begebe ich mich nicht. Ich denke, wir sollten die Bilder vom Server nehmen. Um die Webseite bei MyHistory und die Mail mit den kompromittierenden Bildern muss sich Herr Weisz allerdings selber kümmern. So leid es mir tut, aber dabei handelt es sich um eine zivilrechtliche Angelegenheit und keine Sache der Staatsanwaltschaft.«

Hasso Schäfer erhob sich aus seinem Sessel.

»Was den Server anbelangt, werden wir natürlich die Datenträger mit nach Trier nehmen und untersuchen lassen. Vielleicht finden unsere Forensiker ja irgendwelche verwertbare Spuren.«

Sein Gesicht verzog sich zu einem spöttischen Grinsen.

»Die Hoffnung stirbt bekanntlich zuletzt.«

Weisz schaute den Kripobeamten fassungslos an.

»Wie stellen Sie sich das vor? Damit legen Sie meinen kompletten Schulbetrieb lahm.«

Schäfer zuckte die Schultern

»Lassen Sie die Gören doch von mir aus bis zum Sanktnimmerleinstag nachsitzen. Das unerlaubte Eindringen in fremde Rechner ist schließlich ein Offizialdelikt. Dem müssen wir schon von Amtswegen nachgehen. Hinterher kommt noch jemand und wirft uns Schlamperei vor.«

Er wandte sich an Stefanie Michels.

»Stimmt's, Frau Staatsanwältin?«

Die junge Frau zuckte die Schultern.

»Ihre Entscheidung. Mir hätte es zwar gereicht, die Bilder hier an Ort und Stelle zu löschen, aber wenn Sie meinen. Na gut, nehmen Sie das Teil halt mit.«

Schäfer warf seinem Mitarbeiter einen auffordernden Blick zu.

»Worauf warten Sie noch, Kroppke? Bauen Sie die Festplatte aus und sagen Sie der Spusi, ich brauche den Bericht bis spätestens vorgestern.«

 

~~~~~~~

 

Da ich keinesfalls auf mein Lammcarrée verzichten wollte, hockte ich mich wieder in meinen Unimog und sah zu, dass ich zum Yachthafen kam. Als ich zum Moselufer abbog, zeigte der Stundenzeiger meiner Borduhr gerade mal auf die Vier. Also durchaus Zeit für ein verspätetes Dinner. Das stimmte mich erst einmal versöhnlich. Das Abendessen hatte ich sowieso bereits abgehakt. Ratatouille. Nach meinem bescheidenen kulinarischen Sachverstand Sowas wie belgisches Waterzooi. Schlappes Gemüse in trauriger Terrine. Und wenn ich an Rinderschmorbraten dachte, dann taten mir schon vom bloßen Gedanken daran die Kiefermuskeln weh. Zartes Rind hatte ich schon seit Ewigkeiten nicht mehr vorgesetzt bekommen. Tut mir leid, aber da war mir Carrėe vom Milchlamm wirklich zehnmal lieber.

Während ich den Unimog vor der Krananlage parkte, sank der Pegel meiner bis dahin noch relativ guten Laune auf das Niveau von Springniedrigwasser. Mist, die anderen aus der Truppe schienen bereits nach Hause gefahren zu sein. Dafür raste im nächsten Augenblick ein Pärchen auf einer Vespa an mir vorbei. Er mit Integralhelm, natürlich elegant um den Ellenbogen gehakt, sie, ebenso unbehelmt, mit wehendem Blondschopf auf dem Soziussitz. Alfa und Romeo. Verona in Grafenstein. War gespannt, welche Meinung Ballensiefen zu diesem Leichtsinn hatte.

Bruder Leichtfuß jedenfalls ließ seine Sozia abspringen und bockte den Roller danach demonstrativ mitten vor dem Eingang zum Restaurant auf. Julia fasste sich in die Haare und schüttelte lasziv ihre Frisur in Form. Sie lächelte. Die beiden Reihen von erfahrener Hand gebleichter Zähne blitzten mit dem warmen Licht der Frühlingssonne um die Wette. Kein Wunder, dass die halbe Neunte hinter dem Mädel her war. Als Max Balfelder jedoch seiner Begleiterin den Arm um die Hüfte legen wollte, schubste die ihn energisch beiseite. Unwillkürlich musste ich grinsen. Ob zu Zeiten von Hightech-Smartphone oder Wählscheibentelefon, manche Dinge änderten sich nie. Typischer Anfängerfehler, mein Junge. Klammern ist Sache der Mädels, Jungs lassen sich bewundern. Aber was gingen mich die beiden Puberteenies an? Ich hatte jetzt Bock auf Lammcarrėe.

Drinnen bei Chez Tutti steuerte ich als erstes auf meinen Stammplatz zu und suchte sofort Blickkontakt zu einer der beiden rumänischen Saftschubsen. Olga, die offenherzig bebluste Siebenbürgerin mit den zum Glück unauffälligen Eckzähnen, eilte mit einer Getränkekarte herbei.

»No, scheener Mann. Was ich kann tun für Freind von Familie?«

Dabei beugte sie sich quer über den halben Tisch und dabei auch sehr tief zu mir hinab.

»Tutti... äh, ich meine der Chef, wollte mir das Mittagessen warmstellen. Da hätte ich jetzt schon Appetit drauf.«

»Ah«, erwiderte die junge Rumänin. »Weiß nicht... Muss fragen...«

Und, wusch, war die Siebenbürgerin weg.

Zwei Minuten später immer noch derselbe Akt, dafür neue Szene. Auftritt Dana. Ebenfalls sehr attraktiv. Vielleicht ein bisschen zuviel Rouge und zu wenig BH.

»No, iubitul meu? Was willst denn haben? Bier, Wein, Wasser? Musst nur sagen, bringe dir alles.«

Siebenbürgen hin, Karpaten her. So wurde das heute nichts. Bis die was kapierten, war ich längst verhungert. Ich probierte es in Steno zum mitschreiben.

»Wo Chef?«

»Nix da.«

»Wohin?«

»Nix da.«

»Öh?«

»Nix kann machen. No, iubiltul meu, jetzt was trinken?«

Ich seufzte.

»Kein Lammcarrėe?«

»Nix Karre.«

»Okay, bring' mir ein Wasser.«

Ein Lächeln huschte über die nördlichen Südkarpaten.

»No, Liebchen, gäht doch.«

Das Wasser servierte mir dann erstaunlicherweise wieder die Sektion Siebenbürgen. Langsam wurde mir schwindelig. Ich trank deshalb rasch aus und sah zu, dass ich zurück zum Weingut kam. Schließlich wartete auf mich ein Haufen Arbeit, und Miss Sophie musste ich ja auch noch daheim abholen. Man konnte ja mal sehen, wie französischer Eintopf so schmeckte.

 

Und der war der Hammer! Ehrlich, ich hatte in den letzten fünf Jahren, von einigen Highlights beim Ballensiefen vielleicht abgesehen, nicht mehr so gut gegessen. Mein Onkel war ein Zauberer. Wie der den Schmorbraten in der Kürze der Zeit so zart hinbekommen hatte, war mir genauso ein Rätsel wie der feine Geschmack dieses südfranzösischen Gemüseeinerlei. In meiner Küche duftete es nach Anis, Fenchel und einem Hauch Salbei, und das Ratatouille selbst schmeckte dezent nach Rosmarin, Thymian und dem übrigen Rest der essbaren Macchia. Genau genommen so, als hätten es Typen wie Paul Boucuse oder Alain Ducasse höchstpersönlich zubereitet. Ich schien auch nicht der Einzige, dem es geschmeckt zu haben schien.

»Der Wahnsinn!« stöhnte unser studierter Önologe.

»Also, wirklich!« keuchte Lanzerath und tupfte sich zum wiederholten Mal die Lippen mit der Serviette ab.

»Wo haben Sie eigentlich so gut kochen gelernt?« wollte Sophia wissen.

Karl winkte ab. Er hob sein Glas.

»Salute! Hauptsache, es hat euch geschmeckt. Na ja, ist nicht gerade Weiderind aus der Camargue, aber für hiesige Verhältnisse hat der Supermarkt eine recht gute Auswahl. Für das Gemüse war übrigens Marianne zuständig. Bedankt euch bitte bei ihr.«

Er zeigte auf meine Mitarbeiterin und ließ eine etwas linkische Verbeugung folgen. Schruntz, Lanzerath, Sophia und ich spendeten stehend Ovationen. Marianne lief rot an.

»Um Ihre Frage zu beantworten«, wandte sich Karl an Sophia, »das habe ich mir alles selbst beigebracht. Auf dem platten Land lernt man Sowas schneller, als einem lieb ist. Ich sage ihnen, wenn es den Gauchos nach stundenlangem Ritt quer durch die Prärie beim Abendbrot nicht schmeckt, dann können Sie aber was erleben. Anfangs hat man mir mehr als einmal angedroht, mich am nächsten Baum aufzuknüpfen, falls ich nicht endlich dazulerne.«

Ein Lächeln huschte über das Gesicht der alten Dame.

»Erzählen Sie doch bitte noch etwas mehr über Südfrankreich. Ach ja, die Provence. Wäre ich doch bloß ein einziges Mal in meinem Leben dorthin gekommen! In das Land von Matisse, Renoir und Monet. Aber nein, immer nur Arbeit, Arbeit, Arbeit.«

Jetzt hätte nur noch Tschaikowskis Sterbender Schwan gefehlt.

»Ja nee, is' klar«, versuchte ich den Comedian mit dem markantem Minipli zu imitieren. »Arme Miss Sophie. Die Ärmste ist ja auch wirklich nie aus Grafenstein herausgekommen. Abgesehen von den drei Trips durch halb Nordamerika, die Trekkingtour zum Ayers Rock, die Durchquerung der Sahara von Marrakesch bis Timbuktu, der Besuch der Großen Mauer. Entschuldige, Sophia, habe ich etwas vergessen?«

Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht.

»Die Reise mit der Celtic Flyer von Lissabon nach Valparaiso.«

Ich tippte mir kurz gegen die Stirn.

»Wie konnte ich das bloß vergessen. Auf einem Dreimaster quer durch den Atlantik und anschließend rund Kap Hoorn. Natürlich nicht, ohne vorher noch ein klitzekleiner Abstecher nach Deception Island gemacht zuhaben. Dieses lauschige Fleckchen Eis liegt übrigens mitten in der Urlaubsregion Südpolarmeer. Aber es stimmt schon. Bis auf diese unbedeutenden Wochenendausflüge ist Miss Sophie tatsächlich nie aus Grafenstein herausgekommen.«

Ich glaube, das Gelächter bei uns am Tisch konnte man bis hinunter zur Mosel hören.

 

 

 

 

Kapitel 6

 

 

Donnerstag

 

Der darauf folgende Tag begann zumindest kulinarisch genauso spektakulär, wie der voran gegangene Abend zu Ende gegangen war. Langsam kam ich mir vor wie im Ritz. Fünf Sorten Wurstaufschnitt vom Feinsten, Schinken satt in allen Farben und Formen, selbstgemachter Geflügelsalat, Käseauswahl bis zum Abwinken. Von Karls inzwischen legendärem Rührei mit Speck und Pilzen, Brot, Brötchen und Baguette ganz zu schweigen. Ich starrte auf meinen sich biegenden Frühstückstisch, an dem sich nicht nur Karl sondern auch die üblichen Verdächtigen eingefunden hatten. Als da wären Thomas Schruntz, mein Vorarbeiter Lutz Backhaus, Caddy und der inzwischen omnipräsente Totengräber. An meinem Frühstückstisch war nur noch ein bescheidenes Plätzchen frei. Wenigstens am Kopfende. Na ja, ein bisschen Chef muss sein.

»Sagt mal, spinnt ihr jetzt alle komplett?« versuchte ich Fassungslosigkeit vorzutäuschen. Dabei griff ich jedoch selbst in den Brotkorb.

»Wollt ihr mich ruinieren? Das hier ist ein Weingut und kein Wellness-Hotel mit Vier-Sterne-Wohlfühl-Service.«

Ich warf meinem Onkel einen strafenden Blick zu. Der jedoch winkte schmunzelnd ab.

»Alles Sonderangebote.«

»Soll mich das etwa beruhigen?« brummelte ich mit vollem Mund, während er mir gleichzeitig einen wahren Berg von seinem Rührei-Speck-und-was-sonst-noch-Auflauf auf den Teller kippte. »Mann, Mann, Mann. Mit euch macht man vielleicht was mir.«

Sofort baute sich der irische Bettvorleger vor mir auf. Ich schnappte mir eine Scheibe Braten und warf sie ihm hin. Robespierre fing sie noch in der Luft auf. Der Köter schien nicht einmal zu kauen. Jedenfalls ließ er im nächsten Moment bereits wieder ein dumpfes Knurren ertönen.

»Wenn du nicht gleich damit aufhörst, dann kommst du in die Suppe!« schnauzte ich ihn an.

»Robespierre!«

Der irische Wolfshund trottete brav zurück in seine Ecke zwischen Kühlschrank und Herd. Aus den Augen ließ er mich trotzdem für keine Sekunde, aber diese Form von tierischer Videoüberwachung kannte ich ja inzwischen.

»Das nenne ich ein Frühstück!« stöhnte Lanzerath. »Morgen komm ich wieder.«

»Jou, Alter, ist besser als bei Mama Sahira. Ich schwör!«

Auch die nordafrikanische Fakultät schien zufrieden.

»Hmm!« brummte Backhaus. »Dat is' evver richtig jot. Nit ze verjleiche mir die verdrummelte Röggelche met Kies, die 'mer beim Bäcker krieje.«

Mein studierter Önologe pflichtete ihm mit vollem Mund bei. Den Geschmack der übrigen arbeitenden Bevölkerung hatte Karl anscheinend ebenfalls getroffen. Bestimmt zehn Minuten vergingen, während wir leise vor uns hin schmatzend wahre Berge vertilgten.

»Wat is eijentlich met die Stöck?« fragte Backhaus zwischen zwei Bissen.

Ich runzelte die Stirn.

»Welche Stöck?«

»Joh, wat wehs ich? Die Stöck halt.«

Er räusperte sich.

»Die neuen Rebstöcke«, ergänzte er in halbwegs verständlichem Hochdeutsch.

Jetzt fiel mir die Unterhaltung von vorgestern wieder ein. Ja, Himmel hilf! Man konnte doch nicht ständig an alles denken. So brachte ich mir Lutzens Beschwerde in Erinnerung. Gleichzeitig fiel mir ein, dass ich Marianne noch gar kein Sterbenswörtchen von der Falschlieferung gesagt hatte.

»Wo steckt eigentlich unser Kalfaktor?«

Schruntz hob den Kopf.

»Die kommt heute etwas später. Sie hat immer noch ihre Bekannte zu Besuch.«

Unwillkürlich fiel mein Blick auf Robespierre. Besuch ist immer schlecht. Das lehrt die Erfahrung.

 

Der Zauber des Morgens verflog allmählich, und der Alltag holte uns ein. Selbst unser tunesischer Einzelhandelskaufmann meinte auf einmal, er müsse jetzt dringend seinen Laden aufmachen. Wenige Augenblicke später hockte nur noch Lanzerath mit mir am Frühstückstisch. Karl räumte das Geschirr ab und stapelte es in der Spüle.

»Hast du eigentlich kein eigenes Zuhause?«

»Doch, schon«, meinte Lanzerath, »aber Susanne ist auf einer Fortbildungsveranstaltung. Und alleine frühstücken ist langweilig.«

»Worin bildet die sich denn fort?« rutschte mir heraus. »Wie man sich die Fußnägel lackiert?«

Mein Blick wanderte Richtung Herd. Karl wischte dort gerade die Arbeitsfläche sauber. Mir fiel auf, dass er sich dabei ein bisschen ungeschickt anstellte.

»Was ist eigentlich mit deinem linken Arm los? Und wieso hinkst du überhaupt?«

Der Alte drehte sich herum. Sein Blick wirkte mit einem Mal ausdruckslos.

»Kleiner Arbeitsunfall. Nichts Dramatisches.«

»Nichts Dramatisches? Das sieht mir aber ganz anders aus. Warst du schon beim Arzt?«

Karl winkte ab.

»Ach was. Ich merke das eigentlich schon gar nicht mehr.«

Ich wollte noch etwas erwidern, doch Lanzerath stieß mich unter dem Tisch an.

»Gleich«, raunte er mir zu.

Ich verstand nur Bahnhof, doch als mein Onkel anschließend mit Robespierre Gassi ging, ließ er die Katze aus dem Sack.

»Könnte es sein, dass dein Onkel einen Schlaganfall hatte?«

Ich starrte ihn entgeistert an.

»Wie kommst du denn darauf?«

»Ich kenne Sowas von meinen Kunden. Na ja, also von denen, die früher oder später meine Kunden werden. Hinken und gleichzeitig eingeschränkte Armbeweglichkeit ist nicht selten ein Zeichen von Lähmungserscheinungen. Typisch für einen Schlaganfall. Ist das vielleicht der Grund, warum sich Karl bei dir eingenistet hat?«

»Keine Spur«, erwiderte ich. »Der wollte eigentlich nur mal vorbeischauen und gucken, wie es einem so geht.«

Lanzerath runzelte die Stirn.

»Nach dreißig Jahren? Seltsam.«

Mit einem Mal beschlich mich der Verdacht, dass an Lanzeraths Vermutung durchaus etwas Wahres dran sein konnte. Vielleicht war das der Grund dafür, dass er Cowboystiefel trug, denn die besaßen keine Schnürsenkel. Knoten binden erwies sich immer als schwierig für Leute mit Bewegungseinschränkungen.

»Ich werde ihn bei Gelegenheit darauf ansprechen.«

»Das würde ich an deiner Stelle nicht tun«, widersprach Lanzerath. »Warte einfach ab, bis er von sich aus auf das Thema zu sprechen kommt. Er scheint mit seiner Behinderung ja ganz gut zurecht zu kommen. Oder hast du ein Problem damit?«

»Quatsch, natürlich nicht.«

Mir war aber trotzdem nicht wohl bei dem Gedanken. Vielleicht konnte man in der Grafensteiner Klinik etwas für ihn tun. Unwillkürlich kniff ich die Augenbrauen zusammen. Ich war bislang eigentlich davon ausgegangen, sein Höflichkeitsbesuch wäre eine Sache von vielleicht ein, zwei Tagen. Und die waren längst vorbei.

 

Mein Handy klingelte.

»Hier ich, wer da?«

»Ist der Lanzerath bei dir?« meldete sich Tuttifrutti übergangslos.

»Guten Morgen, Herr Kommerzialrat. Wie ist das werte Befinden, Herr Ballensiefen? Danke der Nachfrage, mir geht es auch ausgezeichnet.«

Für einen kurzen Moment blieb es am anderen Ende still der Leitung. Dann jedoch polterte er in seiner unnachahmlichen Weise los.

»Ist er jetzt bei dir, oder nicht? Bei ihm meldet sich jedenfalls nur die Sprachbox, und der andere Totengräber in seinem Laden weiß angeblich auch von nichts.«

Ich hielt den Sprechschlitz meines Handys zu.

»Ist dein Handy aus?« fragte ich Lanzerath.

Er zog sein Smartphone aus der Jackentasche und warf einen Blick auf das Display.

»Du meine Güte! Wenn man nicht an alles denkt. Ich hatte das blöde Ding beim Frühstück auf stumm geschaltet.«

Er begann wie wild auf dem Display herumzutippen. Ich nahm die Hand vom Sprechschlitz.

»Er ist wieder online«, sagte ich zu Ballensiefen. »Was ist denn los? Du klingst so aufgeregt. Ist dir der Schweinebraten angebrannt?«

»Lass die dummen Sprüche! Hier steppt der Bär. Bei uns im Hafen haben sie heute Morgen eine Leiche gefunden.«

Mich beunruhigte das zunächst nicht die Spur. Ich kannte Ballensiefen. Der kam manchmal auf die verrücktesten Ideen, um dem Blutdruck seiner Mitmenschen in die Höhe zu treiben. Die Leiche war vermutlich bloß eine verweste Ente.

»Wer hat denn die Leiche gefunden?«

»Die Dana. Sie wollte vor der Arbeit noch rasch die Enten füttern.«

Dachte ich's mir doch.

»Hat die Leiche Bisswunden am Hals?«

Erneut blieb es einen kurzen Augenblick still in der Leitung.

»Wie kommst du denn darauf?«

»Nur so ein Gedanke. Wer ist es denn?«

»Keinen Schimmer. Die Kripo aus Trier ist jedenfalls informiert. Nur der blöde Breitenbach hat natürlich nichts Besseres zu tun, als die Zufahrt mit seinem Streifenwagen zu blockieren und den halben Hafen mit seinem blöden Flatterband abzusperren. Mann, Mann, Mann, hier ist vielleicht was los, kann ich dir sagen. Also, kommt ihr mal vorbei?«

»Ihr?«

»Auf jeden Fall der Lanzerath und von mir aus auch du. Sag ihm, hier gibt's was für ihn zu tun. Und er soll Gummistiefel mitbringen. Die Leiche liegt nämlich am Ufer.«

Im selben Moment sprang mein Tischnachbar auch schon wie von der Tarantel gestochen in die Höhe. Dabei wedelte er wie wild mit seinem Smartphone vor meinem Gesicht herum.

»Ich muss weg! Kundschaft! Man sieht sich.«

Ich hielt ihn am Ärmel fest.

»Nicht so eilig. Ich komme mit.«

Er grinste schräg.

»Im Leichenwagen? Du hast Nerven! Normalerweise fährt bei mir keiner freiwillig mit, der sich noch bewegt.«

 

Als wir mit dem silbergrauen Kombi zum Moselufer abbiegen wollten, versperrte Breitenbachs Patrouillenfahrzeug mit eingeschaltetem Blaulicht und weit offen stehenden Türen die Yachthafenzufahrt. Unser Dorfsheriff machte nur wiederwillig Platz. Zum Glück waren die Scheiben in Lanzeraths Mercedes dunkel getönt, sonst hätte mich der Blaubefrackte wahrscheinlich auf dem Beifahrersitz entdeckt und stante pede wieder heimgeschickt. So richtig wohl fühlte ich mich trotzdem nicht in meiner Haut. Was hatte ich überhaupt an einem Tatort verloren? Unwillkürlich musste ich grinsen. Hinterher wurde ich vielleicht noch verhaftet.

Ich hätte besser nicht so dumm grinsen sollen.

Wie auf Kommando stürzte Ballensiefen aus seinem Restaurant. Mit raschen Schritten war er bei uns und riss die Beifahrertür auf.

»Da seid ihr ja endlich. So eine Katastrophe! Um drei Uhr habe ich hier eine Geburtstagsfeier. Nichts ist vorbereitet.«

Ich klopfte Tuttifrutti beruhigend auf die Schulter. Das hatte er wahrlich nötig, so wie der durch den Wind war. Todmüde, unrasiert, und die Krawatte am eilig übergestreiften Hemd hing ihm auch auf Halbmast., und das sollte bei bei einem Pedanten wie Ballensiefen was heißen.

»Was ist denn überhaupt passiert?« wollte ich wissen. »Erzähl doch mal.«

Unser Gastwirt raufte sich die Haare.

»Da gibt's nix zu erzählen. Wasserleiche. Und dann auch noch eine Frau. Ausgerechnet bei mir...«

»Eine Frau?« unterbrach ich seinen Redefluss. »Was für eine Frau? Wo kommt die her?«

»Was weiß denn ich.«

Unwillkürlich musste ich grinsen.

»Wie, du kennst sie nicht? Wieso liegen bei dir auf einmal fremde Frauen im Wasser herum? Das ist aber höchst verdächtig, muss ich schon sagen.«

Lanzerath band sich währenddessen in aller Seelenruhe eine dunkelgrüne Kunststoffschürze um und schlüpfte in grobstollige Gummistiefel.

»Wo ist denn nun die Leiche?«

Ballensiefen deutete in Richtung Hafeneinfahrt. Wie auf Kommando sprang der Uniformierte herbei und fuchtelte mit erhobenen Zeigefinger vor Lanzeraths Gesicht herum.

»Eh, nix da! Erst warten wir mal schön auf die Spusi. Sie machen denen sonst noch alle Tatortspuren kaputt.«

Ich drehte mich zu unserem Dorfsheriff herum.

»Tatort? Wieso, wurde die Frau etwa umgebracht? Ich dachte, die sei ertrunken.«

Breitenbach zog verächtlich die Nase hoch.

»Mit einem Loch in der Brust?«

»Oha. Na, dann wird sie tatsächlich nicht bloß ertrunken sein.«

Ich wandte mich an Ballensiefen.

»Komm, gehen wir erst mal auf einen Sprung rein. Bis die Kriminaltechnik hier eingetrudelt ist, können wir auf den Schreck ja erst mal was trinken.«

Lanzeraths Augen nahmen sofort einen eigentümlichen Glanz an. Er streifte sich die Schürze wieder ab und stieß unseren Gastwirt an.

»Ist noch was von gestern Abend übrig? Ich bin am verhungern.«

»Hast du einen Bandwurm?« rutschte es aus mir heraus.

Lanzerath hatte bei uns bestimmt ein dreistöckiges Frühstück verputzt.

»Nee, wieso?« fragte er mit betont unschuldiger Miene.

Kopfschüttelnd folgte ich meinen Bekannten nach drinnen. Lanzerath tauchte inzwischen wirklich überall dort auf, wo es irgendwas abzustauben gab. Auch wenn es sich dabei nur um einen Rest Lammbraten vom Vortag handelte.

 

Ein paar Minuten später hockten wir jeder vor einem Grafensteiner Herrengedeck. Doppelter Espresso mit Trester und Spekulatius. Nebst einer Restportion Lammcarrée. Ich knurrte halblaut vor mich hin. Das war mit Sicherheit meine Portion von gestern.

»Wo stecken eigentlich die Mädels?« wollte unser Totengräber wissen.

Ballensiefen verdrehte die Augen.

»Die habe ich heimgeschickt. Dana war völlig fertig, und Olga wollte auf den Schreck hin auch einen Tag frei haben.«

»Oder könnte es eher sein, dass die vor den Bullen Reißaus genommen haben?« rutschte mir heraus.

Ballensiefen warf mir einen bitterbösen Blick zu.

»Quatsch! Das sind anständige Mädchen. Ordentlich als Saisonaushilfskräfte angemeldet.«

»Für drei Euro die Stunde, was?« frotzelte ich.

»Ein bisschen mehr ist es schon«, meinte Ballensiefen nachdenklich.

»Ausbeuter!« schimpfte Lanzerath.

»Dann stell du sie doch von mir aus bei dir ein«, beschwerte sich Ballensiefen.

Lanzerath wurde mit einem mal sehr nachdenklich. Dana und Olga bei ihm im Betrieb? Unvorstellbar! Daheim würde er sofort Opfer der Inquisition. Warum musste Susanne auch bloß so eifersüchtig sein. Dafür bestand doch überhaupt kein Grund. Gleichzeitig rechnete er nach, wie viel seine Mitarbeiter so round about im Monat verdienten.

 

»Und du hast wirklich keine Ahnung, wer die Frau sein könnte?« stocherte ich noch einmal nach. »Hast du nicht wenigstens nach den Ausweispapieren gesucht?«

Ballensiefen verschränkte die Arme vor der Brust.

»Hört mal Leute, das war die erste Tote, die ich in meinem Leben gesehen habe. Ich grabbele doch nicht ohne Not an einer Wasserleiche herum. Aber aus der Gegend stammt die mit Sicherheit nicht.«

Ich seufzte.

»Na, das kann ja heiter werden. Eine unbekannte Tote bei uns im Hafen. Und dann auch noch mit einem Loch in der Brust. Deinen Laden kannst du jedenfalls schon mal zusperren.«

Er schaute mich ungläubig an.

»Bist du wahnsinnig? Wieso? Ich hab doch nichts verbrochen.«

Ich kniff das rechte Auge zu.

»Weiß man's?«

»Ich gebe dir gleich 'weiß man's'! Ich habe die Alte noch nie in meinem Leben gesehen. Nun hör aber mal auf.«

Das Schönste dabei war das Weiße in Ballensiefens Augen. Demonstrativ verschränkte ich die Arme vor der Brust.

»Schaust du eigentlich keine Krimis? Erstmal wird hier alles rundum abgesperrt, dann werden deine Angestellten und deine Gäste verhört. Stundenlang, mitunter tagelang. Es geht hier schließlich um Mord. Zu dir ins Restaurant kommt daraufhin natürlich keiner mehr. Wer will sich schon verdächtig machen? In einem Monat bist du pleite, die Banken kündigen die Kreditlinie. Julia kannst du in Grafenstein zum Singen an die Straßenecke schicken, und du wirst vermutlich selbst mit dem Hut herumlaufen müssen.«

Ballensiefens Gesicht färbte sich rot. Das focht mich jedoch nicht an.

»Ach ja, ehe ich's vergesse: Natürlich kommt es zur Anklage, denn irgendeinen Verdächtigen muss die Kripo ja dem Gericht vorweisen. Dein Pflichtverteidiger, ein kokainsüchtiger Winkeladvokat, verpasst natürlich sämtliche Fristen und Gerichtstermine, du landest im Knast, Julia kommt ins Heim...«

Lanzerath hustete. Wahrscheinlich war ihn der Lammbraten im Hals steckengeblieben. Geschah dem alten Gierschlund recht.

Ballensiefen bekam gar nicht mit, dass draußen vor der Tür ein Lieferwagen anhielt. Dunkelblau mit der Aufschrift 'Moutussis Import-Export'. Der hatte hier gerade noch gefehlt. Caddy war nicht alleine gekommen.

»Was ist denn bei euch da draußen los?« beschwerte sich eine kieksige Stimme.

 

Juliopatra stürmte auf unseren Tisch zu. Jil Sander Cardigan, Balmain Leg Paints, Valentino Balerinas, Roberto Cavalli Jackett. Jetzt musste ich wirklich mal mit Ballensiefen ein ernstes Wörtchen reden. Auf der einen Seite Billigstarbeitskräfte aus Osteuropa anheuern und dafür anderswo das Geld praktisch mit vollen Händen für seinen missratenen Sprössling zum Fenster rausschmeißen. Das passte doch nun wirklich nicht zusammen. Und getragen wurde das Zeugs ja sowieso höchstens zweimal, ehe es dann über Ebay wieder verhökert wurde. Man will ja schließlich nicht als Schmuddelkind dastehen.

Caddy, der ihr atemlos hinterher gehechelt kam, wirkte gegen die Kleine jedenfalls wie ein Flüchtlingskind aus Aleppo. Selbst Lanzerath, dessen Susi-Schatz nun wirklich nicht gerade zu dem Typ Frauen gehörte, die bei C&A shoppen gingen, wirkte einigermaßen irritiert.

Der Dunkelhäutige in Königin Juliopatras Gefolge kam an unseren Tisch und warf sich in einen der freien Sessel. Er deutete nach draußen.

»Eh, ich hab nix gemacht! Ich schwör!«

Ballensiefen drehte sich zu seiner Tochter herum.

»Unten am Ufer liegt eine Tote. Also nichts, was dich irgendwie beunruhigen sollte.«

Julia bekam mit einem Schlag glänzende Augen.

»Eine Leiche? Geil! Da muss ich sofort ein paar Fotos für meine Facebook-Seite schießen.«

Wie auf Kommando zückte sie ihr Smartphone und wollte schon auf dem Absatz kehrt machen. Ballensiefen hielt sie am Ärmel ihrer Roberto Cavalli zurück.

»Nix da! Damit du anschließend wieder wochenlang nicht einschlafen kannst. Im übrigen kommst du an die Tote sowieso nicht heran. Breitenbach hat bereits alles abgesperrt. Wir warten im Augenblick nur noch auf die Spurensicherung.«

»Der blöde Bulle da draußen hat mir gar nichts zu sagen«, meckerte die Fünfzehnjährige. »Das ist hier schließlich Privatbesitz.«

»Und sag gefälligst nicht dauernd 'Bulle' zu unserem Ortsgendarmen.«

Völlig falscher Ansatz. Ich lernte auch nicht dazu. Julia hob die Augenbrauen.

»Hast du eigentlich keinen Friseur, dem du die Ohren vollquatschen kannst? Der alte Scheißer da draußen geht mir jedenfalls Sowas von auf die Eierstöcke...«

Caddys Augen wurden groß wie Untertassen.

»Eh, du hast schon Eierstöcke? Ich dachte, Sowas...«

Ballensiefen schlug mit der Faust auf die Tischplatte, dass unser Kaffeegeschirr nur so schepperte.

»Jetzt ist aber mal Schluss, mein Frollein! Solche Ausdrücke nimmst du mir gefälligst nicht mehr in den Mund! Der Mann da draußen tut nur seine Pflicht.«

 

Seine letzte Bemerkung sollte er ziemlich rasch bereuen, denn wie auf Kommando flog die Türe zum Restaurant auf. Sheriff Marcel 'Wyatt Earp' Breitenbach stakste mit demonstrativ in den Gürtel eingehakten Daumen aufreizend langsam auf unseren Tisch zu und baute sich breitbeinig vor dem Tunesier auf. Demonstrativ zückte er seinen Block mit den Verwarnungszetteln.

»Das linke Rücklicht ist defekt. Führerschein, Fahrzeugschein!«

Dabei flog sein Kugelschreiber nur so über eines der rosafarbenen Blättchen. Wir schauten uns wortlos an. Julia schnaubte geräuschvoll durch die Nase.

»Was soll denn der Blödsinn?« begehrte Ballensiefen auf. »Haben Sie eigentlich nichts Besseres zu tun? Da draußen liegt schließlich 'ne...«

Weiter kam er nicht. Breitenbach schob seine Dienstmütze ins Genick und musterte Ballensiefen ziemlich von oben herab, was ihm allerdings auch nicht schwer fiel, denn wir hockten schließlich immer noch an unserem Tisch.

»Ehe ich es vergesse, Ballensiefen. An ihrem Wagen ist der TÜV abgelaufen. Weil sie's sind, drücke ich da vorerst nochmal ein Auge zu, aber nach dem Wochenende kommen Sie gefälligst vorbei und zeigen mir eine gültige Plakette.«

»Irgendwelche Fragen?« wieherte Julia, als Breitenbach kurz darauf wieder verschwunden war.

»Was hast du hier überhaupt zu suchen?« wollte ihr Vater wissen. »Hast du keine Schule?«

»Irgendein Blödmann hat den Schulcomputer getillt. Wie man hört, soll's der Weisz selbst gewesen sein. Geschieht dem Blödmann recht. Jedenfalls fällt Chemie aus, denn ohne Computer geht da gar nichts. Und Sport und Reli mache ich ja sowieso nicht mit.«

»Tolle Einstellung«, brummte ich. »Aber anschließend aufs Gymnasium gehen wollen.«

Julia machte eine Geste, für die alleine ihr schon ein Stipendium am Lee-Strasberg-Institut sicher gewesen wäre.

»Heute bleibt einem doch gar nichts anderes mehr übrig, als Abi zu machen. Oder glaubt ihr, ich will den Rest meines Lebens in irgendeinem Großraumbüro versauern. Vielleicht auch noch für unter fünf Mille im Monat. Bin ich asi, oder was?«

Mein Bedarf an teuer subventionierten Pubertäten war gedeckt.

»Komm, geh nach oben Computer spielen.«

»Du hast gehört, was Onkel Hagen gesagt hat«, pflichtete mir Lanzerath bei.

»Chiao, Sonnenschein!« Das war Caddy.

»Leckt mich doch!«

Und tschüss! Abgang Kulisse hinten rechts.

 

»Mann, Mann, Mann, mit der macht man neuerdings was mit!« stöhnte Ballensiefen, als seine Tochter endlich außer Hörweite war.

»Alles harmlos«, meinte ich nur. »Warte ab, bis die richtig geschlechtsreif ist. Dann sollst du mal sehen.«

»Mal bloß den Teufel nicht an die Wand!« jammerte er weiter. »Mir reichen schon Max Balfelder und dieser muselmanische Basarverkäufer hier.«

Dabei warf er Moutussi einen bitterbösen Blick zu.

»Eh, von wegen Basar, oder so!« beschwerte sich der Tunesier.

»Der kleine Balfelder?« mischte sich Lanzerath ein. »Läuft da etwa was zwischen den Beiden?«

Ballensiefen verzog das Gesicht.

»Was weiß denn ich? Aber man merkt, dass du keine Kinder hast. Ach, übrigens, klappt das bei dir nicht, oder hat Susi keine Lust?«

Jetzt war zur Abwechslung mal Lanzerath an der Reihe, die Arme vor der Brust zu verschränken.

»Das geht euch gar nichts an, kapiert? Wir sind halt noch nicht soweit.«

»Aber dafür gibt's doch Therapeuten«, meinte ich. »Oder Literatur. Die kann man neuerdings ganz diskret sogar bei Amazon bestellen.«

Lanzerath zeigte mir den schlimmen Finger.

 

~~~~~~~

 

Zehn Minuten später rückte die Kavallerie an. Allen voran Hasso Schäfer in seinem Porsche Cabrio. Ihm folgten mit einigem Abstand der einschlägig bekannte Passat mit Trierer Kennzeichen und ein koreanischer Stadtflitzer. Aus dem sprang eine Dunkelhaarige von Mitte zwanzig heraus, warf sich eine Kameratasche über die Schulter und machte Anstalten, über das rotweiße Absperrband in Richtung Moselufer zu klettern. Aber da hatte sie die Rechnung ohne Hasso Schäfer gemacht. Gekonnt schnitt er ihr den Weg ab, packte ihr Armgelenk und zog sie zurück. Es folgte eine heftige Diskussion, während der sich die junge Frau geschickt aus dem Handgriff des Kripobeamten befreite. Anschließend gab Schäfer unserem Dorfsheriff ein paar knappe Anweisungen, wobei Breitenbachs Miene deutlich einfror. Die Zeitungsreporterin stapfte währenddessen in unsere Richtung.

»Eins zu null für CSI Trier«, meinte ich, als die Mitarbeiterin vom Grafensteiner Tageblatt das Lokal betrat.

Aus dem Passat waren mittlerweile drei Leute geklettert. Zwei kannte ich bereits. Staatsanwältin Michels und Kriminalhauptmeister Kroppke. Stefanie Michels trug einen streng geschnittenen Hosenanzug, über den sie wegen der Kühle einen Trenchcoat geworfen hatte, und Kroppke wie eh und je seine grottenschlecht sitzende Lederjacke vom Grabbeltisch. Der arme Kerl schien anscheinend nichts anderes im Kleiderschrank zu haben. Die zweite Frau, die aus dem Fond des Wagens stieg, war mir bis dato unbekannt. Sie schnappte sich einen Leichtmetallbehälter aus dem Kofferraum, schlüpfte in einen schneeweißen Overall und lief kurz darauf hinunter zum Moselufer. Dorthin, wo angeblich die Leiche lag. Die Spusi wurde heutzutage aber auch immer jünger und hübscher, dachte ich bei mir. Die war doch allenfalls Mitte Ende Dreißig. Zu meiner Zeit waren die Leute von der kriminaltechnischen Untersuchung kahlköpfige Griesgrame oder irgendwelche studierte Besserwisser mit Anzug und Fliege. Zumindest immer kurz vor der Pensionsgrenze.

Der Kripobeamte und die Staatsanwältin folgten der Frau im Overall. Unser Dorfsheriff baute sich währenddessen breitbeinig und mit verdrießlichem Gesichtsausdruck vor dem Absperrband auf. Anscheinend verdaute er immer noch den Anschiss, den er sich vor ein paar Minuten von Hasso Schäfer eingehandelt hatte. Die Zeitungsreporterin war aber vielleicht Sowas von fix gewesen, und man konnte seine Augen ja schließlich nicht überall haben, brummte er stumm in sich hnein. Was dem Blödmann überhaupt einfiel, ihn hier vor versammelter Mannschaft und dann auch noch vor zwei attraktiven Damen dermaßen in die Stiefel zu stellen!

 

Die Frau vom Grafensteiner Tagblatt trat an unseren Tisch und zückte demonstrativ ihre Spiegelreflex.

»Wer von euch Hübschen hat die Tote denn gefunden?« fragte sie.

»Hallo, Sylvia«, begrüßte ich die Reporterin. »Heute mal nicht schnell genug gewesen? So a scheene Laich, wie der Österreicher zu sagen pflegt. Komm, hock dich her.«

Sylvia Roth kam meiner Aufforderung erwartungsgemäß nach.

»Was der bloß wieder hat, der Sonnyboy. Aber wehe, morgen steht darüber nichts in der Zeitung. Dann ist das Gebrüll wieder groß. Gerade die Trierer Kripo soll mal ganz still sein, wo sich deren Polizeipräsident doch am liebsten jeden Tag in den Schlagzeilen sieht.«

»Was möchten Sie trinken?« fragte Ballensiefen geschäftsmäßig.

»Wenn ich die Tote nachher in meinen Wagen lade, darfst du von mir aus ruhig ein paar Fotos schießen«, grinste Lanzerath. »Ich schaue auch weg.«

Caddy deutete auf die schussbereite Kamera.

»Ich hab nix damit zu tun. Ich schwör! Eh, keine Fotos!«

Sylvia Roth stellte Ballensiefen ein paar Routinefragen, machte zwei Fotos von ihm, klappte dann aber rasch ihren Notizblock zu und schaute sehnsüchtig nach draußen, wo in der Nähe der Hafeneinfahrt die beiden Kriminalbeamten, die Staatsanwältin und die Mitarbeiterin der KTU sich über die Leiche der Unbekannten beugten. So ein Mist aber auch, fluchte sie stumm vor sich hin. Bestimmt wurde sie jetzt wieder mit dem lapidaren Hinweis abgespeist, sie solle sich gefälligst an die Pressestelle des Polizeipräsidiums wenden. Und der blöde Ballensiefen wusste in Wirklichkeit auch nichts. Nicht einmal die Tote konnte er richtig beschreiben. Was sollte sie auch mit so banalen Hinweisen wie 'Mitte Fünfzig bis Anfang Sechzig, dunkelblonde oder auch hellbraune Haare, etwa Einssiebzig groß, vielleicht auch ein bisschen größer' anfangen? Sie warf Lanzerath einen verstohlenen Blick zu. Wenigstens der Totengräber schien kooperativ zu sein.

 

Eine Viertelstunde später wurde es ernst. Staatsanwaltschaft, Kripo und Spurensicherung kehrten vom Flussufer zurück und betraten das Yachthafen-Restaurant. Stefanie Michels gab Lanzerath ein Zeichen.

»Sie können die Tote jetzt einladen. Und bringen Sie sie bitte gleich nach Trier in die Rechtsmedizin. Sie wissen schon zu wem, nicht wahr?«

Lanzerath sprang auf. Offenbar war er froh, sich auf diese Weise elegant aus der Affäre ziehen zu können. Hier noch stundenlang herum zu hocken und eventuell sinnlose Fragen beantworten zu müssen, war ohnehin nicht sein Ding. Sylvia Roth machte Anstalten ihm zu folgen.

»Tss, tss!« zischte der Kriminalhauptkommissar und deutete ihr an, wieder Platz zu nehmen.

»Sie kennen doch die Regeln. Keine Fotos von Leichen, die von der Rechtsmedizin noch nicht freigegeben worden sind. Warten Sie einfach auf die offizielle Pressemeldung.«

»Dürfen wir uns hierher setzen?« fragte Stefanie Michels und deutete auf den Nachbartisch. »Ich möchte sie hier und jetzt wegen der Vorfalls von heute Morgen befragen. Das erspart Ihnen eine Einvernahme in Trier.«

Ballensiefen erhob sich, wischte mit einem Geschirrtuch rasch über die Tischoberfläche und nickte.

»Selbstverständlich. Möchten Sie was trinken?«

Die Staatsanwältin blickte Schäfer, seinen Adlatus Kroppke und Dr. Isles, wie ich die unbekannte Mitarbeiterin der kriminaltechnischen Untersuchungstruppe inzwischen insgeheim nannte, fragend an.

»Kaffee.«

»Kaffee.«

»Für mich auch.«

»Cappuccino mit leicht aufgeschäumter laktosefreier Milch, bitte.«

Dr. Isles litt anscheinend unter Darmbeschwerden. Niemand sonst ließ sich sowas ohne Not in einen ordentlichen italienischen Bohnenkaffee schütten.

 

Bei näherem Hinsehen hatte meine Dr. Isles in realo eigentlich überhaupt nichts mit Sasha Alexander gemein. Im Gegenteil. Die junge Frau am Nachbartisch war dunkelhaarig, höchstens einen Meter fünfundsechzig groß und sehr zierlich. In ihrem knappen Kostüm sah sie aus wie eine Investmentbankerin, die gerade vom Friseur kam. Ihr Gesicht war sehr dezent geschminkt. Wenn ich ehrlich war, gab's da sowieso nicht viel abzupudern. Ihre Lippen hatte sie in einem zarten Braunton nachgezogen, die Fingernägel kurz geschnitten und farblos lackiert. Exakt so, wie ich es bei Frauen mochte. Wäre das hier eine verschissene Shakespeare-Aufführung gewesen, ich bin sicher, ich wäre noch im selben Augenblick auf die Knie gefallen und hätte vor versammeltem Publikum um ihre Hand angehalten. Von Hause aus bin ich in solchen Dingen eigentlich mehr als zurückhaltend, und an meine Haut lasse ich gewöhnlich ohnehin nur Wasser und die landläufig bekannte Seife aus der Drogerieabteilung. Aber manchmal passte einfach alles. Wow!

 

»... Herr Brenner! Hallo! Sind Sie noch da?«

Unwillkürlich schreckte ich hoch. Stefanie Michels schenkte mir ein breites Lächeln. Erst in diesem Augenblick wurde mir klar, dass ich die KTU-Expertin vornüber gebeugt und mit weit aufgerissenen Augen anstarrte. Scheiße, war das peinlich! Der fette Kloß in meinem Hals nahm mir beinahe den Atem. Instinktiv wollte ich nach meinem Glas greifen, doch vor mir stand nichts, und unser Grafensteiner Herrengedeck hatte Ballensiefen auch inzwischen längst abgeräumt.

Die Staatsanwältin lächelte immer noch.

»Zunächst möchte mich und meine Mannschaft offiziell vorstellen. Ich bin Staatsanwältin Stefanie Michels, die beiden Herren zu meiner Rechten Kriminalhauptkommissar Hasso Schäfer und Kriminalhauptmeister Kroppke, und die Dame neben mir ist Frau Lydia Sartorius. Sie leitet die Kriminaltechnik in Trier.«

Ich atmete tief durch. Lydia. Das klang nach Mittelmeer, nach Griechenland. Ich sah Gigantes, gefüllte Weinblätter und Tarama auf Weißbrot vor meinem geistigen Auge. Und Kisten voll Retsina, Glikis und Malagousia. Der verdammte Kloß wollte trotzdem nicht verschwinden.

Caddy begann unruhig in seinem Sessel hin und her zu rutschen.

»Ich hab nix damit zu tun. Ich bin nur ganz zufällig hier. Eh, ich schwör!«

Schäfer runzelte die Stirn.

»Ob Sie irgendwas mit dem hier zu tun haben oder nicht, dass überlassen Sie gefälligst uns. Name, Anschrift, Beruf?«

»Eh, ich sag doch, ich hab nix damit zu tun», jammerte Caddy weiter.

»Wenn Sie jetzt nicht sofort meine Frage beantworten, dann nehme ich Sie mit aufs Präsidium, verdammt nochmal!«

Jetzt wurde es mir zu bunt. Ermittlungsarbeit hin oder her, aber so ging man nicht mit unbescholtenen Bürgern um.

»Hallo, geht's noch? Was soll der Aufstand? Hier sitzen ein paar stinknormale steuerzahlende Bürger beim zweiten Frühstück beisammen, und Sie platzen herein und behandeln uns wie Leute von der Mafia. Was ist denn überhaupt passiert? Ich hörte was von einer weiblichen Leiche.«

 

Jetzt war ich doch mal gespannt, wie Schwester Stefanie auf meinen etwas ruppigen Ton reagierte. Das tat sie. Sogar ziemlich cool. Mit jedem Satz wurde der Ton in ihrer Stimme allerdings schärfer.

»Sieh an, der Herr Brenner. Nett, Sie wiederzusehen. Sie haben natürlich recht. Wir platzen hier einfach in Ihre Unterhaltung hinein und fangen an, lästige Fragen zu stellen. Ich kann Sie natürlich auch aufs Präsidium nach Trier bestellen, falls Ihnen das lieber ist. Für uns wäre das auf jeden Fall bequemer. Also, was denken Sie?«

Ballensiefen kam mit einem Tablett aus der Küche.

»Lassen Sie mal. Das geht schon in Ordnung. Morgen wäre nämlich ganz schlecht. Da kommt der Getränkelieferant.«

»Ja, nee. Kein Problem.«

Das war Caddy. Als Tunesier hatte er schon von Hause aus Schiss vor der Obrigkeit. Memo an mich: Das muss ich ihm unbedingt abgewöhnen. Wir waren hier schließlich an der Mosel und nicht irgendwo auf dem Tahrir-Platz.

»Ich habe dem Breitenbach übrigens schon alles gesagt, was ich weiß«, fügte Ballensiefen hinzu und stellte mit gekonntem Schwung die Kaffeetassen ab.

Stefanie Michels nickte dankbar und nahm einen Schluck.

»Wer von Ihnen hat die Tote eigentlich gefunden?«

»Von uns niemand«, räumte Ballensiefen ein. »Das war eine Angestellte von mir.«

»Und wo steckt die Dame?«

»Die habe ich nach Hause geschickt. Dana war völlig geschockt von dem Erlebnis.«

»Dana, wer? Anschrift, Telefonnummer, Arbeitspapiere!«

Hasso Schäfer konnte offenbar keine zusammenhängende Sätze sprechen. Ballensiefen machte die erforderlichen Angaben, und Kroppke kritzelte eifrig seinen Notizblock voll. Staatsanwältin Michels erhob sich und trat an unseren Tisch. Dabei funkelten ihre Augen erneut in einem gefährlichen Gletschereisgrün.

»Hat einer von Ihnen in letzter Zeit etwas Verdächtiges in der näheren Umgebung beobachtet? Irgendwelche Fremde, die sich auffällig benommen haben?«

Ich lachte hell auf.

»Liebe Frau Staatsanwältin, falls es Ihnen entgangen sein sollte: Grafenstein ist ein Ausflugsort. Wir haben hier jedes Wochenende unzählige Fremde zu Besuch. Wir leben schließlich vom Tourismus. Glauben Sie ernsthaft, in Grafenstein hätte irgendjemand Zeit und Lust, Touristen zu observieren?«

»Nun hören Sie auf hier herum zu kaspern«, knurrte Schäfer. »Sie sind mir schon gestern Nachmittag gehörig auf den Keks gegangen.«

»Das Kompliment reiche ich gerne zurück«, konterte ich verstimmt.

Porsche fahrende Hauptkommissare, die erstmal alles und jeden unter Generalverdacht stellen, waren mir schon seit jeher zuwider. Unwillkürlich fielen mir meine Ermittlungserfolge in Bochum ein. Vermutlich hätte ich vor fünf Jahren nicht viel anders reagiert.

 

In diesem Augenblick schleppten Lanzerath und Breitenbach einen dunklen Plastiksack zum Leichenwagen. Sylvia Roth hielt es nicht mehr in ihrem Sessel. Mit gezückter Kamera sprang sie auf und stürzte zur Tür. Schäfer wollte ihr hinterher, aber die Staatsanwältin winkte ab. Ich nutzte die Gelegenheit, um noch eins drauf zu setzen.

»Wer ist eigentlich die Tote? Wenn wir Ihnen helfen sollen, dann müssten wir erst mal wissen, um wen es sich dabei überhaupt handelt. Ich hörte, die Frau habe ein Loch in der Brust? Schussverletzung?«

Die Staatsanwältin seufzte und gab der anderen Frau am Tisch ein Zeichen. Lydia Sartorius rührte immer noch in ihrem Cappuccino herum. Inzwischen war der Milchschaum in ihrer Tasse komplett zusammengefallen. Sie schien das allerdings überhaupt nicht zu stören.

»Knapp sechzigjährige Frau«, begann sie mit leiser Stimme. Man musste schon seine Lauscher gehörig aufstellen, um die junge Frau zu verstehen.

»Deutsche Staatsbürgerin. Den Papieren nach wohnte sie jedoch zuletzt in Belgien. Spa, um genau zu sein. Da liegt der Verdacht nahe, dass es sich um eine Touristin handelt. Und ja, aller Wahrscheinlichkeit nach ist sie erschossen worden.«

»Und wie heißt die Tote?« wollte ich wissen.

Lydia Sartorius warf der Staatsanwältin einen fragenden Blick zu. Die nickte nur.

»Es handelt sich um eine gewisse Erna Leinfeld.«

»Schon mal gehört?« mischte sich der Kriminalhauptkommissar ein.

Ich schaute in die Runde. Kurzes Nachdenken, allgemeines Kopfschütteln. Hatte ich auch nicht anders erwartet. Ich wandte mich wieder an Lydia Sartorius.

»Und dass die Frau erschossen wurde, steht zweifelsfrei fest?«

Die Chefin der Trierer KTU nickte.

»Vermutlich mit einer Neunmillimeter Parabellum. Meiner Einschätzung nach aus nächster Nähe. Die Kugel steckt im Rücken zwischen dem fünften und sechsten Rippenbogen fest. Alles Weitere ist Aufgabe des Rechtsmediziners. Die Frau war jedenfalls auf der Stelle tot.«

»Ist der Fundort der Tatort?«

»Wohl kaum. Bei einem Herzdurchschuss verliert ein Mensch ungeheure Mengen Blut. Am Fundort der Leiche jedoch...«

Stefanie Michels schnitt ihr mit einer Handbewegung das Wort ab.

»Das sollte erst einmal genügen, um den Wissensdurst unseres Herrn Brenner zu stillen.«

Ihr Lächeln wirkte so herzlich wie das eines südamerikanischen Brillenkaimans angesichts eines kieloben treibenden Kanus.

 

»Nun zu Ihnen, meine Herrschaften. Als erstes möchten wir ihre Alibis prüfen. Herr Brenner, wo waren Sie zum Beispiel zwischen gestern Mittag und heute gegen etwa neun Uhr?«

Willst du mich verarschen? Ich saß mit Gregor, dir und dieser Porsche fahrenden Schimanski-Imitation in der Grafensteiner Realschule. Schon vergessen? Und ohne Anwalt sage ich jetzt sowieso nichts mehr. Ich bin dann mal weg. Schönen Tach noch, Gnädigste! Alles weitere schriftlich!

Ich riss mich zusammen.

»Sie fragen mich nach meinem Alibi? Weshalb? Stehe ich etwa unter Verdacht?«

Das Lächeln des südamerikanischen Brillenkaimans fror schlagartig ein. Bravo, Hagen! Du solltest dich zur Krisenprävention im Nahost-Konflikt melden!

»Sie wissen doch, wo ich nachmittags war. Zusammen mit Ihnen und den Herren von der Kripo in der Grafensteiner Realschule. Schon vergessen? Und anschließend habe ich mit Freunden bei mir auf dem Weingut gefeiert. Bis spät in die Nacht.«

Stefanie Michels schaute in die Runde.

»Kann das jemand bestätigen?«

»Ja, ich!« rief Caddy. »Ich war den ganzen Abend oben beim Brenner. Ich schwör! Ich hab auch ein Alibi!«

»Stimmt das?« fragte die Staatsanwältin, wobei das Lächeln des Brillenkaimans vollständig verschwand. Es hatte den Anschein, als hätten sich die Besitzer des umgeschlagenen Kanus noch rechtzeitig ans Ufer retten können. So ein Elend!

»Wenn er es sagt«, grinste ich.

Sie drehte sich zu Ballensiefen herum.

»Und Sie? Wo waren Sie zu besagter Zeit?«

Ballensiefen überlegte einen kurzen Augenblick.

»Nachmittags hatte ich einen Geschäftstermin. Um achtzehn Uhr habe ich wie gewohnt mein Lokal aufgemacht und gegen ein Uhr in der Frühe zugesperrt. Dann habe ich noch aufgeräumt und die jungen Damen nach Hause gefahren.«

»Und sind bei denen bestimmt bis zum frühen Morgen geblieben, was?« fragte Schäfer ziemlich anzüglich.

»Blödsinn«, widersprach Ballensiefen. »Ich habe eine minderjährige Tochter im Haus.«

»Dann haben Sie für die Zeit zwischen, sagen wir zwei Uhr in der Frühe und neun Uhr vormittags, als der Anruf bei uns eintraf, also kein Alibi. Schreiben Sie das auf, Kroppke!«

Kriminalhauptmeister Kroppke machte sich weiter eifrig Notizen.

»So ein Quatsch!« schimpfte Ballensiefen. »Wieso überhaupt Alibi?«

Gleichzeitig deutete er auf mich.

»Herr Brenner hat schon recht. Stehen wir etwa unter Verdacht? Falls ja, dann sage ich jetzt nur noch was im Beisein meines Anwalts.«

Wütend begann er das Geschirr abzuräumen und mit seinem Geschirrtuch herum zu wienern.

Stefanie Michels schnappte sich ihre Handtasche.

»Machen wir Schluss für heute! Ihre Adressen haben wir ja. Ich möchte Sie dennoch bitten, Grafenstein bis auf Weiteres nicht zu verlassen. Haben wir uns verstanden?«

»Und wer räumt den Kram da draußen weg?« wollte Ballensiefen wissen und deutet auf das rot-weiße Flatterband vor seinem Restaurant.

»Hängen lassen, bis die Ermittlungen abgeschlossen sind!« knurrte Schäfer.

»Und was sage ich meinen Gästen, wenn sie mich danach fragen?«

Stefanie Michels Lächeln hatte inzwischen die Wärme einer Tiefkühltruhe angenommen.

»Von mir aus die Wahrheit. Sie haben da völlig freie Hand.«

Zur gleichen Zeit fuhr draußen eine schwarze Mercedes-Limousine vor. Eine Frau stieg aus, richtete ihr Jackenkleid und stakste auf die Eingangstür von Ballensiefens Restaurant zu. Die hatte uns gerade noch gefehlt!

»Was geht hier vor?«

 

Auftritt Mutter der Nation. Melanie Balfelder, 48, Bürgermeisterin von Grafenstein, verheiratet mit dem drei Jahre jüngeren Stefan Balfelder, Besitzer des örtlichen Supermarkts. Im Doppelpack quasi die 'graue Eminenz' im Ort. Sie, weil sie mehr oder weniger den halben Gemeinderat hinter sich hatte und in Grafenstein somit politisch schalten und walten konnte, wie es ihr beliebte. Er wegen eines Erbvermögens, das infolge besagter Fehlspekulation im Neubauviertel jedoch um einiges geschrumpft war. Wie zumindest gewöhnlich gut unterrichtete Kreise zu wissen behaupteten.

Stefanie Michels schaute die unerwartete Besucherin erstaunt an.

»Darf ich erst mal fragen, wer Sie sind?«

»Melanie Balfelder, Bürgermeisterin von Grafenstein. Hier liegt eine Leiche im Yachthafen?«

Sie wandte sich an unseren Gastwirt.

»Ballensiefen, was haben Sie denn jetzt schon wieder angestellt? Wie um alles in der Welt konnte Sowas passieren?«

Tuttifruttis Gesichtszüge waren nahe dran zu entgleisen.

»Immer noch Herr Ballensiefen, Gnädigste! Soviel Zeit muss sein. Zweitens, was weiß denn ich?«

Er deutet auf die Staatsanwältin und die übrigen Ermittlungsbeamten, die immer noch am Tisch hockten.

»Sind Sie hier der Verantwortliche?« fragte Melanie Balfelder und wandte sich dabei an Hasso Schäfer.

Typisch Balfelderin. Dass außer ihr ein anderes weibliches Wesen in irgendeiner Form was zu sagen haben könnte, lag außerhalb ihres Vorstellungsvermögens. Ehe Schäfer auch nur einen Mucks machen konnte, baute sich Stefanie Michels vor unserer Bürgermeisterin auf.

»Ich bin die ermittelnde Staatsanwältin, liebe Frau Balfelder. Mein Name ist Michels. Und nun nehmen Sie bitte Platz, wir waren noch nicht fertig.«

»Ich will auf der Stelle Näheres über die Umstände erfahren«, ereiferte sich die Bürgermeisterin. »Aber falls Sie meinen, es wäre sinnvoller, dass ich mich wegen dieses Zirkus, den Sie hier veranstalten, direkt an die Oberstaatsanwältin...«

Sie ließ die Konsequenz offen und schaute ihr Gegenüber herausfordernd an.

Dramaturgisch einwandfreier Auftritt. Das hatte 'Tatort'-Niveau. Ein Hauch von Zwölf Uhr wehte durch Ballensiefens Lokal. Man hätte es auch ganz banal Zickenkrieg nennen können.

»Sie lassen mich ja nicht zu Wort kommen.«

Gut gekontert. Love-fifteen.

Melanie Balfelder warf einen gehetzten Blick auf ihre Armbanduhr.

»Hurtig, meine Liebe! Ich muss zurück ins Rathaus. Also, ich höre!«

Stefanie Michels zog die Bürgermeisterin in eine Ecke am Fenster, wo sie ungestört plaudern konnten. Die wiederum hakte, wenn ich den gequälten Gesichtsausdruck der Staatsanwältin richtig deutete, mehrmals hartnäckig nach und verschwand dann wieder ebenso grußlos, wie sie kurz vorher aufgetaucht war, von der Bildfläche. Auch das Ermittlungs-Quartett packte seine Siebensachen und sah zu, dass es Land gewann.

»Die haben nicht mal bezahlt«, beschwerte sich Ballensiefen.

 

Da ich mit ihm noch ein paar Weinlieferungen zu bequatschen hatte, war ich anschließend der Letzte aus unserer Truppe, der das Restaurant verließ. Draußen auf dem Parkplatz kam Julia-Schätzchen auf ihrem Motorroller auf mich zu gebraust. Ich winkte ihr zu. Keine Reaktion. Kurzerhand stellte ich mich ihr in den Weg, und wäre beinahe zu einem interessanten Fall für die Notfallchirurgie geworden. Zum Glück bekam sie den Roller gerade noch vor mir zum Stehen.

»Geht's noch?« fauchte sie mich an.

»Ich wollte dir nur was zum Abschied sagen«, konterte ich und griff zum Zündschlüssel, um das Knatterteil erst einmal zum Schweigen zu bringen.

»Und was?«

»Ich sag dir das nur einmal, Liebelein. Lasst gefälligst euren Rektor in Frieden. Das mit seinem angeblichen Account bei MyHistory, ist ja wohl völlig daneben. Einfach von woanders Bilder aus dem Internet herunterladen, die Köpfe herausschneiden, anschließend sein Gesicht hinein kopieren und verfälscht ins Netz stellen. Habt ihr sie noch alle? Wer von euch Idioten ist eigentlich auf eine solch hirnrissige Idee gekommen?«

Julias Gesichtsausdruck wechselte von verblüfft in nachdenklich und kurz darauf in ein zynisches Grinsen.

»Ach, nee«, ließ sie sich geradezu genüsslich auf der Zunge zergehen. »Wie geil ist das denn? Den Weisz haben sie auf MyHistory verarscht? Davon wusste ich ja noch gar nichts. Hast du die Zugangsdaten, oder kommt man da so rein?«

Mir lief es heiß und kalt den Rücken hinunter. Ich Idiot! Zumindest die Kids bei uns im Ort schienen von dem Damoklesschwert, das seit einigen Tagen über dem Kopf ihres Realschulrektors schwebte, noch gar nichts mitbekommen zu haben. Ausgerechnet die größte Plaudertasche an der Grafensteiner Realschule musste ich förmlich mit der Nase drauf stoßen. Wie bescheuert konnte einer allein eigentlich sein? Ich hatte aber zum Glück noch was anderes in petto.

»Du solltest ein bisschen vorsichtiger mit deinem Umgang sein, mein Herz. Der Max Balfelder ist doch dein Freund, oder?«

Julia schob herausfordernd ihr Kinn vor.

»Wer will das wissen?«

»Werd gefälligst nicht frech.«

»Du musst nicht alles glauben, was die Prolos in diesem Kaff behaupten. Ich und Max! So ein Blödsinn!«

Die aufsteigende Morgenröte in ihrem Gesicht deutete jedoch an, dass sie sich, drücken wir es mal charmant aus, ertappt fühlen durfte.

»Na, dann ist's ja gut«, meinte ich nur und wollte mich schon abwenden.

Die Kleine hielt mich am Ärmel fest. »Was ist gut?«

»Ach, vergiss es. Der Max hat lediglich schlechten Umgang. Stichwort Bernd Düsing und die Borussen-Kameradschaft.«

Die Fünfzehnjährige runzelte die Stirn.

»Was für eine Kameradschaft?«

»Hast du Stöpsel in den Ohren? Die Borussen-Kameradschaft. Irgend ein verirrter Neonazi-Haufen aus dem Ruhrpott. Jedenfalls hochkriminell. Düsing ist strammer Gefolgsmann von denen, und Max offenbar sein virtueller Kumpel. Meine Güte, Julia! Habt ihr es wirklich nötig, euch mit solchen Typen einzulassen?«

Ich holte tief Luft.

»Aber nochmal zurück zu Gregor Weisz. Mobbing ist die eine Sache, Verleumdung und üble Nachrede sind jedoch eine ganz andere Kiste. Sowas kann ganz übel nach hinten losgehen. Ich sage dir das jetzt in aller Freundschaft, damit du dich hinterher nicht beschwerst, wenn sie dich wegen irgendwas dran kriegen. Denk nur mal an die Prozesse wegen illegaler Musik-Downloads. Sowas geht ratzfatz, und anschließend steckst du ganz schön in der Scheiße, mein Frollein. Halte dich also nur ja zurück. So, und nun hau ab. Viel Spaß in der Schule.«

Julia zog nur verächtlich die Nase hoch. Hupend und gleichzeitig mit der linken Hand winkend brauste sie davon. Mist! Das war jetzt aber richtig in die Wicken gegangen. Denn ob sich Julia an meinen gut gemeinten Ratschlag halten würde, da hatte ich so meine berechtigten Zweifel. Armer Gregor! Ich deiner Haut möchte ich nicht stecken, wenn du morgen in der Schule auftauchst. Sollte ich ihn vorwarnen? Besser nicht. Hinterher stand ich vielleicht noch selbst als Denunziant da. Eines stand allerdings fest: Die Kids in Grafenstein waren wohl kaum für den gefälschten Webauftritt bei MyHistory verantwortlich. Julia hätte davon mit Sicherheit als Erste erfahren, wenn sie nicht sogar selbst dabei mitgemacht hätte. Blieb nur die Frage, wer steckte in Wahrheit dahinter? Und wer trug Verantwortung für die Bilder auf dem Schulrechner? Da musste wohl mal wieder Miss Sophie mit Rat und Tat zur Seite stehen.

 

 

 

 

Kapitel 7

 

 

Und wie man vom Teufel spricht...

Mein Unimog rollte gerade auf die einzige freie Lücke auf dem Rathausparkplatz zu, als ich mit voller Wucht auf das Bremspedal treten musste. Der Diesel verblubberte mit asthmatischem Seufzen, da ich in der Eile gar nicht dazu gekommen war, die Kupplung zu treten. Ich musste zweimal hinschauen. In die gerade noch freie Parklücke flutschte in diesem Moment ein wie aus dem Nichts aufgetauchter Volvo-Kombi hinein. Normalerweise wäre ich jetzt etwas angesäuert aus der Fahrerkabine gesprungen und hätte dem Kerl in seinem rollenden IKEA-Kleiderschrank mal gehörig die Leviten gelesen, aber die Karre gehörte zu meinem Fuhrpark. Was sollte ich machen? Gegen meine eigenen Leute Anzeige erstatten?

»Sagt mal, habt ihr sie noch alle?« rief ich durch die halb heruntergekurbelte Seitenscheibe.

Im gleichen Moment kletterten Karl und Sophia aus dem Wagen. Anschließend öffnete mein Anverwandter in aller Seelenruhe die Heckklappe. Wie der Blitz stob ein irischer Wolfshund auf den Unimog zu, knurrte sich dabei heiser und pinkelte erst einmal demonstrativ gegen das linke Vorderrad. Das war zuviel! Gleich morgen würde ich Caddy fragen, ob er einen tragbaren Hochdruckreiniger in seinem Programm führte. Dem Köter gehörte endlich mal eine gehörige Abreibung verpasst! Mein Onkel schlug die Heckklappe zu und grinste breit.

»Wo hast du deinen Führerschein gemacht?« rief ich quer über den Parkplatz. »In Mesopotamien?«

Mein Onkel runzelte die Stirn und tat so, als müsse er nachdenken.

»Was für einen Führerschein?«

Ich schnappte nach Luft.

»Bist du des Wahnsinns? Wenn dich der Breitenbach erwischt, dann bin ich mit dran.«

Inzwischen setzte hinter mir ein regelrechtes Hupkonzert ein. Da ich praktisch immer noch quer zwischen den beiden Parkreihen stand, kam weder vor noch hinter mir jemand vorbei.

»Reg dich nicht auf«, meinte Karl. »Natürlich habe den Führerschein gemacht, aber das war, wenn ich mich recht erinnere, irgendwann in den Fünfzigern, und wo der heute steckt, das wissen höchstens die Götter oder die Müllabfuhr.«

»Eh, du Spinner!« brüllte eine Stimme hinter mir.

Ich drehte mich herum. Hinter mir stand ein Dreier-BMW mit rot-gelber Flammenlackierung auf der Motorhaube und Breitreifen im XXL-Format. Tiefergelegt passend zum Intelligenzquotienten der platinblond gefärbten Friseuse auf dem Beifahrersitz. Als ich aus der Kabine des Unimog kletterte, schwang auch die Fahrertür des BMW auf. Ein Einsneunzig-Hüne kletterte hinter seinem illegal eingebauten Ralleylenkrad hervor.

»Eh, hast du Problem, Mann?«

Ich muss wohl nicht erwähnen, dass sich der irische Flohzirkus wie auf Kommando auf seine vier Buchstaben hockte und keinen Mucks mehr von sich gab.

»Wann lernst du endlich richtig deutsch?« schnauzte ich zurück.

Er hob den rechten Arm, die Finger seiner Hand mit den fünf klobigen Goldringen dabei weit abgespreizt. Ich folgte seinem Beispiel. Unsere Hände fassten ineinander. Einen Wimpernschlag später wurde ich ziemlich derb gegen eine erst kürzlich von erfahrener Frauenhand enthaarte Männerbrust gedrückt.

»Jou, Alter!« meinte der Kerl, als er mich wieder freigab. »Was geht ab?«

Ich klopfte Murad auf die Schulter.

»Bin voll im Stress, Junge. Geschäfte, weißt schon«

»Eh, geht klar. Aber jetz' verpiss disch mit die Karre! Muss mit Schantall zum Dokter. Eh, voll den Termin, Alter.«

»Ist die schwanger?« rutschte es mir heraus.

»Nee, Zahnschmerz. Voll krass das Scheiß-Piercing in die Oberlippe.«

»Dann hau rein«, meinte ich nur und fuhr den Unimog beiseite.

»Sind die Leute hier im Ort eigentlich alle so liebenswürdig?« fragte mein Onkel.

Währenddessen hakte sich Miss Sophie bei ihm unter. Ja, man glaubte es nicht!

»Nur, wenn sie gut aufgelegt sind.«

Ich warf Robespierre, der mich wie üblich keine Sekunde aus seinen wachsamen Knopfaugen gelassen hatte, einen bitterbösen Blick zu.

»Du bist mir ja vielleicht ein schöner Wachhund! Was hättest du eigentlich gemacht, wenn das nicht der liebe Murad gewesen wäre, hm? Applaus gebellt? Böser Hund!«

Anschließend hatte ich einen Grund mehr, meine Uralt-Jeans endlich gegen ein neues Exemplar auszutauschen.

 

»Was treibt ihr eigentlich in Grafenstein?«

Wir schlenderten zu dritt nebst einem sichtlich brummeligen Vierbeiner die Fußgängerzone entlang. Die Regenwolken hatten sich zum Glück verzogen, und hin und wieder ließ sich sogar die Sonne blicken. Sophia steuerte einen freien Tisch vor unserer italienischen Eisdiele an.

»Wir wollten eigentlich nur ein bisschen bummeln«, meinte Karl und packte seinen irischen Hirtenteppich sicherheitshalber am Halsband, da von weitem ein Kahlkopf mit einem Bullterrier ohne Maulkorb auf uns zukam.

Der Bulli brachte sich fast um, als er uns zusammen mit seinem Herrchen passierte. Der Köter zerrte und riss an seinem Geschirr, dass es nicht feierlich war. Dabei bellte er sich förmlich die Lunge aus dem Hals. Bellen konnte man das eigentlich nicht nennen. Es klang eher wie das heisere Röcheln eines Lungenkranken nach zweitausend Stangen inhalierter türkischer Zigaretten. Der Glatzkopf warf dem alten Herrn einen hämischen Blick zu, hob den Mittelfinger und ging weiter, als sei nichts geschehen. Robespierre hatte indes nicht einmal ansatzweise die Nackenhaare gesträubt.

»Schrecklich, diese Kerle«, meinte die alte Dame, als wir an einem der freien Tische Platz nahmen. »Seit der Schröder im Gemeinderat sitzt, tauchen diese Typen immer häufiger bei uns auf. Ich weiß gar nicht, wo das noch hinführen soll.«

Ich schaute sie erstaunt an.

»Neonazis? Bei uns in Grafenstein?«

Sophia nickte und zog ihr Tablet aus der Handtasche. Sie tippte ein paar Mal auf der Oberfläche herum und hielt mir das Display anschließend unter die Nase.

»Schau selbst! Alles Mitglieder der 'Borussen-Kameradschaft'. Organisiert sind die inzwischen wie eine Rockergruppe. Stammen ursprünglich aus dem Ruhrgebiet, tauchen inzwischen aber beinahe überall dort auf, wo sich das braune Gesindel niederlässt.«

»Dann gibt es also doch eine direkte Verbindung zwischen Schröder und den Neonazis.«

Sophia winkte ab.

»Das weiß ich, das weißt du, aber beweisen kann man es nicht. Schröder will offiziell von all dem nichts wissen. Seine 'Bürgerinitiative Grafenstein' sei angeblich eine Interessenvereinigung konservativer Mitbürger, demokratisch gewählt und voll hinter der Verfassung stehend.«

»Dass ich nicht lache!«

Schließlich fiel mir wieder ein, worüber ich mit Miss Sophie eigentlich hatte reden wollen.

»Schon von der Toten bei uns im Hafen gehört?«

Karl blickte hoch.

»Eine Tote? Im Hafen?«

Ich nickte.

»Eine etwa sechzigjährige Frau.«

Auch Sophia schien einigermaßen verblüfft.

»Wer soll das denn sein?«

»Touristin. Eine Deutsche, wie man hört. Wohnte zuletzt angeblich in Belgien.«

»Weißt du Näheres?«

Ich nickte erneut.

»Eine gewisse Erna Leinfeld. Nie gehört. Sie soll erschossen worden sein.«

Mein Onkel zog seine Stirn in Falten.

»Erschossen?«

»Behauptet jedenfalls die Spusi. Ich jedenfalls kann mich nicht daran erinnern, wann zuletzt mal jemand in Grafenstein oder Umgebung umgebracht worden ist.«

»Wer hat die Tote eigentlich gefunden?« wollte Sophia wissen.

Der Kellner brachte unsere Getränke und ein Schälchen Wasser für den laufenden Bettvorleger. Robespierre leckte dem Italiener die Hand. Widerlich!

»Eine Angestellte vom Ballensiefen. Dana Ionescu. Stammt aus Siebenbürgen.«

»Rumänien?«

»Klar, oder kennst du noch ein anderes Siebenbürgen?«

Die alte Dame runzelte die Stirn.

»Nora sprach vor geraumer Zeit mal von einer gewissen Dana. Die hat Noras Chef jedoch kurzerhand vor die Tür gesetzt. Er meinte, mit Prostitution wolle er nichts zu tun haben.«

Ich schaute auf.

»Die Dana ist 'ne Nutte?«

Sophia warf mir einen strengen Blick zu.

»Hagen, ich bitte dich! Nutte ist ein Schimpfwort. So wie Neger oder Eskimo.«

Mein Onkel runzelte die Stirn.

»Eskimo ist ein Schimpfwort?«

Jetzt erhielt Karl eine Strafpredigt.

»Man merkt, dass Sie die letzten zwanzig Jahre offenbar irgendwo am Rande der Zivilisation gelebt haben. Möchten Sie etwa in aller Öffentlichkeit 'Rohfleischfresser' genannt werden? Eskimo bedeutet nämlich nichts anderes.«

»Oha!«, meinte er nur.

Sophia wandte sich wieder an mich.

»Wie ich von Nora erfahren habe, kam Dana vor ein paar Jahren mit einer Schlepperbande nach Deutschland und arbeitete seitdem in verschiedenen Bordellen. Was sie allerdings ausgerechnet nach Grafenstein verschlagen hat, das weiß ich auch nicht.«

»Und die Olga?« rutschte mir heraus. »Olga Dumitrescu. Das ist die andere Rumänin. Sie arbeitet auch beim Ballensiefen. Die beiden Frauen wohnen zusammen.«

Sophia tippte auf der Oberfläche ihres Tablets herum.

»Ionescu und Dumitrescu sind in Rumänien so geläufige Namen wie bei uns Müller, Meier, Schulze. Wenn ich Sowas in die Suchmaske eingebe, dann erhalte ich beinahe zehntausend Einträge. Und neunundneunzig Prozent der Einträge sind auf Rumänisch.«

Ich schaute die alte Dame auffordern an.

»Und Dana Ionescu hat tatsächlich als Prostituierte gearbeitet?«

Sophia nickte und verstaute das Tablet wieder in ihrer Handtasche.

»Nichts Ungewöhnliches für junge Frauen aus den ehemaligen Ostblockgebieten. Mit dem, was die da drüben gelernt haben, bekommen die hier bei uns doch kein Bein auf die Erde. Nora erzählte mir letztens von einer Kollegin, die aus Weißrussland stammt. Nadeshda verdient wie Nora ihr Geld beim Table-Dance. Dabei ist sie ausgebildete OP-Krankenschwester. Aber ihr Diplom ist bei uns praktisch wertlos.«

»Warum bleiben sie nicht dort, wo sie herstammen?« fragte ich.

Sophia setzte ihre Lehrermiene auf.

»Weil manch einer im Leben eine Perspektive sucht. Es erbt halt nicht jeder gleich ein Weingut.«

Das saß. Karl lächelte.

»Touché.«

Robespierre begann zu knurren. Ich warf ihm einen bitterbösen Blick zu.

»Du bist gefälligst ganz ruhig. Wegen dir kann ich mir jetzt nämlich eine neue Jeans kaufen.«

 

Wir blieben noch eine Weile sitzen, während sich die Sonne inzwischen immer häufiger ihren Weg durch die Wolkenfelder bahnte. Ich blickte mich verstohlen um. Eigentlich ein liebenswertes Flecken Erde, dieses Grafenstein. Hier gab es alles, was man zum Leben braucht. Einzelhandel, mehrere Schulen, Ärzte, Apotheken, Abendunterhaltung für jedes Semester. Grafenstein war eines der Publikumsmagnete an der Mosel. Ein dichtes Wegenetz lockte alljährlich zahlreiche Wanderer zum Durchforsten unserer Weinbauregion an, Kinder und Jugendliche konnten sich währenddessen im Erlebnispark außerhalb des Ortszentrums austoben, und für die Begüterten gab es den Yachthafen, eine Tennisanlage und neuerdings sogar einen Golfplatz.

Wenn man allerdings etwas tiefer unter der Oberfläche schürfte, stellte man rasch fest, dass die meisten Betriebe einer alteingesessenen Familie gehörten. Die Finger der Balfelders steckten in beinahe jeder größeren Unternehmung mit drin. Und das schaffte Neid. Vor allem deshalb, weil Melanie Balfelder zwar erst seit rund fünfzehn Jahren in Grafenstein lebte, politisch und wirtschaftlich jedoch längst Gemeinderat und örtlichen Einzelhandelsverband dominierte. So richtig böse Stimmen bei uns im Ort sprachen bereits von Verhältnissen wie in der ehemaligen DDR und bezeichneten Melanie Balfelder und das nicht einmal hinter vorgehaltener Hand zuweilen als 'Frau Staatsratsvorsitzende'. Politisch wäre sie ohne das Vermögen ihres Mannes allerdings nie so weit gekommen.

Woher das Kapital der Balfelders ursprünglich stammte, das wollte in Grafenstein auch niemand so genau wissen. Gewöhnlich gut unterrichtete Kreise schworen Stein und Bein, der alte Balfelder, Stefans Großvater, hätte vor Kriegsausbruch Ländereien von Juden aus der Umgebung aufgekauft im Gegenzug für die Hilfe bei der Flucht ins Ausland. Andere im Ort hielten an der Meinung fest, Hans Balfelder hätte selbst gute Kontakte zu den Nazis gehabt und die ausreisewilligen Juden beim Verkauf ihres Grund und Bodens nach allen Regeln der Kunst abgezockt. Stefan Balfelder pflegte derartige Gerüchte mit dem Totschlag-Argument vom Tisch zu fegen, sein Großvater sei wegen seiner Kritik an den Durchhalteparolen des Führers kurz vor Kriegsende beinahe noch im KZ Buchenheim gelandet. Einem Mitglied der NSDAP wäre Sowas ja wohl kaum passiert.

 

Karl erhob sich, tätschelte dem irischen Wolfshund den Kopf und ermahnte ihn mit einem gezischten »Place!« liegenzubleiben. Dann zwinkerte er mir zu, schnappte sich mein Portemonnaie und ging nach drinnen, um zu bezahlen.

Ich lehnte mich in meinem Korbsessel zurück und grinste Sophia an. Gleichzeitig nickte ich mit dem Kopf in Richtung Theke.

»Muss ich mir Sorgen machen?«

Sophia verzog keine Miene.

»War ja klar, dass es dir keine Ruhe lässt, wenn du Karl und mich gemeinsam bummeln siehst. Aber sei unbesorgt. Dein Onkel wäre viel zu jung für mich.«

Dabei sah sie mich mit geradezu entwaffnender Gleichgültigkeit an.

»Zu jung?« platzte es aus mir heraus. »Entschuldige mal, er ist fünfundsiebzig.«

Die alte Dame nickte.

»Eben. Umgekehrt wäre das etwas anderes. Im übrigen ist er ja sowieso nur auf der Durchreise.«

Ich horchte auf. Endlich mal gute Nachrichten.

»Wie er mir versicherte, bleibt er wohl nur ein paar Tage in der Gegend und will dann weiter«, fügte sie ein wenig zögerlich hinzu. »Wohin hat er mir allerdings nicht verraten.«

An der Theke schäkerte der Alte mit der bestimmt dreißig Jahre jüngeren Eisdielenbesitzerin herum.

»Aber mal was anderes, Bub. Du bist fünfundvierzig und immer noch unverheiratet. Das ist doch wohl nicht normal.«

»Was soll daran nicht normal sein?«

Im gleichen Augenblick wechselte eine attraktive Rotblonde die Straßenseite und schlenderte auf unseren Tisch zu. Ein mildes Lächeln huschte über Sophias Gesicht. Miss Sophie hatte ihre Augen aber auch wirklich überall.

»Ja, wen haben wir denn da?« ertönte eine helle Stimme. »Dass man dich auch mal im Städtchen antrifft.«

 

Auftritt Lena zu Ahrenfels, Tochter von Brunhild zu Ahrenfels, ihres Zeichens Burggräfin und Großgrundbesitzerin im Grafensteiner Ländchen. Mehr Landadel ging eigentlich gar nicht mehr. Lena war dreißig Jahre jung, besaß eine Körpergröße knapp über Gardemaß und den wohl schönsten rotblonden Lockenschopf der Region. Schon zu Jugendzeiten nannte man sie die 'rote Lorelei von der Mosel'. Angeblich soll irgendwann sogar L'Oreal wegen Werbeaufnahmen an sie herangetreten sein. Doch Sowas galt in Adelskreisen natürlich als völlig indiskutabel. Wo kämen wir denn da hin?

Lena drückte der alten Dame die Hand und nahm unaufgefordert in einem der freien Sessel Platz. Besser gesagt, sie ließ sich nieder. Sehr vornehm, sehr aristokratisch, so, als hätte es die französische Revolution nie gegeben. Ich atmete tief durch. Die hatte mir gerade noch gefehlt! Robespierre erhob sich und legte seine Schnauze auf ihr linkes Knie. Dabei warf er der jungen Frau einen geradezu herzerweichenden Hundeblick zu. Sie nahm seine pelzige Schnauze in beide Hände und rieb ihm die Lefzen. Das hätte ich mal machen sollen! Ich wäre ein interessanter Fall für die Handchirurgie im Koblenzer Bundeswehrkrankenhaus geworden.

»Du bist aber ein Braver. Ja, fein!«

»Der Köter heißt Robespierre. Ich hoffe, du weißt, was mit seinem Namensgeber vor zweihundert Jahren passiert ist. Ach, nur so am Rande, wo hast du eigentlich deinen Besen gelassen?«

Inzwischen konnte ich schon genauso dumpf grollen wie dieses verlauste Fellknäuel.

Lena zu Ahrenfels warf mir einen missbilligenden Blick zu. Doch nur kurz. Gleich darauf wurde sie nämlich schon wieder geschäftsmäßig.

»Kommt ihr eigentlich mit eurem Blanc de Noir endlich voran?«

 

Lena war natürlich wie üblich bestens informiert. Das musste sie auch. Schließlich produzierte das Weingut ihrer Mutter einen der besten Rieslings der Region. Brunhild zu Ahrenfels hatte mir bereits mehrfach vorgeschlagen, bei der Vermarktung unserer Weine miteinander zu kooperieren, aber ich hatte stets abgelehnt. Ich wollte von niemandem abhängig sein, und nach eigener Einschätzung hätten gemeinsame Werbung und Vermarktung meinem Weingut eher geschadet, zumal das gräfliche Weingut wesentlich größer war. Zudem war zu befürchten, irgendwann nicht mehr Herr im eigenen Laden zu sein und vielleicht sogar geschluckt zu werden. Und Thomas, mein Kellermeister, hatte von Anfang an gedroht, Grafenstein zu verlassen, sollten wir unsere Unabhängigkeit aufgeben. Wahrscheinlich lag es aber nur daran, dass das Weingut Brenner als eines der wenigen Betriebe an der Mosel flächendeckend Weine nach den strengen EU-Richtlinien für den Bio-Anbau produzierte.

Ich nickte stumm. Lena ließ nicht locker.

»Was habe ich noch gehört? Ihr habt jetzt sogar einen eigenen Koch? Nobel, nobel, kann man da nur sagen.«

Der 'Koch' hinkte in diesem Augenblick auf unseren Tisch zu.

»Enchanté«, begrüßte mein Onkel die junge Frau und deutete dabei einen Handkuss an.

Ich seufzte.

»Lena zu Ahrenfels. Lena, dies ist mein ...«

Karl ließ mich gar nicht erst ausreden.

»Freut mich, Ihre Bekanntschaft zu machen, Gräfin. Ich bin Karl Brenner, Hagens verschollener Onkel.«

»Verschollen?« fragte Lena verblüfft.

»Eine lange Geschichte, meine Liebe. Hagen wird sie Ihnen bei passender Gelegenheit bestimmt erzählen.«

Die Rotblonde schaute mich neugierig an.

»Falls Sie französische Küche mögen«, fuhr mein Onkel unbeirrt fort, »sind Sie herzlich eingeladen. Heute Abend gibt es Stufatu, einen korsischen Eintopf mit Lamm- und Kalbfleisch. Vorher eine Terrine de poissons aux herbes de Provence.«

Er warf mir einen unschuldigen Blick zu.

»Das heißt, sofern ich für die Zutaten in Luxemburg fündig werde. Balfelders Supermarkt mag ja leidlich gut bestückt sein, aber ich habe mir sagen lassen, an die Auswahl im Auchan oben auf dem Kirchberg käme seine Fleischtheke nicht im Entfernten heran.«

»Und außer unseren Volvo brauchst du wahrscheinlich auch meine Brieftasche«, brummte ich wenig begeistert.

Karl lächelte verschmitzt.

»Das wäre hilfreich. Dafür tanke ich dir den Wagen aber auch preiswert an der Grenze voll.«

Über das Gesicht der Rotblonden huschte erneut ein Lächeln.

»Die Einladung zum Abendessen nehme ich sehr gerne an. Sagen wir gegen sieben Uhr?«

»Ich hätte keinen besseren Vorschlag machen können, Gnädigste«, fügte mein Onkel hinzu.

Ich seufzte. Mein Onkel, der fünfte Musketier. Eigentlich fehlte nur noch ein formvollendeter Kratzfuß.

 

»Dann wird es hohe Zeit, wenn ich das heute alles noch schaffen soll. Sophia, wie wär's? Möchten Sie mich nicht begleiten? Sie kennen sich in Luxemburg doch bestimmt zehnmal besser aus als ich.«

Miss Sophie schien im Augenblick genauso überrumpelt wie ich.

»Nun, ich weiß nicht recht...«

Karl wollte Sophia aus dem Sessel helfen, doch sie winkte energisch ab.

»Ich habe leider noch Termine«, erwiderte sie kühl. »Und die werden sich wohl bis in den Abend hineinziehen.« Auch ihr war nicht entgangen, dass Karls Einladung zum Abendessen offenbar nicht für sie galt.

Karl nickte unbeeindruckt, pfiff nach Robespierre, und ein paar Augenblicke später war das Gespann aus unserem Blickwinkel verschwunden. Lena schüttelte den Kopf.

»Dein Onkel ist doch bestimmt auch schon in Miss Sophies Alter. Meine Güte, als mein Opa achtzig war, hockte der schon seit zwei Jahren im Pflegeheim. Und zwar im Rollstuhl.«

»Also, ich bitte dich!« beschwerte sich Sophia. »Ich bin doch wohl noch keine achtzig!«

»Aber bald«, rutschte der Adeligen heraus.

Miss Sophies Lippen wurden schmal. Lena erhob sich sicherheitshalber.

»Tut mir leid, aber ich habe auch noch zu tun. War nett, mit euch zu plaudern. Also dann bis heute Abend.«

Mir fiel auf, dass sich Lena kurz an der Rückenlehne ihres Sessels festhielt und dabei ihr rechtes Bein ausschüttelte.

»Ist es wieder soweit?« Sophias Stimme war mit einem Mal weich geworden.

»Mir ist nur das Bein eingeschlafen«, winkte Lena ab und machte sich dann auf den Weg.

 

»Die hat mir gerade noch gefehlt«, maulte ich, als die Rotblonde außer Hörweite war. »Warum kann mein Onkel nicht einmal die Klappe halten.«

»Karl ist trotz seiner jungen Jahre ein weiser Mann«, entgegnete Sophia. »Der hat auch schon längst gemerkt, dass bei dir daheim eine Frau fehlt.»

»Und was ist mit dir?« platze es aus mir heraus. »Wer im Glashaus sitzt...«

»... sollte die Vorhänge zuziehen«, ergänzte die alte Dame. »Ich weiß. Bei mir ist das was anderes, Bub. Glaube mir, ich hätte gerne geheiratet.«

Sie machte eine kurze Pause. Als sie weitersprach, klang ihre Stimme nachdenklich.

»Aber damals ergab sich keine Gelegenheit.«

Ich hob den Kopf.

»Was meinst du mit 'keine Gelegenheit'?«

Miss Sophie winkte ab.

»Das kannst du, sobald ich sechs Fuß unter der Erde liege, in meinen Memoiren nachlesen.«

Bevor wir aufbrachen, huschte ich noch rasch in Balfelders Jeans-Shop an der Ecke, schnappte mir zwei neue Hosen, ließ wegen meiner fehlenden Brieftasche anschreiben und war zehn Minuten später wieder zurück am Tisch. Sophia erhob sich.

»Bringst du mich heim?« fragte sie überflüssigerweise.

»Du bist goldig«, antwortet ich ohne eine Spur Entrüstung in der Stimme. »Klar bringe ich dich heim. Ohne deinen elektrischen Rollator bist du doch aufgeschmissen.«

»Hast recht, Bub. Erinnere mich bitte daran, dass ich den Akku endlich wieder mal auflade.«

Ich hob den Zeigefinger.

»Ist das etwa der Grund, warum du dich von Karl neuerdings in der Gegend herumkutschieren lässt?«

Erwartungsgemäß ging Miss Sophie mit keiner Silbe auf meine Bemerkung ein.

 

~~~~~~~

 

Mit dem Abendessen hatte sich Karl selbst übertroffen. Sein korsischer Eintopf war ein Gedicht. Ich lehnte mich weit zurück und schloss für einen kurzen Moment die Augen. Würde Karl bei uns ein französisches Spezialitätenrestaurant eröffnen, könnte Ballensiefen seinen Laden vermutlich bald dichtmachen. Mein Onkel stand währenddessen mit der Gräfin Tochter am Herd und zeigte ihr, wie man Creme brulée richtig zubereitete. Und zwar so, dass der Zucker lediglich braun wurde und nicht etwa verbrannte. Lena richtete sechs Schälchen her und ließ die Flamme des Handgasbrenners sachte über die gezuckerte Vanille-Sahne-Mischung gleiten. Hätte ich in diesem Moment genauer hingesehen, wäre mir aufgefallen, dass Lena auffallend oft an der Küchenzeile Halt suchte.

»Einmalig!« stöhnte unser inzwischen omnipräsenter Leichenbestatter und legte sein Besteck beiseite. »Ich wünschte, Susi könnte auch nur ansatzweise so kochen.«

»Wo steckt die eigentlich?« wollte ich von ihm wissen. »Susanne habe ich ja seit Ewigkeiten nicht gesehen.«

»Habe ich doch schon gesagt. Sie macht eine Fortbildung. Wir wollen kommendes Jahr ein Wellness-Studio eröffnen.«

Ich schaute ihn verblüfft an.

»Ist bei euch der Wohlstand ausgebrochen? Soviel werfen die paar Leichen das Jahr über nun auch wieder nicht ab.«

Lanzerath zog eine Schnute.

»Och, wenn das bei uns in diesem Tempo so weitergeht, kann ich nicht klagen.«

»Was ist eigentlich genau passiert?« meldete sich die andere junge Frau zu Wort.

 

Marianne war Karls Einladung ebenfalls gefolgt und hatte auf dessen Vorschlag hin ihren Logierbesuch mitgebracht. Margarete Sandhoff war etwa zehn Jahre älter als Marianne, hatte hellbraune Haare und hinterließ beim Betrachter eher einen introvertierten Eindruck. Sie trug Jeans und ein relativ weites Sweatshirt, vermutlich, um ihre ansehnliche Rundungen vor allzu neugierigen Blicken zu verbergen. Was allerdings überhaupt nicht zum Erscheinungsbild einer jungen Frau um die Vierzig passte, war die viele Schminke in ihrem Gesicht. Ein Blick auf ihre Hände verriet den Grund. Sie waren über und über mit Sommersprossen bedeckt. Vermutlich gab es auch im Gesicht einiges abzudecken.

Karl nahm wie selbstverständlich neben Margarete Platz. Zu Lanzeraths Enttäuschung plauderte er den halben Abend fast nur mit ihr. Unser Leichenschänder versuchte zwar mehrmals ihre Aufmerksamkeit zu erregen, doch die junge Frau ging auf keine seiner Avancen ein. Ich grinste still vor mich hin. Langsam wurde es höchste Zeit, dass Susanne heimkam. Bei dem armen Kerl herrschte wohl inzwischen allgemeiner Notstand, dass der sich bereits an Mädels mit Sommersprossen heranmachte. Susi mochte zwar das Dummchen vom Lande sein, aber gegen sie hatte jemand wie Margarete zumindest vom Aussehen her nicht den Hauch einer Chance.

Lena brachte die Creme brulée an den Tisch und hockte sich anschließend neben mich. Karl zwinkerte mir mit dem rechten Auge zu. Ich schüttelte den Kopf. Der sollte sich gefälligst um seine eigenen Angelegenheiten kümmern. Machte hier mit einer Vierzigjährigen herum. Die konnte vom Alter her beinahe seine Enkelin sein.

Ich überhörte Margaretes Eingangsfrage und machte mich dafür lieber über die Vanille-Sahne-Creme mit der knusprigen Schicht aus karamellisiertem Zucker her. Das schmeckte aber auch wirklich überirdisch gut. Frisch zubereitet. Nix aus dem Tütchen, oder so.

»Kopfschuss, beide Beine ab«, kalauerte Lanzerath stattdessen munter drauflos.

»Geht's vielleicht auch ein bisschen genauer?« meinte Marianne und warf Lanzerath einen strafenden Blick zu. »Du hast die Tote doch nach Trier gebracht. Ist dir irgendwas an ihr aufgefallen?«

Lanzerath lehnte sich in seinem Sessel weit zurück. Er genoss es sichtlich, endlich mal im Epizentrum des allgemeinen Interesses zu stehen.

»Was hätte mir denn aufgefallen sollen?« grunzte er. »Tot war sie halt. Mausetot. Wärst du auch mit so einem Loch in der Brust. Eines steht jedenfalls fest: Ertrunken ist die nicht.«

»Nun lass dir nicht sämtliche Krümel aus der Nase ziehen«, erwiderte ich, als ich sah, dass Marianne unruhig in ihrem Sessel hin und her rutschte. »Wer ist die Frau? Wie sah sie aus? Welchen Eindruck hat sie auf dich gemacht?«

»Einen ziemlich stillen«, kasperte Lanzerath weiter herum.

»Hast du heute Morgen einen Clown gefrühstückt?« fauchte Marianne.

Mir fiel auf, dass Mariannes Ausbruch ein unmerkliches Kopfschütteln ihrer Bekannten nach sich zog.

»Okay, okay, ihr gebt ja doch keine Ruhe. Europäerin, Ende Fünfzig, mittelgroß, stämmig, aber nicht untersetzt. Eher muskulös. Gepflegtes Äußeres. Kein Lifting, keine Schönheits-OPs, keine Prothesen. Nach meiner Einschätzung hätte die Hundert werden können.«

»Hast du eine Ahnung, wo sie umgebracht worden sein könnte?«

»Im Yachthafen jedenfalls nicht. Am Fundort der Leiche gab es jedenfalls keinerlei Blutspuren.«

»Meinst du, sie ist dort angespült worden?« stocherte Marianne nach.

Lanzerath runzelte die Stirn.

»Keine Ahnung. Ich bin schließlich Leichenbestatter und weder Forensiker noch Strömungsexperte. Schleifspuren waren jedenfalls keine vorhanden. Dafür jedoch jede Menge Fußabdrücke, aber die stammen vermutlich von Ballensiefen und den beiden Rumäninnen. Schon möglich, dass die Frau woanders ins Wasser geworfen und dann womöglich von der Strömung angespült wurde. Warum willst du das eigentlich alles so genau wissen? Musst du etwa noch Spuren beseitigen?«

Hätten Blicke töten können, Lanzerath wäre in diesem Moment sein bester Kunde geworden. Margarete legte ihre Hand auf Mariannes Unterarm. Mir fiel auf, dass sie dabei offenbar ziemlich fest zudrückte.

»Und von woher stammt die Frau?« wollte ich wissen. »Stimmt das mit Belgien?«

Lanzerath nickte.

»Soweit ich erfahren habe, war sie mit einem Peugeot mit belgischem Kennzeichen unterwegs. Die Spusi untersucht ihn gerade nach Spuren ab.«

»Wo wurde der Wagen aufgefunden?«

»Das ist ja das Kuriose. Vor ihrem Hotel. Von dort bis zum Fundort der Leiche sind es höchstens ein, zwei Kilometer.«

»Na, dann kommt auf die Spurensicherung ja noch einiges zu«, meinte Lena und begann damit, die Dessertschalen abzuräumen. Sofort sprang Karl auf und nahm ihr das Geschirr aus der Hand.

»Bleiben Sie mal sitzen. Ich mache das schon.«

Lena warf ihm einen dankbaren Blick zu und ließ sich wieder in ihren Sessel zurückgleiten.

 

»Wie habt ihr euch eigentlich kennengelernt?«

Lanzerath brachte in seiner vorlauten Art genau das auf den Punkt, was ich selber längst hatte herausfinden wollen.

Marianne schien auf diese Frage gewartet zu haben.

»Im Internet.«

Seine Augen wurden zu einem einzigen Fragezeichen.

»Im Internet?«

»Ja. Das ist eine neuartige Informationsplattform. Dafür braucht man einen Computer und einen sogenannten Internetanschluss. Frag mal deinen Telefonanbieter, der ...«

»Willst du mich verarschen?« knurrte Lanzerath.

»Dann stell hier gefälligst auch keine so dumme Fragen.«

Für einen kurzen Augenblick herrschte betretenes Schweigen. Als jedoch alle Augen auf meiner jungen Halbtagskraft haften blieben, gab sie sich einen Ruck.

»Genauer gesagt, in einem Forum für Weinliebhaber. Ich wollte herausbekommen, was andere Leute so trinken, wo sie einkaufen, wie sie einkaufen und so weiter. Solche Foren können gerade für den Fachhandel ganz interessant sein.«

Sie warf mir einen auffordernden Blick zu.

»Dort solltest du auch ab und zu auch mal einen Blick hineinwerfen. Wusstest du eigentlich, dass unsere Riesling Auslese sogar in Polen und Tschechien bekannt ist? Der Vertrieb läuft über die Holländer. Die haben auch wirklich überall ihre Finger mit im Spiel. Wir sollten mal unsere Vertriebswege überdenken. Vielleicht...«

»Sie mögen Wein?«, unterbrach Lanzerath ihren Redefluss und warf dabei Margarete einen aufmunternden Blick zu. »Na, da sind Sie bei uns jedenfalls an der richtigen Adresse.«

Er erhob sich, griff nach der Flasche und wollte ihr nachschenken, doch Margarete deckte ihr Glas mit der flachen Hand ab.

»Sorry, ich muss noch fahren.«

Enttäuscht zog Lanzerath seinen Arm zurück und goss dafür sich gehörig nach.

»Oder schmeckt Ihnen unser Wein nicht«, fügte ich hinzu.

Margarete warf ihrer Bekannten einen knappen Blick zu. Marianne zuckte unmerklich die Schultern.

»Doch, schon«, erhielt ich als Antwort.

»Aber?«

»Kein Aber.«

»Welche Weine bevorzugen Sie, wenn ich mal fragen darf?«

Erneut warf Margarete ihrer jüngeren Tischnachbarin einen fragenden Blick zu. Mariannes Gesicht blieb ausdruckslos.

»Weißwein.«

»Ein weites Feld«, lachte Lanzerath.

»Aber Sie werden doch bestimmte Vorlieben haben«, stocherte ich nach. »Herkunftsland, Lage, Traubenart. Trocken, halbtrocken, lieblich. Oder trinken Sie einfach nur das, was auf den Tisch kommt?«

»Jetzt hört doch endlich auf, Margarete auszuquetschen«, fuhr mir Marianne in die Parade. »Sie ist neu im Forum und möchte erst noch ihren Horizont erweitern.«

»Ausgerechnet in Grafenstein?«

»Warum nicht? Was hast du neuerdings gegen unser Anbaugebiet?«

»Gar nichts«, brummte ich unversöhnlich. »Aber deine Freundin hat bis jetzt gerade mal ein Glas getrunken. Da liegt der Verdacht nahe, dass ihr Moselwein unter Umständen nicht schmeckt.«

 

Marianne stieß ihre Tischnachbarin an und erhob sich.

»Komm, lass uns aufbrechen. Morgen wird für mich ein langer Tag. Da werden die neuen Rebstöcke angeliefert, auf meinem Schreibtisch stapelt sich der Schreibkram, und um das Marketing für den Blanc de Noir muss ich mich auch noch kümmern.«

Mir schien, als wäre Margarete heilfroh, sich nicht weiter mit uns unterhalten zu müssen. Für mich stand fest: Entweder war die Frau verstockt wie ein weltentrückter Autist, oder sie verstand von Wein in Wirklichkeit soviel wie Lanzerath von vornehmer Zurückhaltung.

»Ihr seid schon weg?« fragte Karl mit unüberhörbarem Bedauern in der Stimme.

Was hatte der Kerl erwartet? Dass die Mädels bis zum Aufräumen blieben? Wir waren doch keine Teenager mehr.

»Ich bin ja noch ein, zwei Tage in der Gegend«, meinte Mariannes Begleiterin knapp.

Mein Onkel holte rasch ihren Mantel von der Garderobe und half ihr so gut es ging hinein.

»Das trifft sich gut. Wenn Marianne nämlich morgen alle Hände voll zu tun hat, könnten wir uns doch eigentlich ein bisschen die Umgebung anschauen. Was halten Sie von einem kurzen Abstecher über die Grenze?«

Keine Chance, grinste ich stumm in mich hinein. Junge, das Mädel ist vom Alter ja wohl sowas von kaum deine Hausnummer..

Ein Lächeln huschte über Margaretes Gesicht.

»Na, klar. Holen Sie mich doch so gegen elf Uhr bei Marianne ab.«

Mein Onkel zwinkerte mir verstohlen zu. Nicht schlecht, der alte Knacker, musste ich jetzt unumwunden zugeben. Am meisten amüsierte ich mich über Lanzerath. Der jedenfalls verstand mit einem Mal die Welt nicht mehr. Jetzt spannten ihm sogar schon Tattergreise mit Gehbehinderung die Frauen aus.

Nachdem Marianne und ihre Bekannte verschwunden waren, meinte auch er, dass seine Zeit wohl langsam gekommen sei. Lena und ich halfen meinem Onkel noch beim Aufräumen, wobei ich allerdings mehr Zeit damit verbrachte, Robespierre daran zu hindern, mit seinen Zähnen meiner nagelneuen Jeans ein neues Schnittmuster zu verleihen. So ging das nicht weiter. Ich konnte mir doch nicht alle paar Tage neue Klamotten zulegen.

 

Mitternacht war längst vorbei, als ich Lena nach draußen zu ihrem Wagen begleitete. Auf ihren Wunsch hin schlenderten wir aber erst noch zu der alten Holzbank hinter dem Parkplatz, von wo aus man diese grandiose Aussicht über meine Weinberge bis hinunter ins Moseltal genießen konnte. Mir fiel auf, dass sie immer noch ihr rechtes Bein nachzog.

»Schon wieder eingeschlafen?« meinte ich und deutete nach unten.

Lena ignorierte meine Bemerkung.

»Schön hast du es hier«, meinte sie nach einer Weile und schlang ihren linken Arm um meine Hüfte.

Verblüfft ließ ich es geschehen.

»Aber doch wohl kein Vergleich zu eurem Schloss, oder?«

Lena boxte mir freundschaftlich in die Seite.

»Sag nicht immer Schloss zu dem uralten Kasten. Ja, okay, bei uns ist es auch ganz schön, aber mit diesem einmaligen Blick über die Mosel ist das nicht zu vergleichen.«

Wohlig grunzend schmiegte sie sich an mich.

»Schade eigentlich, dass du das Weingut nicht verkaufen möchtest. Mama würde es perfekt in ihr Portfolio passen.«

Aha, daher wehte der Wind.

Sie drehte sich zu mir herum und drückte mir einen flüchtigen Kuss auf die Wange.

Was wird das, wollte ich fragen, aber zum Glück bekam ich in diesem Augenblick keinen Ton heraus. Plötzlich knickten Lenas Beine weg. Es gelang mir, sie im letzten Moment aufzufangen.

»Du bist fix, alter Mann.«

»Ich gebe dir gleich 'alter Mann', du Schnepfe!«

Sie lächelte. Du hättest dich verdammt nochmal besser rasieren sollen, schimpfte ich mit mir. Was machte das denn für einen Eindruck?

Wir beobachteten noch eine Weile das Glitzerband der Lichter entlang der beiden Uferseiten. Für einen kurzen Augenblick dachte ich darüber nach, auf welchen Adelstitel ein angeheirateter Bürgerlicher heutzutage eigentlich Anspruch erheben konnte.

 

 

 

 

Kapitel 8

 

Freitag

 

Tags darauf kam es dann ganz dicke.

Ich hockte gerade am Frühstückstisch, die Frankfurter in der Hand, und versuchte mich auf die neuesten Nachrichten aus Brüssel, Frankfurt oder sonstwo auf der Welt zu konzentrieren. Euro-Krise, Wirtschaftskrise, Nahost-Krise. Die Welt bestand offenbar nur noch aus Krisen. Genüsslich schob ich mir ein frisch gebackenes Croissant in den Mund und biss herzhaft ab. Eines musste man Karl lassen: Sein Hund war zwar die Pest, aber den Haushalt schmeißen konnte er wie ein englischer Butler auf Downton Abbey. Ich warf einen Blick in die Runde. Thomas Schruntz, Lutz Backhaus und mein Onkel hockten mir gegenüber. Nur Lanzerath fehlte. Den heutigen Tag sollte ich mir gleich rot im Kalender anstreichen. Marianne kam herein und checkte gleichzeitig ihre Nachrichten. Plötzlich begann sie wie wild auf dem Display ihres Smartphones herum zu wischen.

»Hast du das Grafensteiner Tageblatt schon gelesen?«

Ich schüttelte den Kopf. Marianne sprang auf.

»Ich bekomme die Zeitung als ePaper. Komm mal mit ins Büro. Ich lege dir den Text auf den Bildschirm.«

Mit dem Kaffee in der rechten und dem angebissenen Croissant in der linken Hand ließ ich mich an meinem Schreibtisch nieder. Da war ich aber mal gespannt, was Marianne so in Aufregung versetzte. Zwei Wimpernschläge erschien die Online-Ausgabe unseres regionalen Käseblättchens auf dem Bildschirm.

 

 

»Grafenstein

Gestern Morgen wurde im Yachthafen von Grafenstein die Leiche einer neunundfünfzigjährigen Frau aufgefunden. Staatsanwaltschaft und Kriminalpolizei gehen von einem Gewaltverbrechen aus. Erna Leinfeld, so der Name des Opfers, wurde dem Vernehmen nach durch einen Schuss in die Brust getötet. Sie lebte seit dem Tod ihres Mannes, eines ehemals erfolgreichen Unternehmers aus Hannover, im belgischen Spa.

Entdeckt wurde der Leichnam von der gebürtigen Rumänin Dana Dumitrescu, als sie angeblich gerade die Enten füttern wollte. Von Dana Dumitrescu, die erst vor kurzem von Restaurantbesitzer Hugo Egon Ballensiefen als Servierkraft eingestellt worden war, fehlt seitdem jede Spur. Erste Hinweise der Ermittlungsbehörden ergaben, dass Frau Dumitrescu vor ihrem Arbeitsantritt im Yachthafen-Restaurant offenbar mehrere Jahre im Ludwigshafener Rotlichtmillieu gearbeitet haben soll. Auch Olga Ionescu, eine Arbeitskollegin, mit der sich Frau Dumitrescu ein Zimmer teilte, ist unauffindbar.

Erna Leinfeld hatte in der Nähe von Grafenstein ein Hotelzimmer bezogen, das sie im Voraus bezahlte. Die Hotelbesitzerin gab an, Frau Leinfeld hätte sich für die Sehenswürdigkeiten in der näheren Umgebung interessiert. Sie sei freundlich aber auch sehr zurückhaltend gewesen. Wo Erna Leinfeld letztlich zu Tode gekommen ist, darüber wird noch spekuliert, denn nach Ansicht der Leiterin der Kriminaltechnischem Untersuchung sind Tatort und Fundort der Leiche allem Anschein nach nicht identisch.

Ob die beiden rumänischen Frauen etwas mit dem Tod der Touristin zu tun haben könnten, darüber kann man im Augenblick ebenfalls nur Mutmaßungen anstellen. Seitens der Staatsanwaltschaft in Trier heißt es nur lapidar, hierzu liefen noch die Ermittlungen. Dennoch gab die Kriminalpolizei heute Morgen überraschend bekannt, dass nach beiden Frauen inzwischen landesweit gefahndet wird. Sachdienliche Hinweise werden erbeten unter folgender Rufnummer...«

 

Ich schüttelte den Kopf.

»Das gibt's doch nicht!«

»Warum soll es das nicht geben?« fragte Marianne und rümpfte unmissverständlich die Nase, weil ich mir eine Moods anzündete und die Packung an Backhaus weiterreichte.

»Das ist doch nichts Ungewöhnliches, wenn ehemalige Prostituierte aus ihrem früheren Beruf aussteigen und sich anschließend einen Job in der Gastronomie suchen. Mich regt allerdings auf, dass man Sowas gleich an die Öffentlichkeit zerrt. Hier in Grafenstein brauchen sich die beiden Frauen jedenfalls nicht mehr blicken lassen. Kein Wunder, dass die abgehauen sind. Überleg mal: Rumäninnen, Rotlichtmilieu, eine Leiche im Wasser, die Tote vermutlich sogar wohlhabend. Na, klingelt's?«

Ich winkte ab.

»Die beiden Mädels interessieren mich überhaupt nicht. Der Ballensiefen tut mir leid. Die Leiche auf seinem Grundstück war ja schon mehr als unangenehm. Aber jetzt auch noch zwei angebliche Nutten unter seinen Angestellten, na, das wird in Grafenstein was geben. Zumal ja wohl auch Julia zwangsläufig Kontakt zu den Frauen hatte. In Tuttifruttis Haut möchte ich jetzt jedenfalls nicht stecken. Wenn er Pech hat, bekommt er jetzt auch noch Besuch vom Jugendamt.«

In der Hosentasche begann mein Handy zu randalieren. Ich zog es hervor und warf einen Blick auf das Display. Ballensiefen, what else.

»Ich bin schon informiert«, begrüßte ich ihn, um mir weitschweifige Erklärungen zu ersparen. Unser Gastwirt vom Moselufer war imstande, gleich hier und jetzt mit seinem Plädoyer zu beginnen.

»Mann, Mann, Mann! Hier ist vielleicht was los, kann ich dir sagen! Seit heute Morgen wimmelt es bei uns nur so von Pressefuzzis, und die Bullen drehen bei mir inzwischen jeden Stein auf links, seit feststeht, dass Dana und Olga verschwunden sind. Diese blöden Weiber! Hauen einfach ab. Jetzt stehen sie auch noch auf der Fahndungsliste.«

»Sag mal, alter Freund und Kupferstecher«, unterbrach ich ihn, »hast du eigentlich von dem Vorleben deiner beiden Saftschubsen nichts gewusst?«

Am anderen Ende der Leitung hörte ich ein genervtes Schnaufen.

»Blödsinn! Glaubst du, ich stelle zwei Nutten ein, wo ich eine minderjährige Tochter im Haus habe? Bin ich etwa geisteskrank? Nein, die hat mir eine Zeitarbeitsfirma vermittelt. Alles ganz seriös. Mit Krankenversicherung, Lohnsteuerkarte und allem Pipapo. Da gab's nix zu meckern.«

Mir kam ein Verdacht.

»Wo sitzt die Zeitarbeitsfirma?«

Ballensiefen überlegte einen Moment.

»In Ludwigshafen, glaube ich. Ja, ich bin ganz sicher!«

»Du weißt, wo deine Mädels zuletzt angeschafft haben? Ebenfalls in Ludwigshafen. Na, dämmert dir was? Die neueste Masche der organisierten Kriminalität. Junge Frauen speziell aus den ehemaligen Ostblockländern werden auf diese Weise unauffällig in Dörfer oder Kleinstädte eingeschleust, um anschließend in Restaurants oder Hotelbetrieben zahlungswillige Kunden für wesentlich lukrativere Dienstleistungen zu requirieren.«

Marianne schaute mich mit großen Augen an. Ich deckte den Sprechschlitz meines Handys kurz ab.

»Du guckst zuviel Rosamunde-Pilcher-Filme, meine Liebe. Mit Resozialisierung hat das überhaupt nichts zu tun. Hierbei geht es um knallhartes Business. Was meinst du, wie viel Geld man mit Sowas selbst bei uns auf dem Land...«

Ich zog meine Hand vom Sprechschlitz und wandte mich wieder an Ballensiefen.

»Es stimmt schon, dass Rumänien seit Anfang 2007 zur EU gehört. An einer offiziellen Arbeitserlaubnis insbesondere für Saisonarbeitskräfte hat sich seitdem jedoch nichts geändert. Und die stellt immer noch die Zentralstelle für Arbeitsvermittlung aus und nicht irgendeine dubiose Zeitarbeitsfirma. Herr im Himmel! Hättest du mich doch bloß mal gefragt. Aber nein, der Herr Ballensiefen meint ja immer schlauer sein zu müssen als alle anderen.«

Am entgegengesetzen Ende der Leitung vernahm ich ein deutliches Aufstöhnen.

»Das darf doch alles nicht wahr sein! Da ist man froh, endlich mal zwei richtig fixe Saisonarbeitskräfte an Land gezogen zu haben, und was passiert? Mord und Totschlag, Prostitution und landesweite Fahndung. Am besten mache ich den Laden dicht und ziehe mit Julia in die Berge.«

»Etwa nach Bayern? Was willst du bei diesem kulturell zurückgebliebenen Bergvolk?«

»Da herrscht wenigstens noch Zucht und Ordnung«, bellte er zurück. »Da fährt die Polizei noch mehrmals täglich Patrouille. Im Gemeinderat streiten sich auch nicht fortwährend soundsoviel Parteien um die Verschwendung der lächerlichen paar Euro Steuereinnahmen, und in der Schule hocken auch keine solche Schweinebacken wie der Weisz.«

»Was hat der denn schon wieder angestellt?«

Ballensiefens Stimme nahm einen heiseren Ton an. So erbost hatte ich ihn nicht mal an Weiberfastnacht erlebt, als drei weibliche Kegelklubs gleichzeitig bei ihm Einlass forderten, um sich anschließend sofort auf seine beiden Hilfskellner zu stürzen.

»Na, dann schau mal in dein Email-Postfach. Was da eben bei mir und anscheinend auch bei anderen im Ort eingetrudelt ist, das bricht diesem Arschloch das Genick. Wenigstens eine Sorge weniger. Den sind wir in Grafenstein jedenfalls für alle Zeit los.«

Mir fiel das Gespräch mit Julia ein. Hatten die Gören also doch ihre Füße nicht stillhalten können. Na ja, eigentlich hätte man damit rechnen müssen. Das war schließlich die Gelegenheit, ihrem Rektor richtig eins auszuwischen. Wenn das aber jetzt in dem Stil so weiterging, dann lief in Grafenstein demnächst wirklich noch alles aus dem Ruder. Jetzt wollten die Ersten sogar schon auswandern!

Ich deckte erneut den Sprechschlitz meines Handys ab und wandte mich an Marianne.

»Hatten wir heute Morgen schon wieder eine Email in Sachen Gregor Weisz im Postfach?«

Marianne schüttelte den Kopf. Im gleichen Augenblick bimmelte das Festnetztelefon. Marianne hob ab und gab mir ein Zeichen. Ihre Lippen formten stumm das Wort 'Lanzerath'. Der hatte mir gerade noch gefehlt!

»Jetzt komm erst mal runter«, versuchte ich Ballensiefen zu beruhigen. »Du kriegst ja noch einen Herzkaschperl, so wie du dich aufregst.«

»Ja, du mich auch!« knurrte unser Gastwirt. Dann machte es leise 'Klick', und wohltuende Stille herrschte in der Leitung.

 

Marianne reichte mir den Hörer.

»Was gibt's?« fragte ich wenig begeistert.

Lanzerath wirkte beinahe genauso aufgeregt wie Tuttifrutti. Nur schien er nicht sauer sondern vielmehr besorgt zu sein.

»Bei uns geht hier gleich die Post ab«, keuchte er. »Hast du noch nicht gehört? Der Schröder hält in einer halben Stunde eine öffentliche Versammlung auf dem Rathausplatz ab. Die Presse ist schon da. Na, das wird was geben.«

»Weiß man schon was Genaues?«

»Der alte Schleimbeutel will wegen der Angelegenheit im Yachthafen ein ganz großes Fass aufmachen, wird gemunkelt. Wenn es ganz dicke kommt, dann verlangt der Neuwahlen. Von wegen, die Bürgermeisterin wäre unfähig, und ihre Leute könnten in Grafenstein Sicherheit und Ordnung nicht mehr gewährleisten.«

»Ist der jetzt vollkommen übergeschnappt?«

»Falls du vorbeikommst, dann nimm am besten gleich ein paar von deinen Leuten mit. Das wird hier bestimmt noch hoch her gehen.«

Ich überlegte. Backhaus hatte im Augenblick mit den neuen Rebstöcken alle Hände voll zu tun, und Schruntz war praktisch von Geburt an gewaltfreier Grüner. Hinterher bekam der vielleicht noch was aufs Auge. Wer sollte sich anschließend um den Blanc de Noir kümmern? Und überhaupt, was ging mich eigentlich die Bürgermeisterin an?

»Ich schaue mal, was sich machen lässt«, meinte ich nur und legte auf.

Karl tauchte im Büro auf. Er schien ausgehfertig zu sein.

»Ich bin dann mal weg«, meinte er. »Ihr wisst ja, meine Verabredung mit Margarete.«

Ich seufzte.

»Schade. Dich und deinen Flohzirkus hätten wir gleich gut gebrauchen können.«

»Wobei?«

»Die Rechtsextremen proben den Aufstand gegen das Establishment. Mitten auf dem Marktplatz. Mit allem Komfort und komm nach. Da wäre so ein Köter wie dein Robespierre bestimmt von Nutzen.«

Wie auf Kommando baute sich der irische Zottelteppich vor meinem Schreibtischsessel auf und fletschte erwartungsgemäß die Zähne.

»Pfui, aus!« herrschte ich ihn an. »Die Jeans ist nagelneu.«

Das hätte ich besser nicht sagen sollen. Oder zumindest nicht so laut. Jedenfalls hatte Karl anschließend einige Mühe, mein Hosenbein aus Robespierres Eckzähnen zu befreien.

»Robie ist zwar kein Kampfhund«, meinte Karl. »Aber wenn du Hilfe brauchst, dann lasse ich dich doch nicht im Stich, mein Junge. Marianne, richte Margarete bitte aus, dass ich mich ein bisschen verspäte. Muss mit meinem Neffen mal eben die Welt retten. Ola, perro! Vamos, compagnero!«

»Ein Naturtalent, dein Kläffer. Spanisch versteht der also auch!«

 

~~~~~~~

 

Stefanie Michels betrat ihr Büro, legte den Stapel Akten, den sie unter dem Arm trug, in den Postausgang und öffnete den Kleiderschrank, um ihren Mantel wegzuhängen. Danach wusch sie sich die Hände und betrachtete ihr Gesicht im Spiegel. Was sie dort sah, gefiel ihr überhaupt nicht. Sie sah müde und abgespannt aus. Gestern war ein langer Tag gewesen und der heutige würde mit Sicherheit nicht weniger anstrengend werden. Die Fälle in Grafenstein ließen ihr keine Ruhe. Zum einen die Mobbingattacke auf den Leiter der örtlichen Realschule, die beiden verschwundenen Prostituierten und natürlich der Mordfall im Yachthafen. Besonders weit war Schäfer mit seinen Ermittlungen bisher noch nicht gekommen. Hoffentlich erledigte der endlich seine Hausaufgaben, statt sich nur in irgendwelchen Bars herumzutreiben. Ihr war zu Ohren gekommen, dass der Mann mit dem Porsche mitunter einen recht unkonventionellen Lebenswandel an den Tag legte.

Unwillkürlich musste sie schmunzeln. Was ist los, Steffi? Neidisch? Neidisch ausgerechnet auf so einen Neandertaler wie Hasso Schäfer, dem durchzechte Nächte scheinbar überhaupt nichts auszumachen schienen? Sie dachte an ihre eigene Abendunterhaltung. In aller Regel kam sie nie vor acht, halb neun Uhr abends aus dem Büro und brütete nach einem kurzen Snack aus der Mikrowelle anschließend über den mitgebrachten Akten. Und wofür das Ganze? Um ein bisschen schneller Karriere zu machen? In einem verknöchterten Beamtenapparat wie der Staatsanwaltschaft klappte das sowieso nicht. Sie hätte mindestens zwei Kollegen aus dem Weg räumen müssen, um sich den Weg in Richtung Beförderung zu ebnen. Auf dem Posten der Oberstaatsanwältin hockte jedoch die Schwarze Mamba, und die war noch lange nicht im Pensionsalter. Allerdings munkelte man, sie schiele auf eine demnächst vakant werdende Stelle in der Generalbundesanwaltschaft. Allein diese Aussicht verlieh ihrem Eifer noch einigermaßen Flügel.

Seufzend ließ sie sich hinter ihren Schreibtisch fallen und nahm die mitgebrachte Zeitung zur Hand. Auch die Trierer Morgenpost berichtete über den mysteriösen Mordfall im Grafensteiner Yachthafen.

Ihr Mobiltelefon meldete sich. Sie hasste diesen Ton. Beethovens Neunte. Das erinnerte sie jedesmal an die Sprossen ihrer Karriereleiter. Speziell die, die ihr noch bevorstanden.

»Michels.«

»Hallo, Stefanie«, meldete sich eine unangenehm ausgeschlafene Stimme.

Die Chefin der Spurensicherung war fast zehn Jahre älter als sie, zog beinahe genauso häufig um die Häuser wie dieser Porsche fahrende Egomane, wirkte aber trotz einer latenten Diabetes wie das blühende Leben. Wie machte die das bloß? Ob die sich in der Asservatenkammer heimlich an beschlagnahmten Amphetaminen bediente?

»Ach, Sie sind es, Lydia. Was gibt's?«

»Darf ich Sie an unseren Termin in der Rechtsmedizin erinnern? Ich denke, Sie sind genauso gespannt wie ich, was die Obduktion ergeben hat.«

Missmutig legte Stefanie Michels die Zeitung beiseite. Sie hasste die gefliesten Räume in der Rechtsmedizin, die Seziertische aus Edelstahl mit den ekligen Ablaufrinnen für Blut und andere Körperausscheidungen. Und noch mehr Dr. Steinlaken, den wenig zugänglichen emeritierten Professor für Rechtsmedizin an der Uni Bonn. Verfasser zahlreicher Abhandlungen über die Aufklärung von Schuss- und Stichverletzungen. Ein knochentrockener Akademiker, aber leider auch eine anerkannte Koryphäe, was Handfeuerwaffen betraf. Wenigstens bedeutete ein Besuch in der Rechtsmedizin etwas Abwechslung von ihrem langweiligen Büroalltag.

»Danke, dass Sie mich daran erinnern. Wo treffen wir uns?«

»Ich hole Sie in etwa zehn Minuten ab. Ich warte draußen im Wagen.«

Stefanie Michels beendete das Gespräch. Zehn Minuten. Eigentlich blieb da nicht mehr genug Zeit für das anberaumte Gespräch mit der Oberstaatsanwältin. Dr. Sabine Breuer wollte im Fall Grafenstein ganz gegen ihre sonstigen Gewohnheiten diesmal haarklein auf dem Laufenden gehalten werden. Stefanie seufzte. Eigentlich war der Besuch in der Rechtsmedizin Schäfers Aufgabe. Der sollte gefälligst den Arsch bewegen und endlich auch mal seinen Adlatus Kroppke ans Arbeiten bringen. Im Büro nur ständig vor dem Computer hocken und sich wer weiß was anschauen, das war doch kein Zustand. Aber Kroppke hatte als Kriminalhauptmeister die Endstufe der Karriereleiter im mittleren Dienst längst erreicht, und für den Aufstieg in den gehobenen Dienst war er zweimal abgelehnt worden. Der schob in Trier nur noch Dienst nach Vorschrift. War ihm nicht mal zu verdenken.

 

Das Telefon auf ihrem Tisch summte. Sie nahm den Hörer ab und meldete sich. Im nächsten Moment sanken ihre Schultern nach unten. Heute war anscheinend ihr Glückstag.

»Na, was macht der Fall Grafenstein? Wie kommen Sie voran?«

Stefanie Michels erhob sich unwillkürlich, wobei das kurze Telefonkabel ihr jedoch wenig Bewegungsraum ließ. Sie hasste sich für ihre devote Haltung. Was erwartete die Alte? Die Leiche vom Yachthafen war ja fast noch warm.

»Ich treffe mich gleich mit Frau Sartorius. Wir wollen gemeinsam in die Rechtsmedizin und mal nachhören, was man uns konkret zur Todesursache sagen kann.«

Dr. Breuer zeigte sich erstaunt.

»Ich dachte, das sei längst geklärt. Oder stimmt das etwa nicht, was Sie mir in Ihrem gestrigen Memo mitgeteilt haben?«

Die Stimme der siebenundfünfzigjährigen Oberstaatsanwältin klang heute Morgen besonders liebreizend. Eigentlich war es mehr ein Krächzen. Das lag an den zahlreichen Zigarillos, deren Qualm sie über den Tag hinweg in sich hineinsog. Interessanterweise die gleiche Sorte, wie sie auch Hagen Brenner bevorzugte. Darüber hinaus war ihre Vorgesetzte dafür bekannt, einem exzellenten Tröpfchen in gepflegter Runde nicht abgeneigt zu sein. Seit Jahren hielt sich hartnäckig das Gerücht, Sabine Breuer hätte einen ziemlich heiklen Mordfall seinerzeit nur dadurch zur Aufklärung gebracht, weil sie mit dem Bekannten eines Tatverdächtigen in einer übel beleumundeten Kneipe solange Wodka getrunken hatte, bis der quasi im Vollrausch all das ausplauderte, was die Mordkommission in einem Monat akribischer Feinarbeit nicht hatte herausfinden können. Leider wurde der Delinquent lediglich zu zwei Jahren auf Bewährung verurteilt, da der Strafverteidiger vor Gericht mit einigem Erfolg über die ziemlich unorthodoxen Methoden der Staatsanwaltschaft herzog. Sabine Breuer haderte angeblich noch heute mit diesem in ihren Augen viel zu milden Urteil. Besonders deshalb, weil sie von ihrem damaligen Vorgesetzten auch noch einen gehörigen Rüffel hatte einstecken müssen. Tja, gut geklappt aber trotzdem dumm gelaufen.

»Natürlich stimmt das, was in meinem Memo steht. Die Tagespresse hat das auch völlig korrekt wiedergegeben. Nur...«

»Was nur?« knurrte ihr Gegenüber.

»Sie lassen mich ja nicht ausreden. Mit 'nur' meine ich, da gibt es schon noch Detailfragen, die zu klären sind. Zum Beispiel, wo genau das Opfer ums Leben gekommen ist und ob die Frau Wasser in den Lungen hatte. Das würde nämlich bedeuten, dass der Schuss unter Umständen post mortem auf sie abgefeuert wurde. Blut haben wir nämlich...«

»Na schön«, unterbrach die Oberstaatsanwältin ihren Redefluss. »Dann machen Sie mal. Ach, ehe ich es vergesse: Sehen Sie einen Zusammenhang zwischen dem Fall Weisz und dem aktuellen Mordfall?«

»Sie denken an eine Verbindung zwischen der Toten und dem Realschulrektor? Wie kommen Sie darauf?«

Die Oberstaatsanwältin ging auf ihre Bemerkung nicht ein.

»Ich will Ergebnisse sehen, mein Mädchen. Und zwar rasch. Also, machen Sie sich ans Werk!«

Das Klicken in der Leitung hatte etwas Endgültiges. Stefanie Michels legte den Hörer zurück und warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. Mist, Lydia würde bestimmt schon auf sie warten. Und Lydia hasste es, wenn sie auf jemanden warten musste. Lydia war die Pünktlichkeit in Person. Sie war ohnehin in allem perfekt. Geradezu e-kel-haft!

Die junge Staatsanwältin griff nach ihrem Mantel und warf ihn sich über den Arm. Wütend schlug sie die Bürotür hinter sich ins Schloss. Was sie überhaupt nicht ausstehen konnte, war 'mein Mädchen' genannt zu werden. War sie neuerdings Bundeskanzlerin, oder was?

 

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»Da sind Sie ja endlich. Herrje, immer diese Unpünktlichkeit. Glauben Sie, ich hätte sonst nichts zu tun?«

Professor Dr. Emmanuel Lucius Steinlaken blickte die beiden Frauen, die just in diesem Augenblick den Obduktionsraum betraten, über den Rand seiner goldgeränderten Lesebrille hinweg ungnädig an. Steinlaken war hager, gut eins neunzig groß, weißhaarig und genauso blass wie seine stummen Patienten, die in einem Nebenraum in zahlreichen Schubläden auf das behördlich angeordnete Fleddern warteten. Es kam inzwischen immer häufiger vor, dass man Steinlaken bei ungeklärten Mordfällen auch von außerhalb zu Rate zog, und nicht selten brachte erst seine Expertise die Ermittler auf die richtige Spur. Was seine Eltern vor über sechzig Jahren dazu bewogen haben mochte, ihm derart ausgefallene Vornamen zu verleihen, blieb allen ein Rätsel. Auf den Beinamen 'Lucius' soll wohl der Vater, ein promovierter Historiker an der Uni Köln bestanden haben. Mit dem christlichen Märtyrer Emanuel aus dem ersten Jahrhundert nach Christi hatte Dr. Steinlaken jedenfalls wenig gemein. Der Professor für Rechtsmedizin galt schon seit jeher als praktizierender Atheist. Das merkte man besonders an seinem sehr nüchternen Umgang mit den Leichen auf seinem Seziertisch. Tote waren für ihn nichts anderes als eine langsam vor sich hin wesende Mischung aus Fleisch, Sehnen und Knochen. Nichts Mystisches und erst recht nichts, vor dem man auch nur ansatzweise Sowas wie Ehrfurcht haben musste. Den Begriff Seele kannte er allenfalls aus dem Lexikon.

»Was können Sie uns zur Todesursache sagen?« fragte Lydia, ohne auf die Bemerkung des Mediziners einzugehen.

Die Chefin der Spurensicherung kannte den Professor und dessen Schrullen nur zu gut. Steinlaken war imstande und begrüßte seine Besucher blutbesudelt, mit Schutzmaske zwischen Mund und Augen und einer betriebsbereiten Knochensäge in der Hand. Gerüchten zufolge gab es in seinem Büro eine Art Strichliste, auf der er penibel nach Geschlecht getrennt die Anzahl der Bedauernswerten festhielt, die bei ihm im Sezierraum umgekippt waren. Stefanie Michels war heilfroh, dass ihre Begleiterin die Konversation mit dem Rechtsmediziner übernahm. Sie brauchte immer erst eine gewisse Zeit, um sich an den Geruch von Tod und diverser Desinfektionsmittel zu gewöhnen. Für nichts auf der Welt wäre sie bereit gewesen, Professor Steinlaken bei seiner Arbeit auch nur für eine Sekunde über die Schulter zu schauen.

Mit geradezu theatralischer Geste streckte Steinlaken seinen rechten Arm in die Höhe. Steinlaken liebte diese selbst inszenierte Theatralik. Diese Ähnlichkeit in Mimik und Haltung zu einer legendären Skulptur von Michelangelo. Aus seiner Kehle entfuhr ihm ein heiserer Ruf.

»Frankenstein!«

In der Türöffnung zum Nachbarraum erschien das Gesicht eines jungen Mannes. Er hatte ein breites Gesicht, trug einen Bart, aber sein Schädel war so blank und kahl, dass man sich darin hätte spiegeln können. Lächelnd kam er auf seinem Bürostuhl herangerollt.

»Sie haben gerufen, Sire?«

»Kommen Sie gefälligst her, es gibt Arbeit«, meinte der Alte.

Dr. Frank Stein erhob sich von seinem Drehsessel. Erst jetzt konnte man erkennen, dass er beinahe genauso groß war wie Professor Steinlaken, dafür jedoch mindestens doppelt so viel auf die Waage brachte. Ein nicht zu unterschätzender Vorteil für einen Assistenten in der Gerichtsmedizin, wenn es darum ging, auch mal schwergewichtige Leichen hochzuwuchten und von rechts nach links zu drehen. Hätte man ihm ein flaches Toupet aufgesetzt und ein paar grob zusammengenähte Narben auf die Stirn geschminkt, er wäre ohne weiteres als Boris Karlows Frankenstein durchgegangen.

Lydia Sartorius reichte Dr. Stein die Hand.

»Freut mich, Sie wiederzusehen.«

Der Hüne deutete eine leichte Verbeugung an und ergriff die ihm dargebotene Hand. Im nächsten Moment zuckte Lydia zusammen.

»Oh, entschuldigen Sie! Meine Güte, war das schon wieder zu fest? Das tut mir aber auch leid.«

Lydia schüttelte ihre Hand aus. Ihre Stimme klang ein wenig gepresst.

»Nicht so schlimm. Irgendwann gewöhne ich mich schon noch an Ihren Händedruck.«

»Seid ihr zwei Hübschen jetzt endlich fertig mit eurer Turtelei?« brummte Steinlaken und dirigierte seinen Assistenten zu einem der Seziertische.

»Hallo, Herr Doktor«, murmelte die junge Staatsanwältin. Dabei verbarg sie vorsichtshalber ihre Hände hinter dem Rücken. Stein nickte ihr freundlich zu.

»Also, was haben wir denn hier«, deklamierte der Professor. Seine Stimme klang gelangweilt. Die Tote schien in seinen Augen wenig abwechslungsreich zu sein.

»Etwa sechzigjährige Frau, weiß, eindeutig Europäerin, in gutem gesundheitlichen Zustand, keine Operationsnarben, Zähne einwandfrei, keine Prothesen, kinderlos.«

»Kinderlos?« fragte die Staatsanwältin verblüfft.

»Jedenfalls hat sie nie entbunden«, erwiderte Steinlaken. »Kein Geschlechtsverkehr in den letzten achtundvierzig Stunden vor ihrem Ableben. Tod durch Herzbeuteltamponade beziehungsweise ausgedehnte Myokardverletzung verbunden mit einer Ruptur der Koronararterie. Ursächlich hierfür war ein Projektil vom Kaliber Neunmillimeter, Typ Parabellum. Handelsübliche Munition. Der Tod trat sofort ein. Das Fundstück habe ich der Kriminaltechnik zur üblichen ballistischen Untersuchung bereits gestern Abend per Boten zukommen lassen. Ach ja, und dann haben wir noch Hautpartikelreste unter den Fingernägeln gefunden, die nicht vom Opfer stammen. Ich habe bereits einen DNA-Abgleich vornehmen lassen. Keine Übereinstimmung mit Personen aus dem polizeilichen Register. Habe ich was vergessen, Frankenstein?«

Sein Adlatus schüttelte erwartungsgemäß den Kopf.

»Können Sie unsere Vermutung bestätigen«, mischte sich Stefanie Michels ein, »dass die Frau nicht am Fundort sondern anderswo umgebracht worden ist?«

Steinlaken sah die Staatsanwältin mit einer Mischung aus Verblüffung, tiefstem Unverständnis und Langeweile an. Seine Stimme nahm einen geradezu verächtlichen Ton an.

»Natürlich, oder haben Sie etwa zwei Liter Blut am Fundort der Leiche entdeckt? Soviel sollte sie nach einem Schuss ins Herz mindestens verloren haben.«

Die junge Staatsanwältin ließ nicht locker.

»Könnte das Blut nicht vom Wasser der Mosel fortgespült worden sein?«

»Könnte es sein, dass sie die Rechtsmedizin mit Kaffeesatzleserei verwechseln?« schnauzte der Professor zurück. »Kindchen, mein Job ist es, Leichen zu obduzieren und, wie in diesem Fall, eine Kugel herauszuoperieren. Wenden Sie sich von mir aus an die junge Dame neben Ihnen. Die Arbeit der Kriminaltechnik ist nicht unser Job.«

Lydia jedenfalls ließ sich von der abweisenden Haltung des Professors nicht aus der Ruhe bringen.

»Was können Sie uns über den Schusskanal und die Entfernung zwischen Waffe und Opfer sagen.«

Steinhagen seufzte und deutete auf die nur mit einem grünen Tuch abgedeckte Leiche. Sein Assistent sprang bereitwillig vor und zog mit gekonntem Griff das grüne Laken von der Toten. Ein Torero wäre mit seiner Muleta vermutlich nicht eleganter umgegangen. Stefanie Michels zuckte unwillkürlich zurück. Es war weniger der Anblick eines toten Menschen, der sie schockierte, es waren die groben Schnitte, die man der Toten bei der Obduktion zugefügt hatte. Und die Tatsache, dass die Leiche lediglich mit Nadel und ein bisschen grobem Faden notdürftig wieder zusammengeflickt worden war. Aber die Rechtsmedizin war halt kein Institut für kosmetische Chirurgie.

Lydia trat vor, ließ sich von Stein ein Vergrößerungsglas reichen und betrachtete die Einschussöffnung der Pistolenkugel genauer.

»Sie hatten übrigens recht«, meinte Steinhagen, und seine Stimme nahm zum ersten Mal einen versöhnlichen Unterton an. »Die Kugel steckte, wie Sie richtig vermuteten, tatsächlich zwischen dem fünften und sechsten Rippenbogen fest. Fast wäre es zu einem glatten Durchschuss gekommen, und dann wäre es in Ermangelung des Projektils, zumindest was die Bestimmung des Kalibers angeht, ein wenig kompliziert geworden. Aber zurück zu Ihrer Ausgangsfrage. Der Schusskanal verläuft fast gerade, das heißt, Täter und Opfer waren etwa gleich groß. Der Schuss war allerdings nicht aufgesetzt. Der Abstand zwischen Mündung der Waffe und der Toten selbst muss mindestens zehn Zentimeter betragen haben. Darauf deuten die Schmauchspuren an der Kleidung des Opfers hin.«

»Soweit, so gut«, meinte die Staatsanwältin. »Wann können wir mit Ihrem Obduktionsbericht rechnen?«

Steinhagen streckte erneut seinen rechten Arm in die Höhe. Dabei ließ er die Staatsanwältin für keinen Moment aus den Augen.

»Frankenstein!«

Der Assistent des Rechtsmediziners verschwand für einen kurzen Augenblick im Nachbarraum und tauchte kurz darauf mit zwei eng bedruckten Blättern Papier wieder auf.

»Das ging aber rasch«, erwiderte die junge Frau verblüfft.

»Keine Ursache«, erwiderte Stein. Eigentlicher Grund für diese unchristliche Eile war die Oberstaatsanwältin. Sie nervte ihn und den Professor schon seit den frühen Morgenstunden mit der Vorlage des Obduktionsergebnisses.

Steinhagen rückte sich seine Brille zurecht.

»Sonst noch was?«

Man hätte es auch als Rausschmiss Erster Klasse bezeichnen können.

 

»So ein arrogantes...« fluchte Stefanie leise vor sich. Die beiden jungen Frauen hatten gerade die die Rechtsmedizin verlassen und stiegen in Lydias Sportwagen.

Lydia schmunzelte.

»Sie kennen Steinhagen nicht. Der war doch heute richtig gut drauf. Normalerweise ist der nicht so gesprächig. Rechtsmediziner sind eine Spezies für sich. Die beurteilen ausschließlich das, was sie sehen, fühlen und riechen. Für Spekulationen haben die keinen Nerv. Und ich finde, das ist auch gut so. Mutmaßungen sind eher was für die Kripo. Wir sind für die harten Fakten zuständig.«

»Wir?«

Lydia startete den Motor und gab Gas.

»Damit meine ich uns Kriminalwissenschaftler.«

 

Ein heller Glockenton ertönte. Lydia drückte auf einen der Knöpfe an ihrem Lenkrad, während sie mit der anderen die Schaltwippe betätigte. Perfektes Multitasking. Hamilton und Vettel hätten das auch nicht perfekter gekonnt.

»Was gibt's?«

Gleichzeitig rauschte der Drehzahlmesser im Armaturenbrett ihres Audi R8 in astronomische Höhen. Aus der Lautsprecheranlage meldete sich die Stimme eines ihrer Mitarbeiter.

»Chef, wo stecken Sie?«

Die Frau auf dem Beifahrersitz musste unwillkürlich schmunzeln. Sie würde sich nie daran gewöhnen, dass man die Leiterin der Kriminaltechnik einfach nur mit 'Chef' ansprach. Bei ihr in der Staatsanwaltschaft wäre Sowas unvorstellbar gewesen. Die Breuer wäre im Karrée gesprungen, hätte man sie nicht mit 'Frau Doktor' angesprochen.

»Komme gerade aus der Rechtsmedizin und bin eigentlich auf dem Weg in die Firma. Was hast du auf Lager?«

Und dass man eine staatliche Dienststelle als 'Firma' bezeichnete und seine Mitarbeiter duzte, war ihr genauso fremd.

Währenddessen überholte Lydia einen vorausfahrenden Wagen und schaffte es anschließend nur knapp vor dem entgegenkommenden Fahrzeug wieder auf die rechte Fahrspur zu gelangen. Stefanie Michels schloss die Augen und betete inständig, dass die Airbags im Notfall auch tatsächlich das hielten, was der Hersteller versprach..

»Es geht um die Mordsache Grafenstein. Wir haben das Projektil in die Ballistik gegeben. Und jetzt halten Sie sich fest: Es ist identisch mit dem in einem Mordfall, der sich vor ein paar Wochen in Dessau ereignet hat. Ich habe mit den dortigen Kollegen...«

»In Dessau?« rief Stefanie Michels. »Sind Sie sicher?«

»Wer spricht da?« fragte die Stimme aus dem Lautsprecher.

Lydia lachte.

»Die ermittelnde Staatsanwältin. Und mit Dessau bist du dir sicher?«

»Hundertpro. Beide Projektile sind vom Kaliber Neunmillimeter Parabellum. Beide wurden zweifelsfrei aus derselben Waffe abgefeuert. In Dessau wurde damit ein niedergelassener Gynäkologe erschossen. In seiner eigenen Praxis. Täter bislang unbekannt.«

»Ein Arzt?« wunderte sich die Staatsanwältin.

»Spreche ich so undeutlich? Ja, ein gewisser Dr. Jochen Kohn. Den Hinweisen der dortigen Polizeibehörde zufolge ein eher unauffälliger Mensch. Hat in den letzten Jahren nicht mal einen Strafzettel wegen Falschparkens erhalten. Den Ossis ist der Fall ein einziges Rätsel.«

Instinktiv gab Lydia ihrem Sportwagen erst richtig die Sporen. Wahrscheinlich hätte sie sich in diesem Moment am liebsten in ihre Dienststelle beamen lassen. Stefanie war schon mehr als einmal in den Genuss ihrer Fahrkünsten gekommen, aber heute schien alles unter hundert Stundenkilometern Sowas ähnliches wie Parken am Straßenrand zu bedeuten.

»Gibt es Verdächtige?«

Der Anrufer wurde etwas einsilbig.

»Dazu wollten sich die Kollegen in den neuen Bundesländern nicht äußern. Wir wären ja angeblich nur die Kriminaltechnik. Man erwarte ein offizielles Auskunftsersuchen der zuständigen Staatsanwaltschaft. Ja, sagt mal, ticken die jetzt da drüber nicht mehr ganz sauber, oder was?«

»Ich kümmere mich darum«, seufzte Stefanie.

»Brauchen Sie nicht«, kam es aus dem Lautsprecher. »Ich habe die Kripo bereits informiert. Wir fahren zwar keinen Porsche, aber so fix wie die, sind wir allemal.«

Auch diesmal konnte sich Lydia ein Schmunzeln nicht verkneifen.

 

~~~~~~~

 

Sie hockten zu viert im Büro der Staatsanwältin. Auf Stefanies Besuchertisch stapelten sich Ermittlungsunterlagen, Berichte der Kriminaltechnik, diverse Notebooks, Tablets und Smartphones.

»Also, was haben wir?« eröffnete sie den Gedankenaustausch, deutete jedoch gleichzeitig auf ihre Armbanduhr. »Wir müssen uns ein bisschen beeilen. Ich habe nämlich gleich noch Termin bei der Oberstaatsanwältin. Der brennt die Angelegenheit ziemlich unter den Nägeln.

»Kein Wunder«, frotzelte Schäfer. »Die Breuer und die Bürgermeisterin von Grafenstein sind schließlich Mitglied im selben Golfklub.«

»Was Sie so alles wissen«, unterbrach ihn Stefanie leicht angesäuert. »Wenn Sie genauso rasch und effektiv recherchieren würden...«

Schäfer warf ihr einen angriffslustigen Blick zu.

»Während sich die beiden Damen zu einem Kaffeeplausch beim verehrten Professor Steinhagen aufhielten, haben Kollege Kroppke und ich in der Angelegenheit schon ein bisschen weiterermittelt. Dabei sind wir auf interessante Details gestoßen.«

Er grinste breit.

»Aber ich möchte Ihnen natürlich nicht vorgreifen, Frau Staatsanwältin. Berichten Sie doch bitte zuerst.«

 

Der ganze Morgen war in Stefanie Michels Augen auch so schon beschissen genug gewesen. Bis in die Nacht Berichte geschrieben, nur ein paar Stunden geschlafen, zwischen Tür und Angel der erste Stress mit der Oberstaatsanwältin und dann auch noch der Besuch in Steinhagens Gruselkabinett. Da musste so ein Vollpfosten mit seinem röhrenden Schwanzverlängerer ihre Geduld nicht noch mehr strapazieren. Ohne Vorwarnung platzte ihr sprichwörtlich der Kragen.

»Jetzt nehmen Sie sich aber mal gefälligst zusammen! Das nächste Mal schicke ich Sie in die Rechtsmedizin. Sowas macht Ihnen ja angeblich nichts aus, wie man hört.«

In der Polizeizentrale galt es als offenes Geheimnis, dass Schäfer bei der Obduktion einer Wasserleiche wie ein Leitz-Ordner zusammengeklappt und erst in der Notaufnahme des Marienhospitals wieder zu sich gekommen sein soll. Allerdings war die Leiche mindestens zweimal in den Propeller eines Frachtschiffs geraten und sah entsprechend aus. Trotzdem. Weichei!

Schäfers Augen verzogen sich zu schmalen Schlitzen. Dieses blöde verdorbene Muschelgericht vom Vortag. Was konnte er denn dafür, dass sein Magen ausgerechnet in der Rechtsmedizin zu revoltieren beginnen musste? Er gab Kroppke ein Zeichen. Gelangweilt kramte der Kriminalhauptmeister ein paar Aufzeichnungen hervor.

»Die Kollegen in Dessau waren eigentlich recht kooperativ. Jedenfalls sind die heilfroh, dass sie den Fall an uns weiterreichen können.«

»Was ist mit der Waffe?«

Kroppke zuckte die Schultern.

»Neunmillimeter Parabellum ist bekanntlich ein Allerweltskaliber. Damit schießt inzwischen bald jede dritte Knarre. Die Kollegen in Dessau tippen auf eine Makarov.«

»Eine Makarov, sagen Sie? Handelt es sich dabei nicht um ein russisches Modell?«

Der Kriminalhauptmeister nickte.

»Die Makarov wurde im Ostblock als Armeewaffe eingesetzt. Es gibt sie mit zwei Kalibern: 7,65 mm Browning und die Parabellum mit den üblichen neun Millimetern. Besonders die Neunmillimeter war seinerzeit sehr beliebt. In den Staaten würde man so eine Waffe als typischen 'Manstopper' bezeichnen. Sie ist nahezu baugleich mit unserer Walther PP. Die Pistole wurde erst in Russland hergestellt und anschließend auch in Ostdeutschland und Bulgarien.«

Stefanie Michels lehnte sich in ihrem Sessel zurück.

»Okay, wir haben also einen Mann und eine Frau, die in einem zeitlichen Abstand von rund zwei Wochen rund fünfhundert Kilometer voneinander entfernt offenbar mit ein und derselben Waffe umgebracht worden sind. Gibt es irgendeine Verbindung zwischen diesem Kron und der Toten im Yachthafen?«

»Kohn«, korrigierte Schäfer. »Dr. Jochen Kohn. Mitglied in einer Gemeinschaftspraxis. Behandelt ausschließlich Privatpatienten.«

»Nur Privatpatienten? Wie das?«

Schäfers Lippen verzogen sich zu einem spöttischen Grinsen.

»Dr. Kohn praktizierte bis zur Wende als Gynäkologe und Internist in Stollberg, einem Kaff zwischen Zwickau und Karl-Marx-Stadt.«

»Sie meinen Chemnitz.«

Schäfer schüttelte den Kopf.

»Karl-Marx-Stadt. So hieß diese Abbruchsiedlung jedenfalls bis kurz nach dem Mauerfall.«

»Bleiben wir trotzdem bei Chemnitz.«

»Wie Sie meinen. Dr. Kohn ließ sich irgendwann nach der Wende als Gynäkologe in Dessau nieder. Vermutlich wegen besserer Einkommensmöglichkeiten. Im Prinzip nichts Ungewöhnliches.«

Zur gleichen Zeit klickte die Chefin der Kriminaltechnik auf ihrem Tablet herum.

»Natürlich! Jetzt weiß ich wieder, woher ich den Namen Stollberg kenne. Die Frauenhaftanstalt Hoheneck. Dieser berüchtigte Never-come-back-Knast für Dissidenten, Republikflüchtlinge und sonstige politisch subversive Subjekte.«

Das Grinsen auf Schäfers Gesicht wurde breiter.

»Sie lassen mich ja nicht ausreden. Dr. Kohn praktizierte in Stollberg unter anderem auch als Anstaltsarzt. Nach der Wende kam es zu einigen Prozessverfahren wegen ärztlicher Kunstfehler, Falschmedikation und unterlassener Hilfeleistung. Zwischenzeitlich sah es danach aus, als würde er deswegen sogar seine Approbation verlieren. Das ist wohl auch der Grund, warum Dr. Kohn keine Kassenpatienten behandelt. Er hat bei der Kassenärztlichen Vereinigung aus gutem Grund nie einen Antrag auf Zulassung gestellt. Sämtliche Verfahren endeten übrigens mit einem Vergleich. Da soll teilweise eine Menge Geld geflossen sein.«

»Wie viel?«

»Hunderttausende.«

»Woher soll denn ein gewöhnlicher Landarzt aus der östlichen Wallachei soviel Geld haben, um all die Vergleiche zu bedienen?«

Schäfer zuckte die Schultern

»Weiß man's? Ich könnte mir vorstellen, dass da eine Menge Leute mit ehemaligem SED-Parteibuch viel Geld bereitgestellt haben, damit es nie zu einer ordentlichen Beweisaufnahme kam. In einem Gerichtsverfahren wäre unter Umständen einiges an politischem Zündstoff freigesetzt worden.«

»Kommt man an Zeugen oder damalige Prozessgegner heran?«

Schäfer schüttelte den Kopf.

»Teils sind die Leute bereits verstorben, teils schweigen wie ein Grab. Vermutlich gehörte das mit zur Abmachung.«

»Hat man in Dessau keinen Tatverdächtigen ermitteln können?« meinte sie kurze Zeit später.

»Ja und nein«, erwiderte Schäfer.

»Was soll das heißen?«

»Anfangs konzentrierten sich die Ermittlungen auf eine Frau aus Chemnitz. Sie kam allem Anschein nach aber nicht als Täterin in Frage.«

»Sie sprechen in Rätseln«, mischte sich Lydia ein.

Schäfer warf der Leiterin der Trierer Kriminaltechnik einen gelangweilten Blick zu.

»Eine seiner letzten Patientinnen an dem besagten Tag war angeblich eine gewisse Luise Kahlert. Eine in den Achtzigerjahren von einem DDR-Gericht rechtskräftig verurteilte Mörderin. Nach der Wende verbüßte sie noch einen Teil ihrer Haftstrafe in der JVA Schweinfurt, kam dann in den offenen Vollzug und wurde Ende der Neunziger wegen angeblich guter Führung entlassen. Anschließend lebte sie in Karl-Marx..., äh, in Chemnitz. Und zwar von Hartz IV.«

»Von Hartz IV?«

Schäfer verzog das Gesicht.

»Mitte Sechzig, gelernte Näherin und rechtskräftig wegen Mordes verurteilt. So jemand findet bei uns doch keine Stelle. Nicht mal als Klofrau.«

»Und wieso kommt sie als Mörderin nicht in Frage?«

»Wie hätte die sich denn von den paar Euro fünfzig Sozialhilfe im Monat auf dem Schwarzmarkt eine Neunmillimeter besorgen können? Die Dinger liegen schließlich nicht auf der Straße herum. Die Kollegen haben das bestätigt. Angeblich besaß Frau Kahlert nicht mal ein vernünftiges Bankkonto.«

»Aber die Fahrt nach Dessau, um sich dort von einem Arzt untersuchen zu lassen, der ausschließlich Privatpatienten behandelt, die konnte sie sich leisten. Wo saß diese Luise Kahlert in der ehemaligen DDR eigentlich ein?«

Schäfers Assistent blätterte eine Weile in seinen Unterlagen herum, ehe er auf den entscheidenden Hinweis stieß. Er schaute erst seinen Vorgesetzten und dann die Staatsanwältin mit großen Augen an.

»Das glaube ich jetzt nicht! In Hoheneck.«

»Du spinnst!« keuchte Schäfer und zerrte seinem Mitarbeiter die Unterlagen aus der Hand.

Zum ersten Mal an diesem Tag schien es ihm die Sprache zu verschlagen. Sowas hätte dem dämlichen Kroppke doch auffallen müssen. Was für eine Blamage! Stefanie schloss für einen kurzen Moment die Augen, um sich besser konzentrieren zu können.

»Wir haben also einen ermordeten ehemaligen Anstaltsarzt und eine rechtskräftig verurteilte Mörderin von Mitte sechzig, die möglicherweise zu dessen Patientinnen gehörte. Eine Hartz-IV-Empfängerin, die sich eine kostspielige Privatbehandlung eigentlich gar nicht leisten konnte. Beide Personen müssen sich notgedrungen im Frauengefängnis Hoheneck über den Weg gelaufen sein. Vielleicht nur einmal, vermutlich aber mehrmals. Anders lässt es sich kaum erklären, dass Luise Kahlert ausgerechnet bei Dr. Kohn auftaucht. Wobei der auch noch ein gehöriges Stück weit weg von ihrem Wohnort praktiziert. Kurz nach Luise Kahlerts Besuch wird Dr. Kohn erschossen in seiner Praxis aufgefunden. Was sagen eigentlich die Kollegen in Dessau und Chemnitz zu den Geschehnissen? Es muss doch eine Begründung geben, warum die Ermittlungen gegen Luise Kahlert fallen gelassen wurden.«

Weil Schäfer sich nach dieser Blamage in Schweigen hüllte, ergriff Kroppke das Wort.

»Es gibt da ein Vernehmungsprotokoll. Luise Kahlert streitet den Besuch bei Dr. Kohn ab. Sie gab zwar zu, den Mann aus ihrer Zeit in der Haftanstalt Hoheneck zu kennen, bestritt allerdings jeglichen persönlichen Kontakt. Mit den paar Euro monatlich in der Tasche habe sie sich ja wohl kaum eine teure Privatbehandlung leisten können, heißt es. Wie ihr Name in die Patientenkartei von Dr. Kohn geraten sei, konnte sie sich nicht erklären. Möglicherweise eine Namensgleichheit. Den Mitarbeiterinnen in der Arztpraxis war die Frau jedenfalls völlig unbekannt. Der zuständige Untersuchungsrichter lehnte daher auch eine Untersuchungshaft ab.«

Er blätterte weiter in den Unterlagen und stutzte.

»Oha! Die Kahlert behauptet, kurz vor Kohns Tod von einer jungen Frau aufgesucht worden zu sein, die sie sehr intensiv über die damaligen Geschehnisse in Hoheneck ausgefragt haben soll. Der ging es überwiegend um die Namen von Gefängnismitarbeitern und um das Schicksal der Häftlinge speziell in der Zeit um die Wende.«

»Wer war die Frau?« wollte Stefanie Michels wissen.

»Angeblich eine Journalistin. An der Namen konnte sie sich allerdings nicht mehr erinnern.«

Die junge Staatsanwältin grinste spöttisch.

»Natürlich nicht. War auch nicht anders zu erwarten. Aber bleiben wir mal bei dieser mysteriösen Besucherin. Was wäre, wenn die der Kahlert Geld zugesteckt hat. Geld für einen Auftragsmord.«

Kroppke schaute erstaunt hoch.

»Eine Journalistin?«

»Wer sagt denn, dass die überhaupt von einer Zeitung war. Vielleicht handelt es sich um jemanden, der mit Dr. Kohn noch eine Rechnung offen hatte und sich selbst die Finger nicht schmutzig machen wollte. Schäfer, klären Sie das bitte ab. Die Kollegen in Chemnitz sollen diese Luise Kahlert nochmal vernehmen.«

Kroppke machte ein trauriges Gesicht.

»Das wird leider nicht mehr möglich sein. Frau Kahlert ist inzwischen verstorben.«

»Verstorben? Wie das?«

»Verkehrsunfall mit Fahrerflucht. Sie soll angeblich betrunken eine Hauptverkehrsstraße überquert haben. Der Verursacher konnte nicht ausfindig gemacht werden.«

Stefanie seufzte.

»Das wäre ja auch zu schön gewesen, um wahr zu sein.«

Lydia zog die Stirn in Falten.

»Wurde die Frau obduziert?«

Kroppke blätterte nochmal seine Unterlagen durch, schüttelte dann aber den Kopf.

»Nein, tut mir leid. Der hinzugezogene Notarzt attestierte Tod durch Genickbruch. Offenbar sah man in Chemnitz keinen Grund für weitere medizinische Ermittlungsmaßnahmen.«

»Natürlich nicht«, knurrte Stefanie. »Eine Obduktion hätte schließlich jede Menge Schreibkram bedeutet.«

Sie wandte sich an Lydia.

»Können Sie da was unternehmen?«

Die Chefin der Trierer KTU runzelte die Stirn.

»Sie denken an eine Exhumierung? Was sollte das bringen? Im übrigen glaube ich kaum, dass Sie bei der dünnen Beweislage hierfür eine Genehmigung erhalten. Vom Grundsatz her, ändert sich ja auch nichts an der Beweislage. Die Frau wurde überfahren und starb an ihren Verletzungen. Eine Exhumierung würde an diesen Tatsachen nichts ändern.«

Sie warf einen Blick auf ihre Uhr.

»Seien Sie mir nicht böse, aber meine Arbeit erledigt sich auch nicht von selbst. Falls Sie mich brauchen, Sie wissen ja, wo Sie mich finden.«

Stefanie nickte.

»Jedenfalls vielen Dank für Ihre Unterstützung.«

 

»Wissen wir inzwischen Näheres über die Tote im Yachthafen?«

Kroppke verzog sein Gesicht.

»Wenig. Erna Kosinsky, die spätere Frau Leinfeld, stammt ursprünglich aus Ostdeutschland. Kurz nach der Wende lernte sie den Unternehmer Bernd Leinfeld aus Hannover kennen. Die Beiden heirateten, die Ehe galt als vorbildlich, blieb jedoch kinderlos. Während einer Wanderung im Hochgebirge kam Bernd Leinfeld laut Aussage seiner Ehefrau ins Straucheln und stürzte vor ihren Augen in den Tod. Erna Leinfeld verkaufte daraufhin die Firma ihres Mannes und zog ins belgische Spa. Da es keine näheren Verwandten mit Erbansprüchen gab, ging die Angelegenheit relativ geräuschlos über die Bühne. Die Firma gehört inzwischen einem koreanischen Elektronikkonzern.«

»Gab es irgendwelche polizeiliche Ermittlungen?«

Kroppke zog ein weiteres Ermittlungsdossier hervor. Er war sowohl in deutscher als auch italienischer Sprache abgefasst.

»Die Kollegen in Südtirol haben die Angelegenheit akribisch geprüft, konnten jedoch kein Fremdverschulden feststellen. Frau Leinfeld soll sich nach dem Tod ihres Ehemannes sogar noch vor Ort in psychologische Betreuung begeben haben. Sie sei angeblich ziemlich fertig gewesen.«

»Haben Sie etwas über das Vorleben der Dame herausbekommen? Kindheit, schulische Ausbildung, beruflicher Werdegang?«

Kroppke nickte. Sehr enthusiastisch wirkte er jedoch nicht.

»Typische DDR-Vita. Vater Fabrikarbeiter, Mutter Angestellte in einem Kombinat. Über die Tote ist lediglich bekannt, dass sie sich früh zu den Jungen Pionieren meldete. Das war Sowas Ähnliches wie die Hitlerjugend, bloß mit rotem Halstuch...«

»Ich habe von den Jungen Pioniere gehört«, unterbrach ihn Stefanie. »Mit der HJ hatten die allerdings wenig gemein.«

»Darf ich fortfahren? Erna Leinfeld, damals noch Erna Kosinsky, ging nach der Schulausbildung zu den Grenztruppen. Anschließend wechselte sie zu Erich Mielke.«

»Zur Stasi?« schnaubte Schäfer. »Na ja, wohin auch sonst.«

Stefanie warf dem Kripobeamten einen scharfen Blick zu. Schäfer zuckte die Schultern.

»Ihre Karriere als Mitarbeiterin des Ministeriums für Staatssicherheit«, fuhr Kroppke fort, »verlief allerdings wenig spektakulär. Beschäftigt in einer Dienststelle in Karl-Marx-Stadt, ausgeschieden 1990 im Rang eines Oberleutnant. Während eines laufenden Antragsverfahrens zur Übernahme in den Öffentlichen Dienst lernte sie Bernd Leinfeld kennen. Nach ihrer Heirat legte sie auf eine Weiterbeschäftigung im Staatsdienst erwartungsgemäß keinen gesteigerten Wert mehr. Wenn ihr mich fragt, gehörte sie zu den wenigen Gewinnern der Wende.«

»Wie hat sie diesen Leinfeld überhaupt kennengelernt?«

Kroppke zuckte die Schultern.

»Darüber geben die Akten nichts her.«

Stefanie räumte ihre Unterlagen zusammen.

»Okay, machen wir Schluss für heute. Ich muss sowieso noch zur Oberstaatsanwältin. Was ist, Schäfer? Kommen Sie mit?«

Der Kriminalhauptkommissar winkte ab.

»Ich weiß nicht, ob das im Augenblick so eine gute Idee...«

Stefanie lächelte milde.

»Haben Sie den Porsche schon wieder auf ihrem Platz geparkt, oder was ist sonst der Grund?«

»Schlimmer«, gackerte Kroppke mit einem Mal drauflos. »Unser junger Kollege hat sich für die Abschaffung der Raucherecke hinter der Kantine stark gemacht.«

Stefanie brach in schallendes Gelächter aus.

»Und da sind Sie noch nicht zum Streifendienst abkommandiert? Mensch, muss die Alte aber gute Laune haben.«

 

Die hatte Dr. Sabine Breuer jedoch ganz und gar nicht. Nachdem Stefanie ihrer Vorgesetzten die laufenden Ermittlungsergebnisse vorgetragen hatte, zeigte sich die Oberstaatsanwältin wenig begeistert.

»Das ist alles? Heute Nachmittag findet eine Pressekonferenz statt. In dem Mordfall steckt eine Menge politischer Zündstoff, meine Liebe. Die Bürgermeisterin von Grafenstein ist bereits schwer unter Druck. Ebenfalls für heute ist nämlich zu allem Überfluss auch noch eine Demo auf dem Rathausplatz anberaumt. Schröders Splitterpartei im Gemeinderat will der Balfelderin mal so richtig die Hölle heiß machen, wie man hört. Von wegen, Grafenstein und Umgebung seien nicht mehr sicher. Zu viele Ausländer, zuviel Kriminalität. Dem passen unsere beiden bulgarischen Nutten, die nach dem Auftauchen der Leiche urplötzlich in der Versenkung verschwunden sind, natürlich perfekt in den Kram. Hoffentlich könnt ihr die wenigstens bald mal dingfest machen.«

»Rumänische Frauen aus dem Rotlicht-Milieu«, verbesserte die junge Staatsanwältin.

»Ach, hören Sie mir doch auf! Ich brauche handfeste Ergebnisse, und zwar rasch. Dem Schröder muss endlich mal gehörig das Maul gestopft werden. Rechtsextreme können wir bei uns im Landkreis überhaupt nicht gebrauchen. Und denken Sie immer daran, dass ich es war, die sich seinerzeit dafür stark gemacht hat, dass Sie bei uns Staatsanwältin werden konnten. Und das auch noch so jung und ohne Promotion. Also, enttäuschen Sie mich nicht!«

»Yes, Ma'm!« erwiderte Stefanie zackig und wirbelte förmlich auf dem Absatz herum. Irgendwann musste sie tatsächlich ihre Dissertation nachholen. Wie ihr das allerdings bei diesem Arbeitspensum und gleichzeitig ohne Schummelei gelingen sollte, war ihr ein Rätsel.

Draußen auf dem Gang zog sie ihr Smartphone aus der Tasche.

»Lydia, wo stecken Sie? Ich will mich nochmal am Tatort umsehen. Was ist, kommen Sie mit? Vorher machen wir aber noch einen kleinen Abstecher ins Rathaus von Grafenstein. Ich möchte zu gerne wissen, was uns die Bürgermeisterin zu den beiden Prostituierten sagen kann.«

 

 

 

 

Kapitel 9

 

 

Weil wir den Volvo nahmen, kamen wir gerade noch rechtzeitig zum großen Volksfest, und als das konnte man den Herdenauftrieb vor dem Rathaus durchaus bezeichnen. Angesichts der Typen, die Schröder zu seiner eigenen Sicherheit engagiert hatte, beschlich einen das Gefühl, jemand hätte die Uhr neunzig Jahre zurückgestellt. München, Bürgerbräukeller und nicht Grafenstein, Rathausplatz. Eigentlich fehlte nur noch, dass Schröder sich rasch ein kurzes Oberlippenbärtchen anklebte, die rechte Hand zum Heilkräuteraufguss erhob und wortgewaltig deklamierte:

»Proklamation an das Deutsche Volk! Gemeinderat und Bürgermeisterin von Grafenstein sind heute abgesetzt worden...«

Doch so dummdreist war der Schröder natürlich nicht. Die neue Generation der braunen Pest ging wesentlich subtiler vor. Immer im Rahmen des geltenden Rechts und stets verbindlich im Umgang mit der Staatsgewalt. In letzter Konsequenz dann aber wieder knallhart. Schwäche, das war was für den politischen Gegner. Ein paar muskelbepackte Glatzköpfe in pechschwarzen eng anliegenden T-Shirts mit weithin sichtbarem Aufdruck 'Ordner', das reichte in der Regel aus, um bei solchen Veranstaltungen das vorlaute Geplärre politisch Andersdenkender im Keim zu ersticken.

Schröder klopfte zweimal auf sein Mikro, es piepste in den Lautsprechern, und der Mann im hellgrauen Anzug mit der Krawatte in den Farben der ehemaligen Reichskriegsflagge nahm Haltung an. Eigentlich fehlte nur noch die Nationalhymne. Bloß welche?

»...bürgerinnen und Mitbürger von Grafenstein, liebe Freunde...«

»Was heißt hier Freunde?« muffelte neben mir ein etwa vierzigjähriger Mann mit deutlichem Bauchansatz und einem unübersehbaren Rest Babyspucke auf der linken Schulter. »Wen bezeichnet der denn in Grafenstein als seine Freunde?«

Ich kannte solche Typen. Rissen überall das Maul auf, solange sie sich nur tief genug hinter ihrem Vordermann wegducken konnten. Aber wenn erst mal die Knüppel flogen oder die Staatsgewalt mit dem Wasserwerfer anrückte, waren diese Typen die ersten, die Fersengeld gaben. Schröders Security hielt sich währenddessen brav im Hintergrund und ließ der Presse genügend Raum, sich vor dem Rednerpult zu positionieren. Auch fünf, sechs Schüler aus Gregors Abschlussklasse hatten sich in Schröders Nähe aufgestellt. In Einheitskleidung. Schwarze Chinos und hellgraue Sweatshirts. Sogar Ballensiefens Tochter sah ich in der Gruppe. High-Heels und Burberry-Täschchen zwischen hundert Prozent feinstem Baumwolle-Polyester-Gemisch. Mailand trifft Bangladesch. Man glaubte es kaum!

 

Der Mann am Rednerpult lächelte in die Kameras und fingerte dabei spielerisch an seinem Hemdkragen herum. Der traute sich ja was. Auf dem schwarz-weiß-roten Schlips fehlte nicht mal das Kreuz des Deutschordens. Ich schaute mich kurz um. Breitenbach und seine beiden Hilfssheriffs glänzten jedenfalls durch Abwesenheit. Vermutlich waren die immer noch dazu verdonnert, beim Ballensiefen das Moselufer auf links zu drehen. Eine solche Volksversammlung ohne jegliche Polizeipräsenz? Ein ganz fettes Minus für die Bürgermeisterin.

»Ich heiße Sie willkommen und freue mich, dass Sie so zahlreich erschienen sind. Sie haben sicherlich heute Morgen in der Zeitung gelesen, dass im Yachthafen eine Touristin unter mysteriösen Umständen ums Leben gekommen ist.«

Er legte eine kurze Pause ein, damit das Volksgemurmel an Lautstärke zulegen konnte. Geschickt gemacht. Der Kerl verstand sein Handwerk. Im nächsten Augenblick hob Schröder die Arme.

»Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger, liebe Freunde. Wie Sie alle wissen, mache ich mir bereits seit geraumer Zeit Sorgen um die Sicherheit in Grafenstein und Umgebung. Dieser Mordfall, ja, liebe Freunde, ich spreche von einem Mordfall, gibt uns allen Grund zu der Annahme, dass das Ordnungsamt und allen voran die Bürgermeisterin unsere Sicherheit nicht mehr garantieren können.«

»Für Sicherheit und Ordnung ist immer noch die Polizei zuständig«, beschwerte sich eine junge Frau ganz vorne in der ersten Reihe. Sie trug einen Zweijährigen auf dem Arm.

Ein Lächeln huschte über Schröders Gesicht.

»Da haben Sie natürlich vollkommen recht, aber wer bestimmt denn, wo sich unsere Ortspolizei tagsüber aufhält? Die Verwaltung, meine Liebe. Frau Balfelder ist es wesentlich wichtiger, den Stadtsäckel mit Verwarnungsgelder zu füllen, statt dafür zu sorgen, dass Gewaltverbrechen ungeschehen bleiben.«

Zustimmendes Gemurmel besonders unter den männlichen Anwesenden. Kein Wunder. In letzter Zeit hatte sich die Zahl der Verkehrskontrollen nahezu vervierfacht. Inzwischen blitzte es an allen Ecken und Enden, dass einen manchmal das Gefühl beschlich, man wäre nicht mehr Autofahrer, sondern Mitglied einer französischen Cancan-Gruppe während der Mitternachtsvorstellung im Moulin Rouge.

»Nicht schlecht, der Typ«, murmelte mein Onkel und machte Lanzerath Platz, der sich in diesem Augenblick zu uns gesellte. Ich drückte unserem Totengräber kurz die Hand.

»Ich habe große Bedenken, was unser aller Sicherheit betrifft, liebe Freunde. Da fällt mitten unter uns eine sechzigjährige Frau einem Gewaltverbrechen zum Opfer. Bedauerlich, mögen manche von Ihnen denken, Sowas kommt vor. Gewiss, aber wir leben hier in einem beschaulichen Weinort an der Mosel und nicht im Bahnhofsviertel von Frankfurt oder Wiesbaden. Hinzu kommen die näheren Begleitumstände. Wer hat die Tote angeblich entdeckt? Zwei Frauen aus dem Rotlichtmilieu, die für den Besitzer des Yachthafen-Restaurants arbeiteten. Inzwischen sind die Damen untergetaucht.«

Erneut ging ein Raunen durch die Menge. Viele der Umstehenden blickten sich ratlos an oder begannen zu tuscheln. Auch das hatte Schröder einkalkuliert, denn wie von Geisterhand wurde der Verstärker höher gedreht.

»Untragbare Zustände, besonders wenn man bedenkt, dass der Yachthafenbetreiber eine minderjährige Tochter hat dadurch auch gleichaltrige Klassenkameradinnen in seinem Haus ein- und ausgehen. Aber das ist noch längst nicht alles.«

Lanzerath schüttelte seine rechte Hand aus. So, als wenn er sich an etwas Heißem verbrannt hätte.

»Schade, dass Tuttifrutti im Augenblick nicht hier ist. Wahrscheinlich würde der seine liebe Julia vor versammelter Mannschaft an den Ohren vom Platz zerren.«

 

Erneut legte Schröder eine kurze Pause ein, während der sich das Gemurmel in der Menge weiter verstärken konnte. Proteststimmen waren jedenfalls kaum zu hören. Doch plötzlich kam Bewegung in die Menge. Melanie Balfelder betrat die Bühne. In ihrem Gefolge befand sich der Rektor der Realschule. Ich stöhnte innerlich auf. Meine Güte, Gregor! Warum bist du nicht einfach in der Schule geblieben? Musst du dich wirklich in alles einmischen?

»Ah, die Frau Bürgermeisterin«, spottete Schröder. »Ich grüße Sie. Lässt Ihnen die Arbeit im Rathaus also tatsächlich Zeit, sich um die Ängste und Nöte der Bevölkerung zu kümmern. Meine Damen und Herren, begrüßen Sie mit mir Frau Melanie Balfelder!«

»Der Typ hätte Entertainer werden sollen«, meinte Lanzerath.

Unsere Bürgermeisterin baute sich mit hochrotem Kopf vor dem Rednerpult auf.

»Hören Sie doch auf, die Leute zu verunsichern!«

Sie musste brüllen, um sich vor der anwesenden Menschenmenge Gehör zu verschaffen. Auch das war von Schröder geschickt inszeniert worden. Ein zweites Mikrofon gab es natürlich nicht, und seines legte er nicht aus der Hand. Warum die Balfelderin nicht wenigstens ein tragbares Megafon mitgebracht hatte, blieb mir ein Rätsel.

»Ängste und Nöte schüren doch höchstens Sie mit Ihrem rechtsradikalen Geschwafel!«

Im nächsten Augenblick sah ich am Rand der Menschenmenge zwei bekannte Gesichter auftauchen. Staatsanwältin Stefanie Michels und die Chefin der Trierer Spurensicherung. Was hatten die denn bei uns verloren? Ich winkte den beiden Frauen zu. Frau Michels erkannte mich, winkte zurück und zog die andere Frau hinter sich her. Im Mordfall Leinfeld waren wir zwar alle inzwischen irgendwie verdächtig, aber der Teufel sollte mich holen, würde ich mir diese Gelegenheit durch die Lappen gehen lassen. Zum einen konnte ich vielleicht etwas mehr über die Ermittlungen erfahren und zum anderen endlich nähere Bekanntschaft mit der schönen Lydia machen.

Schröders Gesicht verzog sich währenddessen zu einem breiten Grinsen.

»Ts, ts, ts. Frau Balfelder, Frau Balfelder. Falls es Ihnen entgangen sein sollte: Ich bin demokratisch gewähltes Ratsmitglied. Was ich meinen Wählern, den Mitbürgerinnen und Mitbürgern von Grafenstein zu erklären versuche, ist in Ihren Augen also bloß Geschwafel?«

Er wandte sich mit theatralischer Geste an die umstehende Menge.

»Aber lieber schwafele ich, als dass ich meine Wähler für dumm verkaufe.«

 

Stefanie Michels und Lydia Sartorius bedachten Lanzerath und mich mit einem kurzen Kopfnicken. Ich stellte den beiden Frauen meinen Onkel vor. Lydia ging in die Knie und streichelte hingebungsvoll Robespierres Kopf. Und was machte der Köter? Schleckte die Chefin der Trierer Kriminaltechnik nach allen Regeln der Kunst von oben bis unten ab. Gerade so, als hätte man ihr Gesicht wie am Filmset mit Akazienhonig eingeschmiert. Und Lydia protestierte nicht einmal, sondern warf meinem Onkel sogar noch einen Verständnis heischenden Blick zu. Langsam musste ich diesen irischen Bettvorleger loswerden. Der stahl einem ja inzwischen überall die Show.

Vorne am Rednerpult wurde es währenddessen turbulent.

»Was wollen Sie damit andeuten?« kreischte die Bürgermeisterin.

Sie musste förmlich schreien, um sich Gehör zu verschaffen, denn hinter ihr wurde das Stimmengewirr immer lauter. Jetzt war Schröder in seinem Element.

»Stichwort Einwohnermelderecht. Wie man hört, sind die beiden Rumäninnen, die in Ballensiefens Yachthafen-Restaurant arbeiten, nicht mal ordentlich angemeldet. Kein Wunder, vermutlich besitzen die Damen gar keine gültige Arbeitserlaubnis. Bei der Zentralstelle für Arbeitsvermittlung sind sie jedenfalls nicht registriert. Und das ist niemandem im Rathaus aufgefallen? Also können bei uns inzwischen alle möglichen Subjekte Unterschlupf finden und sich eventuell auch noch prostituieren? Schon mal an die Minderjährigen bei uns im Ort gedacht, Frau Balfelder?«

Das saß! Schröder schien gut informiert zu sein, und mit einer gehörigen Portion Dreistigkeit konnte man den einfachen Mann auf der Straße natürlich gehörig in Rage bringen. Er setzte gleich noch eins drauf.

»Fangen Sie an, Ihren Job zu tun, meine Liebe. Oder treten Sie von Ihrem Amt zurück und lassen Sie engagiertere Politiker ran.«

»Das bestimmen ja wohl nicht Sie!« Melanie Balfelders Stimme klang immer schriller.

Schröder winkte gelangweilt ab.

»Da haben Sie wohl recht. Aber die Leute hier auf dem Rathausplatz, die Mitbürgerinnen und Mitbürger von Grafenstein. In meinen Augen sind Sie ohnehin schon viel zu lange im Amt. Korruption, Vetternwirtschaft, Bereicherung. Langt das nicht?«

»Ich zeige Sie an! Das ist Verleumdung!«

»Verleumdung? Bei uns weiß doch jedes Kind, was da seinerzeit im Neubauviertel gelaufen ist. Aber tun Sie sich im Himmels Willen keinen Zwang an. Jeder blamiert sich halt so gut er kann.«

 

Stefanie Michels zeigte in Richtung Rednerpult und warf mir einen fragenden Blick zu.

»Stimmt das, was der Kerl da behauptet?«

Ich grinste.

»Wie sagt schon Radio Eriwan? Im Prinzip, nein. Aber eben nur im Prinzip. Na ja, Korruption und Vetternwirtschaft sind ein weites Feld, aber das brauche ich Ihnen ja wohl nicht lang und breit zu erklären.«

Schröder ersparte mir weitere Erklärungen. Breit grinsend beugte er sich weit über sein Rednerpult hinweg. Jetzt hatte er die Bürgermeisterin genau da, wo er sie haben wollte

»Stichwort Sozialwohnbauprojekt, bei dem Ihnen ausgerechnet die eigenen Leute einen Strich durch die Rechnung gemacht haben. Typisch Ossi! Da will eine Möchtegern-Kapitalistin aus den neuen Bundesländern bei uns im Westen die schnelle Kohle zu machen, indem sie irgendwelchen Amigos unter der Hand für teuer Geld deren Brachland abkauft, dafür jedoch bei dem Versuch, den Parteifreunden im Rat einen passend zugeschnittenen Bebauungsplan abzuschwatzen, aber Sowas von grandios auf die Nase fällt, dass es fast schon peinlich ist. Pech für Sie, dass den Leuten hier in Grafenstein rechtzeitig ein Licht aufgegangen ist. Da war das Geschrei im Hause Balfelder aber groß, nicht wahr, meine Liebe? Oder muss ich noch deutlicher werden?«

»Trifft das zu?« fragte die Staatsanwältin.

Mist! Warum konnte nicht Lydia so wissbegierig sein? Aber die hatte alle Hände voll mit der Vergabe von Streicheleinheiten an einen normalerweise bisswütigen Wolfshund zu tun.

»Nun, es ist in Grafenstein tatsächlich ein offenes Geheimnis, dass sich die Balfelders bei ihrer letzten Grundstücksspekulation verzockt haben, aber deshalb gleich von Vetternwirtschaft und Korruption zu sprechen? Die Grundstücke wurden ordnungsgemäß bezahlt und notariell im Grundbuch auf die neuen Eigentümer überschrieben. Dass die Balfelders hierbei mit den Stimmen im Gemeinderat zwecks Umwandlung einer wertlosen Brache in Bauland insgeheim gerechnet haben, ist ja wohl auch kein Strafrechtstatbestand. Alles weitere überlasse ich Ihrer Phantasie.«

»Sie kennen sich in Grafenstein aber verdammt gut aus, wo Sie doch erst knapp fünf Jahre hier wohnen.«

Ich hob die Augenbrauen.

»Jetzt haben Sie aber Ihre Hausaufgaben nicht gemacht, meine Liebe. Ich bin in Grafenstein aufgewachsen. Allerdings habe ich zwischendurch ein paar Jahre im Ruhrgebiet gelebt.«

Die junge Frau schaute mich nachdenklich an.

»Ja, richtig. Ihr damaliger Job in Bochum. Was ist eigentlich aus dem Disziplinarverfahren geworden?«

 

Zum Glück ging die Auseinandersetzung zwischen der Bürgermeisterin und dem verhassten Ratsmitglied in die nächste Runde. Dies ersparte mir eine langatmige Erklärung. Schröder wandte sich erneut an die Menschenmenge auf dem Rathausplatz.

»Die Gemeindeverwaltung Grafenstein scheint neuerdings ohnehin eine ziemlich ruhige Kugel zu schieben, meine Damen und Herren. Wie man hört, existiert im Neubauviertel ein illegal errichtetes Treibhaus. Davon ahnt das Bauordnungsamt natürlich auch nichts, wie man mir gegenüber eingestand. Und soll ich Ihnen sagen, liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger, was dort wächst und gedeiht? Marihuana. Ja, Sie haben richtig gehört. Im Neubauviertel von Grafenstein floriert der Hanfanbau. Direkt vor den Augen unserer Bürgermeisterin. Schließlich wohnt sie nur ein paar Häuser entfernt. Und jetzt frage ich Sie: Wo soll das alles noch hinführen?«

Meine Hand griff instinktiv zu meinem Handy. Ich musste Sophia anrufen. Doch im nächsten Moment zuckte ich zurück. War ich närrisch? Neben mir stand eine waschechte Staatsanwältin. Was sollte die von mir denken?.

»Wussten Sie das?«

Ich zuckte die Schultern

»Keine Ahnung, wovon der spricht. Wahrscheinlich haben sich bloß ein paar Kids eine Handvoll Cannabispflanzen für den Bio-Unterricht besorgt und anschließend versehentlich auf der Fensterbank stehen lassen.«

Ich versuchte ein unschuldiges Lächeln aufzusetzen, das jedoch gründlich misslang. Hinter meinem Rücken überkreuzte ich zur Sicherheit Zeige- und Ringfinger meiner rechten Hand. Wer weiß, ob die Angelegenheit für mich nicht noch mal zum Schwur kam.

 

Weisz bahnte sich seinen Weg durch die Menge. Er ging sofort auf seine Schüler zu.

»Was treibt ihr hier? Es ist Unterricht! Ab, in die Schule!«

Einer der Jungs trat vor. Er machte sich erst gar nicht die Mühe, seine Häme zu verbergen.

»Hier findet gerade Unterricht statt, Herr Weisz. Politikunterricht. Und zwar in der Praxis. Demokratie zum Anfassen. Wovon Sie doch überhaupt keine Ahnung haben.«

»Was verstehst du denn von Politik und Demokratie? Komm du in Geschichte erstmal von deiner Vierminus herunter, dann reden wir weiter.«

Wider Erwarten brach unter den Umstehenden lautes Gelächter aus.

Der Junge schob sein Kinn vor.

»Vielleicht liegt die Vierminus ja an Ihnen. Ihre Geschichtsstunden sind doch Scheiße! Das weiß in Grafenstein jedes Kind.«

»Woher nimmst du Frechheit...«, brüllte Weisz.

Ganz schlechte Vorstellung, fuhr es mir durch den Kopf. Gerade eben hatte er noch die Lacher auf seiner Seite, doch im nächsten Augenblick kippte die Stimmung bereits wieder um.

»Der Junge hat recht«, rief ein Mann aus einer der hinteren Reihen.

»Wenn mein Bernd wegen seiner Fünf in Geschichte nicht versetzt wird, dann kriegen Sie's aber mit meinem Anwalt zu tun!« rief ein anderer aufgebrachter Vater.

Ganz vorne meldete sich eine Dreißigjährige zu Wort.

»Meine Gisela hat bei Ihnen auch nur schlechte Noten. Dabei ist die in allen anderen Fächern so gut.«

»Und kehren Sie gefälligst erst mal vor Ihrer eigenen Haustür!«, brüllte ein anderer aufgebrachter Vater. »Mein Klaus hat mir heute Bilder gezeigt, da kann einem ja schlecht werden.«

Weisz wirbelte herum.

»Was meinen Sie damit?«

Der Mann drängte sich nach vorne.

»Ach, Sie wissen nichts von der Mail? Dann hören Sie sich mal unter Ihren Schülern um. Die helfen Ihnen bestimmt gerne auf die Sprünge. Sauerei, Sowas! So jemand wie Sie hat im Schuldienst nichts verloren!«

 

Über Schröders Gesicht huschte das süffisante Lächeln des Siegers. Dabei ließ er seinen Blick demonstrativ über die inzwischen immer unruhiger werdende Menge schweifen.

»Vielleicht regelt sich das schneller, als ihm lieb ist. Unser verehrter Rektor Weisz hat ja ohnehin eine recht turbulente berufliche Karriere hinter sich. Zunächst die Polytechnische Oberschule in Leipzig, besser gesagt, eine der Topp-Kaderschmieden der ehemaligen SED. Schließlich der überraschende Wechsel ausgerechnet an eine Katholische Lehranstalt in Berlin-Weißensee. Was hatte ein SED-Mitglied ausgerechnet an einer katholischen Bildungseinrichtung zu suchen? Und das zu Honeckers Zeiten. Für mich ist es jedenfalls kein Wunder, dass Herr Weisz kurz nach der Wende ohne Angabe von Gründen aus dem dortigen Schuldienst entlassen wurde. Weitere Stationen im seiner wechselvollen Geschichte sind ein etwas längeres Intermezzo an einer Sekundarschule in Magdeburg und schließlich eine Anstellung als Konrektor in Trier. Dort haben sich die Eltern von zwei Mädchen über den etwas unorthodoxen Nachhilfeunterricht des Herrn Weisz beschwert. Muss ich noch deutlicher werden?«

Weisz blickte immer noch in die Menge. Vor ihm befand sich eine Wand aus bestimmt fünfzig Grafensteiner Bürgern. Und deren Mienen verhießen inzwischen nichts Gutes. Am liebsten hätte ich meinen Freund am Kragen gepackt und fortgezerrt. Das konnte nicht gut gehen!

»Sehen Sie nicht, was der vorhat? Das ist ein Volksaufhetzer, ein rechtsradikaler Populist der übelsten Sorte. Und von so einem lassen Sie sich von den Karren spannen?«

Ich gab der Staatsanwältin ein Zeichen.

»Beordern Sie um Himmelswillen Breitenbach und seine beiden Hanseln hierher.«

Die junge Frau winkte ab.

»Ich habe gerade von meinen Kollegen eine Kurznachricht erhalten. Aus Trier ist bereits das SEK unterwegs. Dieser rechtsradikale Aufmarsch passt wohl auch der Bezirksregierung nicht in den Kram.«

Lydia drängte sich zwischen mich und die Staatsanwältin.

»Von Gorleben, Startbahn West und Stuttgart 21 ist man ja einiges gewöhnt, aber für so einen kleinen Ort wie Grafenstein geht's hier aber ganz schön turbulent zu.«

Ich deutete nach vorne, wo sich auf einen kurzen Wink des Podiumsprechers hin die 'Security' in Bewegung setzte. Aha, wir verließen die Diskussionsphase und erreichten die Abteilung Attacke.

»Warten Sie's ab. Gleich wird's hier richtig spannend.«

Schröder drehte den Verstärker für das Mikrofon noch einen Tick höher.

»Herr Weisz, Sie stören die Veranstaltung eines demokratisch gewählten Gemeinderatsmitglieds. Ich möchte Sie bitten, sich ruhig zu verhalten, oder die Versammlung zu verlassen.«

»Von dir braunen Socke lasse ich mir doch den Mund nicht verbieten«, brüllte Weisz.

 

Schröder gab seinen Leuten ein Zeichen. Zwei Typen in schwarzen T-Shirts packten meinen Freund unter den Schultern und schleppten ihn mit dem Rücken voran vom Rednerpult weg. Weisz zappelte dabei wie ein Fisch im Käscher. Gejohle wurde laut. Allerdings nahmen sich ein paar andere Männer ein Herz und sprangen vor, um Gregor Weisz aus den Händen des Schröder'schen Ordnungspersonal zu befreien. Sofort waren drei weitere Glatzköpfe zur Stelle. Es gab die erste Rangelei, die jedoch von der Security rasch zu deren Gunsten entschieden wurde. Schröder zeigte unverhohlen das Gesicht eines römischen Triumphators. Eigentlich hätte nur noch der Lorbeerkranz um seine Stirn gefehlt.

»Lassen wir mal diese kompromittierenden Bilder für einen Moment beiseite, meine Damen und Herren. Mich würde vielmehr interessieren, wieso an der Grafensteiner Realschule ein Mann in deutscher Geschichte unterrichten darf, der ausgerechnet in einer SED-Kaderschmiede Karriere als Pädagoge gemacht hat. Hat eigentlich jemals einer von den Verantwortlichen mal einen Blick in dessen Stasi-Akte geworfen?«

Er machte eine kurze Pause und drehte sich demonstrativ zur Bürgermeisterin um.

»Oder in die der Bürgermeisterin, die vor der Wende offenbar auch für das DDR-Regime gearbeitet haben soll. Sofern deren Akte, wie seinerzeit üblich, nicht vorsorglich vernichtet wurde.«

 

Jetzt musste sogar ich schlucken. Hiervon hatte mir Gregor nie etwas erzählt. Mein Freund ein SED-Mitglied? Unter Umständen sogar Stasi-Spitzel? Unvorstellbar. Doch nicht Gregor. Gregor, der Souveräne, der Unbestechliche. Auf den man sich in jeder Situation verlassen konnte. Andererseits, wer konnte schon in den Kopf seines Gegenübers blicken? Ich dachte nach. Über unsere Bürgermeisterin wusste man bei uns eigentlich auch nur recht wenig. Es hieß zwar, sie hätte in der dortigen Verwaltung gearbeitet, konnte jedoch nach einer flüchtigen Überprüfung durch die Gauck-Behörde sofort in den Öffentlichen Dienst übernommen werden. Über ihr SED-Parteibuch wäre dabei hinweggesehen worden, weil DDR-Beamte sowieso in der Partei sein mussten.

Wütend trat ich mit dem Fuß auf. Beinahe hätte Schröder erreicht, was er von Anfang an geplant hatte: unbescholtene Leute grundlos unglaubwürdig zu machen. Im ersten Augenblick wäre ich beinahe selbst auf sein populistisches Geschwätz hereingefallen.

Mit einem Mal kam die Menschenmenge vor uns in Bewegung. Ich hatte für einen Moment nicht aufgepasst, und deshalb war mir entgangen, wie sich Murad mit zwei seiner Türsteherkollegen und drei Typen aus dem Grafensteiner Fitnesscenter vor dem Rednerpult aufbauten. Murad riss das Mikrophon aus der Verankerung.

»Eh, pass mal auf, Schwuchtel. Sch'will dich mit deiner Kasperletruppe hier nisch mehr seh'n. Du bist Scheiße, Mann! Und nu' verpiss disch.«

 

Mit einem Mal flüchteten sogar die Hartgesottenen unter den Neugierigen aus den vorderen Reihen. Im Gegensatz dazu stellten die Fotoreporter ihre Kameras auf Dauerfeuer. Ich merkte, wie sich eine Hand an meinen Arm klammerte.

»Bleiben Sie einfach dicht bei mir«, versuchte ich Lydia zu beruhigen

Was Murad zu dieser hirnrissigen Aktion veranlasst haben mochte, blieb mir ein Rätsel. Aber eines hatte er zumindest erreicht: Schröder ließ die Maske des Gutmenschen fallen.

»Euch sollten sie doch alle nach Anatolien verfrachten. Dort, wo ihr hingehört.«

Einen Wimpernschlag später sprang er jedoch hinter seinem Rednerpult hervor und machte Anstalten, in Richtung Rathauseingang zu verschwinden. Doch da hatte er die Rechnung ohne Murad gemacht. Der hielt ihn am Ärmel fest und hob dabei drohend die Hand. Als Schröder sah, dass ihm niemand zu Hilfe eilte, war er mit einem Mal so klein mit Hut, das er unter einem Teppich bequem hätte Fahrrad fahren können. Und das, ohne dabei den Kopf einzuziehen. Schröders Security erkannte die brenzlige Situation, ließ von Weisz ab und stürzte sich ins Getümmel. Kurz darauf tobte auf dem Rathausplatz der Mob, während die Bürgerschaft fluchtartig das Weite suchte.

 

Ich packte Lydia am rechten und die Staatsanwältin am linken Arm und zerrte sie ebenfalls aus der Schusslinie. Lanzerath und Karl folgten uns auf dem Fuße. Robespierre schmiegte sich dicht an die Beine meines Onkels. Superhund, knurrte ich stumm in mich hinein. Aber mir bei jeder unpassenden Gelegenheit in die Jeans beißen.

»Wann rückt Ihres Erachtens die Kavallerie an?«

»Ist unterwegs«, erwiderte die Staatsanwältin und löste sich aus meinem Handgriff.

»Hoffentlich mit Blaulicht« fügte Lanzerath hinzu. Dabei deutete er auf das verwaisten Rednerpult, vor dem inzwischen die schönsten Rauferei tobte, die ich seit dem legendären Weinfest vor zwei Jahren miterlebt hatte.

Längst hatten auch die Reporter Fersengeld gegeben. Breitenbach und seine beiden Kollegen, die zwischenzeitlich eintrafen, wurden von den Kontrahenten gar nicht beachtet, sondern einfach weg geschubst. Selbst als Breitenbach einen Warnschuss in die Luft feuerte, flogen die Fäuste unbeirrt weiter. Mehr noch. Einer von Schröders Security entwand dem völlig verblüfften Breitenbach die Dienstwaffe und schleuderte sie in den Springbrunnen. Erst als das SEK aus Trier anrückte, kehrte schlagartig Ruhe ein. Murad und seine Spießgesellen reagierten blitzschnell. Sie nahmen die Beine in die Hand und machten, dass sie fortkamen. Das versuchten auch Schröders Glatzköpfe, aber die hatten alle Hände voll zu tun, ihre verletzten Kameraden aufzusammeln und fielen dadurch zwangsläufig in die Hände der vermummten Einsatztruppe. Danach ging alles ganz schnell. Ohne lange zu fackeln wurde dem größten Teil von Schröders 'Security' Einmal-Handschellen angelegt und nachdem die Bande in einen dunkelblauen Kleintransporter verfrachtet worden war, fand der Spuk ein ziemlich rasches Ende.

Verbeugung, Vorhang und tschüss!

 

Ich merkte, dass mein rechter Arm schwerer wurde. Ich schaute zur Seite. Lydias Gesicht war kreidebleich.

»Sorry, ich muss mich setzen«, keuchte sie.

Ich führte sie zum Springbrunnen, wo sie sich am Rand des Beckens niederließ, einen kugelschreiberförmigen Stift zur Hand nahm und sich in den Zeigefinger stach. Anschließend hielt sie einen kleinen Apparat an die Fingerkuppe.

»Völlig unterzuckert«, stöhnte sie. »Kann man hier in der Nähe irgendwo etwas essen?«

»Im Yachthafen«, nickte ich.

Die Staatsanwältin winkte ab.

»Keine gute Idee. Die Ermittlungen sind noch nicht abgeschlossen. Das würde ein seltsames Bild abgeben, wenn Staatsanwaltschaft und Spurensicherung praktisch am Tatort...«

Mein Onkel fiel ihr ins Wort.

»Fahrt doch rauf zu uns. Ich habe Lasagne al forno vorbereitet. Ihr braucht nur kurz den Backofen anzuschalten.«

Er deutete eine knappe Verbeugung an.

»Auf mich müssen Sie allerdings verzichten. Ich habe noch eine Verabredung, und eine junge Dame lässt man bekanntlich nicht warten.«

Lydias Augen nahmen wieder Glanz an.

»Oben im Weingut von Herrn Brenner? Phantastische Idee.«

Stefanie Michels schaute die Leiterin der Trierer Kriminaltechnik verwundert an.

»Mein Onkel hat völlig recht«, stimmte ich hocherfreut zu. Ein Mittagessen gemeinsam mit Lydia war die Idee des Tages. »Bei mir da oben werden Sie erst einmal ordentlich versorgt.«

»Und wie kommt Frau Sartorius anschließend zurück nach Trier?« fragte Lydias Begleitung. »Wir waren gemeinsam hierher gefahren.«

»Sie kommen natürlich mit. Wie ich meinen Onkel kenne, wird die Lasagne für eine ganze Kompanie reichen.«

Ohne lange auf eine Aufforderung zu warten, quetschte sich Lanzerath auf den Beifahrersitz meines Volvos. Ein Gratismittagessen bei Chez Hagen ließ sich der alte Schmierlapp natürlich ebenso wenig durch die Lappen gehen. Trotzdem hatte ich, als wir mit dem Passat der Staatsanwältin im Schlepptau das Weingut erreichten, zum ersten Mal seit langer Zeit mal wieder richtig gute Laune.

 

~~~~~~~

 

»Schön haben Sie es hier.«

Stefanie Michels war mir nach draußen gefolgt und nahm wie selbstverständlich neben mir auf der Holzbank Platz. Ich nickte stumm. Hier verbrachte ich häufig meine freien Stunden. Besonders abends bei einem Glas Rotwein, um den Stress des Tages hinter mir zu lassen. Heute Nachmittag war ich allerdings eher brummelig. Kaum, dass wir die Lasagne vertilgt hatten, steckten nämlich Marianne und Lydia die Köpfe zusammen. Keine Ahnung, was die Mädels da fortwährend zu tuscheln hatten. Mir kam es beinahe so vor, als würden sie sich seit einer Ewigkeit kennen. Ob das vielleicht der Grund dafür war, dass Lydia meiner Einladung zum Mittagessen so spontan gefolgt war? Da mir irgendwann deren fortwährendes Kichern auf den Geist ging, verdrückte ich mich nach draußen. Der Staatsanwältin schien es ähnlich zu gehen. Ich zündete mir eine Moods an und blies den Rauch in die klare Frühlingsluft. Die junge Frau klaubte sich ebenfalls ein Zigarillo aus der Schachtel. Ein wenig verblüfft reichte ich ihr Feuer.

»Wohnen Sie eigentlich alleine hier oben?«

Ich schaute hinunter ins Tal, wo sich gerade ein großes Frachtschiff die Mosel hinauf schob.

»Ja.«

»Aber Sie haben doch bestimmt Mitarbeiter.«

»Ja.«

»Alle ordentlich angemeldet?« lachte sie.

»Hmm«, nickte ich.

Die junge Frau neben mir nahm einen Zug und hustete wie eine Lungenkranke.

»Sind die Leute hier eigentlich alle so gesprächig?« krächzte sie und drückte das kaum angerauchte Zigarillo in meinem Aschenbecher aus. »Ich stamme aus Münster. Gegen euch sind wir Westfalen ja richtige Quasselstrippen.«

Obacht, meldete sich unwillkürlich der ehemalige Hauptkommissar Brenner zu Wort. Pass bloß auf! Die Kleine hat es faustdick hinter den Ohren. Das ist hier kein Smalltalk, die will was herauskriegen. Dass ich mit meiner Einschätzung richtig lag, bewies ihre nächste Frage.

»Wissen Sie eigentlich Näheres über die angebliche Mitgliedschaft Ihres Freundes in der damaligen SED?«

Ich schüttelte den Kopf und versuchte das Thema zu wechseln.

»Kommen Sie in dem Mordfall weiter?«

Stefanie Michels warf mir einen vorwurfsvollen Blick zu.

»Zu den laufenden Ermittlungen darf ich Ihnen nichts sagen. Das müssten Sie als ehemaliger Polizeibeamter doch eigentlich wissen.«

»Weiß ich doch, aber wir machen uns hier schon so unsere Gedanken. Sie sehen ja, wohin Desinformation führt. Sofort stehen die Extremisten auf der Matte und schlachten Sowas gnadenlos für ihre eigenen Interessen aus.«

Sie schaute mich nachdenklich an.

»Ist der Schröder in Ihren Augen ein Extremist?«

Ich machte eine wegwerfende Handbewegung.

»Zumindest ein übler Denunziant, wenn Sie mich fragen. Der ist sich für nichts zu schade, Hauptsache, es nützt ihm und seiner Bürgerinitiative.«

»Sie meinen die Anschuldigungen gegen Gregor Weisz und die Bürgermeisterin von Grafenstein?«

Ich nickte. Stefanie Michels setzte noch eins drauf.

»Und nicht zu vergessen diese mysteriöse Hanfplantage. Haben Sie eine Ahnung, auf wen er da konkret abzielt?«

Ich schüttelte den Kopf. Das war zwar glattweg gelogen, aber Miss Sophie ließ ich wegen so einer Kanaille wie Schröder doch nicht über die Klinge springen. Sicherheitshalber hatte ich ihr eine SMS geschickt. Jetzt lag es an ihr, alles Nötige in die Wege zu leiten.

Stefanie Michels lehnte sich zurück und schloss für einen kurzen Moment die Augen.

»Wissen Sie, was ich an meinem Beruf hasse? Dass die Leute nie die Wahrheit sagen.«

Langsam wurde mir mulmig. Wenn eine Staatsanwältin schon so anfing, dann hieß es alle fünf Sinne beisammen zu halten. Den sechsten am besten gleich mit. Ein Schmunzeln huschte über ihr Gesicht.

»Jetzt schauen Sie doch nicht wie ein beim Spicken erwischter Schuljunge«, meinte sie und öffnete dabei langsam ihre Lider. »Frau Berrenrath braucht das Zeug zur Linderung ihrer Arthritis, nicht wahr?«

Ich hatte mich nicht getäuscht. Das hier war wirklich nicht der Beginn einer wunderbaren Freundschaft, das war vielmehr die Vernehmung der üblichen Verdächtigen.

Sie schmunzelte immer noch.

»Glauben Sie im Ernst, wir wären dämlich? Die Cannabisplantage im Neubauviertel von Grafenstein ist den Kollegen vom Rauschgift längst ein Begriff. Da sie nachweislich nicht dealt, auch sonst keiner aus ihrer WG das Zeug raucht und erst recht angesichts ihres fortgeschrittenen Alters, haben wir bisher immer ein Auge zugedrückt. Da die Angelegenheit infolge Schröders vorlauter Bemerkung allerdings der breiten Öffentlichkeit bekannt wurde, werden wir der Angelegenheit allerdings ganz offiziell nachgehen müssen.«

Ich schwieg. Hoffentlich las Miss Sophie bloß rechtzeitig meine SMS!

»Wie ich Sie einschätze, haben Sie der Dame längst eine entsprechende Nachricht zukommen lassen, nicht wahr?«

Meine Verblüffung war nicht gespielt.

»Was Sie bloß ständig von mir denken«, versuchte ich mich aus der Affäre zu ziehen.

 

Lanzerath rettete die Situation. Vermutlich suchte er nach dem Berg verdrückter Lasagne ebenfalls Entspannung. In der Linken trug er eine Flasche von meinem Blanc de Noir aus der letzten Kelterung, in der Linken drei Weißweingläser. Er goss die Gläser gekonnt und beinahe ohne einen Tropfen zu verschütten halbvoll.

»Wohlsein«, meinte er.

Wir nahmen einen gehörigen Schluck. Stefanie Michels verdrehte die Augen.

»Der ist ja einzigartig.«

Zu dritt hockten wir eine Weile schweigend beisammen und genossen den fruchtigen und zugleich leicht herben Rosé. Irgendwann ließ es ihr dann aber doch keine Ruhe.

»Mal unter uns Klosterschwestern. Ihnen ist die Tote aus dem Yachthafen tatsächlich nicht bekannt? Nicht ein sooo kleines bisschen?«

Dabei hielt sie Daumen und Zeigefinger der rechten Hand kaum zwei Zentimeter auseinander.

»Völlig unbekannt«, entgegnete Lanzerath. »Ich bin mir da vollkommen sicher, denn ich habe die Tote schließlich in den Leichensack gepackt. Bedaure, aber die Frau habe ich vorher noch nie in meinem Leben gesehen.«

»Ich kann dazu gar nichts sagen, denn ich habe die Tote überhaupt noch nicht zu Gesicht bekommen«, warf ich ein.

Stefanie Michels zückte ihr Smartphone, tippte ein paar Mal auf der Oberfläche herum und reichte es mir herüber. Auf dem Bildschirm erschienen zwei Fotos. Ein Passbild und eine Aufnahme aus der Rechtsmedizin. Ich schaute genauer hin. Eine etwa sechzig Jahre alte Frau. Vollkommen unauffälliges Aussehen. Typische Touristin. Von denen besuchten uns in Grafenstein übers Jahr hinweg Tausende. Mir fiel etwas ein.

»War die Dame eigentlich in Begleitung?«

Mein Gegenüber steckte das Smartphone zurück in die Jackentasche und schüttelte den Kopf.

»Den Aussagen des Hoteliers zufolge bezog sie ein Einzelzimmer. Bei den belgischen Behörden haben wir ebenfalls nachgefragt. Frau Leinfeld besaß in Spa eine Eigentumswohnung. Nichts Besonderes. Drei Zimmer, Küche, Diele, Bad. Von etwaigen Mitbewohnern keine Spur. Die Tote führte allem Anschein nach ein sehr zurückgezogenes Leben.«

»Rätselhaft«, meinte Lanzerath. »Gewaltverbrechen gab es in Grafenstein nach dem Krieg eigentlich so gut wie nie.«

»Und im Krieg?«

Lanzerath winkte ab.

»Das übliche. Wobei die NSDAP bei uns sowieso einen eher schweren Stand hatte. Aber falls Sie Genaueres erfahren wollen, müssen Sie sich ans Stadtarchiv wenden. Oder Miss Sophie fragen.«

Ich warf dem Totengräber einen warnenden Blick zu. Lanzerath biss sich auf die Unterlippe. Wie ich die junge Staatsanwältin einschätzte, war ihr dessen Reaktion mit Sicherheit nicht verborgen geblieben.

»Wer um alles in der Welt ist Miss Sophie?« meinte sie lächelnd.

Ich seufzte.

»Unsere ehemalige Dorfschullehrerin.«

»Darf man auch erfahren, wie die Dame mit bürgerlichem Namen heißt.«

Lanzerath schaute mich ratlos an. Egal, die Kuh war nicht nur nicht vom Eis, sie steckte durch Lanzeraths vorlaute Bemerkung inzwischen bis zum Hals zwischen den Schollen fest.

»Sophia Berrenrath«, murmelte ich.

Stefanie Michels lachte.

»Sieh da, sieh da, Timotheus. Die Kraniche des Ibykus.«

Lanzerath schaute die Staatsanwältin ratlos an.

»Sie sprechen in Rätseln.«

»Überhaupt nicht.«

Anschließend deklamierte sie munter drauflos.

 

 

»Da hört man auf den höchsten Stufen auf einmal eine Stimme rufen:

"Sieh da! Sieh da, Timotheus, die Kraniche des Ibykus!"

Und finster plötzlich wird der Himmel, und über dem Theater hin

Sieht man in schwärzlichem Gewimmel ein Kranichheer vorüberziehn.

 

Friedrich Schiller. Nie davon gehört?«

Lanzerath überlegte kurz, ehe er tief Luft holte..

 

»Fest gemauert in der Erden steht die Form, aus Lehm gebrannt.
Heute muss die Glocke werden! Frisch, Gesellen, seid zur Hand!
Von der Stirne heiß, rinnen muss der Schweiß,
Soll das Werk den Meister loben; doch der Segen kommt von oben.«

 

»Ganz so kulturlos, wie Sie vielleicht denken, sind wir hier auf dem Land nun auch wieder nicht.«

Stefanie Michels klatschte leise Applaus. Dann drehte sie sich zu mir herum.

»Und Sie? Auch ein Gedicht?«

»Klar«, antwortete ich und stimmte ein Liedchen an.

 

»Allons enfants de la Patrie

le jour de gloire est arrivé.

Contre nous de la tyrannie

l'étendard sanglant est levé.«

 

Mein Gegenüber wirkte ehrlich überrascht.

»Sie sprechen Französisch?«

»Klar. Schließlich haben wir ja nichts anderes zu tun, als tagtäglich Sprit und Zigaretten aus Luxemburg zu schmuggeln.«

»Sagt wer?«

»Die Journaille. Und natürlich Ihre Kollegen von der uniformierten Trachtengruppe. Ich habe schon ernsthaft überlegt, meinen Wagen irgendwo in Ostdeutschland zuzulassen. Als Tourist wird man im Zollgrenzbezirk jedenfalls so gut wie nie kontrolliert.«

Über das Gesicht der Staatsanwältin huschte ein verschmitztes Lächeln.

»Da wäre ich nicht so sicher. Schwarzgeldkontrollen finden überall statt. Das müssten Sie doch eigentlich am besten wissen.«

Verstohlen musterte ich die junge Frau. Junge, die war auf Zack! Wenn sie so weiter machte, dann erfuhr die schon durch die berühmte Hintertür mehr, als einem lieb sein konnte. Ich mochte mir gar nicht ausmalen, zun welchen Vernehmungsmethoden die erst im Büro der Staatsanwaltschaft fähig war.

 

»Ich muss dann mal wieder«, meinte der Totengräber, dem die Unterhaltung inzwischen auch nicht mehr so ganz geheuer schien. Er nickte uns beiden zu, und sah, dass er sich schleunigst vom Acker machte. Mir fiel noch was ein.

»Was haben Ihre Ermittlungen eigentlich in der Sache Gregor Weisz ergeben, oder darf man das auch nicht fragen?«

Die junge Staatsanwältin lehnte sich zurück und verschränkte die Arme vor der Brust.

»Fragen dürfen Sie alles. Wir leben schließlich in einem freien Land.«

»Aber nicht alles erfahren, stimmt's?« fügte ich hinzu.

»Sagen wir mal so: Die Ermittlungen verliefen bisher im Sande. Wie das fragliche Bildmaterial auf den Schulrechner gelangt ist, darüber kann man im Augenblick höchstens spekulieren. Unsere Kriminaltechnik hat jedenfalls weder einen Trojaner noch sonst irgendein Schadprogramm entdeckt. Die Bilder wurden inzwischen geschreddert und die gesäuberte Festplatte der Schule wieder ausgehändigt.«

Sie lachte.

»Sonst bekommen wir hinterher noch Ärger mit dem Elternbeirat, weil wir angeblich die Fortführung des Unterrichts behindern.«

Im nächsten Augenblick nahm ihre Stimme wieder einen ernsten Klang an.

»Aber Ihr Freund scheint den Ärger geradezu magisch anzuziehen, nicht wahr? Ich habe mal ein bisschen recherchiert. Seine Vita als Pädagoge liest sich, gelinde gesagt, tatsächlich ein wenig holperig. Wenn man...«

 

Sie kam nicht mehr dazu, ihren Gedanken fortzuführen, denn in diesem Augenblick bogen Marianne und Lydia um die Ecke. Ich glaubte es nicht. Die Chefin der Trierer Spurensicherung hatte sich bei Marianne untergehakt. Selbst Stefanie Michels runzelte für einen kurzen Augenblick die Stirn.

»Geht’s wieder besser?« fragte sie die Chefin der KTU.

Lydia nickte.

»Danke der Nachfrage. Ich war wohl tatsächlich ein wenig unterzuckert. Aber nach diesem fantastischen Essen...«

Sie warf mir einen dankbaren Blick zu.

»... bin ich wieder auf den Beinen.«

»Dann sollten wir langsam ans Aufbrechen denken«, meinte die Staatsanwältin. »Ich denke wir haben die Gastfreundschaft von Herrn Brenner bereits mehr als genug strapaziert.«

Ehe ich protestieren konnte, fügte sie mit todernster Miene hinzu: »Herr Brenner wird bestimmt noch das eine oder andere Telefonat führen müssen, nicht wahr?«

Sie erhob sich von der Bank.

»Vielen Dank für die Bewirtung und den Wein. Er ist übrigens ganz vorzüglich, aber ich glaube, das sagte ich bereits. Sobald die Angelegenheit hier in Grafenstein aufgeklärt ist, werden wir uns für Ihre Gastfreundschaft revanchieren. «

Wenige Augenblicke später stob der Dienstwagen der Staatsanwaltschaft vom Hof. Marianne blickte ihm geradezu sehnsüchtig hinterher. Unwillkürlich kniff ich mein rechtes Auge zu. Das tat ich immer, wenn mir etwas nicht geheuer schien. Seltsam. Schließlich hatte Marianne schon seit über einer Stunde Feierabend.

 

 

 

 

 

 

 

Kapitel 10

 

In meiner Hosentasche begann mal wieder das Handy zu randalieren. Ich atmete auf. Miss Sophie.

»Grüß dich, Bub. Was war denn heute in Grafenstein schon wieder los? Man darf ja kaum noch einen Vormittag daheim bleiben, ohne gleich Gefahr zu laufen, anschließend nicht mehr auf dem Laufenden zu sein.«

»Aufmarsch der Rechtsradikalen. Mit anschließender Aussprache. Es hat ein paar blutige Nasen gegeben. Also nichts, was dich irgendwie beunruhigen sollte.«

»Du machst mir Spaß. Seit deiner SMS sind Nora, meine beiden Jungs und ich damit beschäftigt, das Gewächshaus auszuräumen.«

Ich seufzte.

»Ich habe dir ja prophezeit, dass das auf Dauer nicht gut geht. Grafenstein ist ein Kaff, und in eurer Neubausiedlung gibt es bestimmt den einen oder anderen, der sich über deinen etwas unkonventionellen Kräutergarten mokiert.«

»Wie recht du hast. Ich weiß aber bereits, wer dahintersteckt. Lamann, mein Nachbar.«

Ich stöhnte auf.

»Das glaube ich nicht! Der Lamann ist dein Nachbar? Dieses erzkonservative Arsch...«

»Hagen, bitte! Nicht diese Ausdrücke! Du kannst dir nicht vorstellen, was die Nora heute schon für Schimpfworte benutzt hat. Lamann wohnt übrigens schräg gegenüber. Weiß der Teufel, wie der von meiner Plantage Wind bekommen hat.«

Mir fiel das Gespräch mit der Staatsanwältin ein.

»Die Michels war gerade privat bei mir. Nein, nicht das, was du schon wieder denkst. Frau Michels erwähnte nebenbei, die Spurensicherung hätte auf dem Schulrechner keinerlei Hinweise auf Schadprogramme entdeckt. Also muss jemand aus der Schulleitung hinter den Bildern stecken. Vielleicht jemand, der Gregor wegen dessen Nominierung zum Rektor eins auswischen möchte. Na, dämmert dir was?«

Die Leitung blieb für einen kurzen Augenblick stumm.

»Ich wäre vorsichtig mit voreiligen Verdächtigungen«, meinte sie nachdenklich. »Ich denke viel eher an die junge Dame, die beim Weisz im Sekretariat sitzt. Die hat nämlich nur einen befristeten Arbeitsvertrag, der demnächst abläuft.«

»Na und? Zeitverträge sind in der heutigen Zeit doch nichts Ungewöhnliches.«

»In unserem Fall vielleicht schon. Weisz hat sich angeblich beim Schulamt dafür stark gemacht, die Stelle landesweit auszuschreiben und gleichzeitig mit einer kompetenten Fachkraft zu besetzen.«

»Ach, du Scheiße!« platzte es aus mir heraus.

»Tja«, meinte Miss Sophie, »dein Freund Gregor lässt im Augenblick aber auch wirklich gar kein Fettnäpfchen aus.«

Ich beendete das Gespräch und wählte eine Nummer aus meinem internen Teilnehmerverzeichnis.

»Wo steckst du?« fragte ich übergangslos. »Ich denke, wir sollten mal ein paar Takte miteinander reden.«

»Bin auf dem Weg zu meinem Wagen«, erwiderte Weisz beinahe ebenso knapp. »Ich habe heute etwas früher Schluss gemacht. Das geht mir hier alles dermaßen auf die Nerven...«

»Wo können wir uns treffen?« unterbrach ich ihn.

 

Eine knappe halbe Stunde später ließen wir uns in einem Ausflugslokal dicht bei den Landungsbrücken für die Ausflugsschiffe nieder. Ich hatte bewusst dieses Lokal gewählt, weil es weit genug vom Ortszentrum entfernt lag. Irgendwelchen glatzköpfigen Rabauken, die der Verhaftung durch das SEK unter Umständen entgangen waren, wollte ich mit Gregor im Schlepp auf gar keinen Fall über den Weg laufen, und das Restaurant von Ballensiefen kam schon wegen Julia nicht infrage. Zu ihm nach Salmfeld zu fahren, verspürte ich aber auch keine Lust. Im übrigen schien mir neutrales Terrain sowieso besser für das, was ich mit ihm zu besprechen hatte.

Gregor sah schlimm aus. Bleich war er ja schon immer, aber heute wirkte sein Gesicht geradezu wächsern. Zudem deuteten tiefe Ränder unter den Augen darauf hin, dass er in letzter Zeit nicht viel geschlafen hatte. Gregor trug zwar einen seiner eleganten Anzüge, aber irgendwie machte er auf mich den Eindruck, als hätte er seit Tagen weder geduscht noch gebadet. Ich sprach ihn darauf an.

»Was ist los mit dir? Ohne deinen Ausgehzwirn siehst du aus, als hättest du unter einem Laster gepennt.«

»Schön wär's«, antwortete er mir. »Ich habe die vergangenen Tage kein Auge zubekommen. Du kannst dir nicht vorstellen, was bei mir daheim inzwischen los ist. Bis in die Nacht Terroranrufe, und nachdem ich dann aus purer Verzweiflung den Telefonstecker aus der Wand gerissen habe, ging es draußen weiter.«

Ich runzelte dir Stirn.

»Was ist passiert?«

»Erst wurden Kieselsteine gegen meine Fenster geworfen, letzte Nacht gingen dann meine beiden Mülltonnen in Flammen auf.«

»Und was sagt die Polizei dazu?«

»Nichts. Das wäre doch bloß Nachbarschaftsstreit. Darum solle ich mich mal schön selber kümmern.«

Ich konnte mir denken, was in diesem Eifelkaff ablief. Vermutlich wollte sich der einzige Uniformierte nicht wegen irgendwelcher Banalitäten mit Leuten aus dem Ort anlegen. Mit denen er am Wochenende unter Umständen in der einzigen Dorfkneipe auf ein Bier zusammentraf. Salmfeld war nicht Grafenstein. Geschweige denn Trier. Dort auf dem Land tickten die Uhren aber Sowas von anders.

»Es sind aber nicht die Leute aus Salmfeld«, fügte Weisz nach einer Weile hinzu. »Ich habe mit dem Bürgermeister gesprochen. Der legt für die Burschen im Ort seine Hand ins Feuer. Du kannst dir ja denken, wer in Wirklichkeit dahintersteckt.«

»Schröders Leute?«

Gregor nickte.

»Ich habe die Typen an ihren Kapuzenpullis erkannt.«

Ich stellte mein Glas so heftig auf dem Tisch ab, dass es schepperte.

»Dagegen muss man doch was unternehmen!«

»Vergiss es«, murmelte er. »Gegen die habe ich doch überhaupt keine Chance. Soll ich nachts vor die Türe gehen und mich mit diesen Kerlen anlegen? Die sind imstande und prügeln mich windelweich. Und anschließend will niemand was bemerkt haben. Genauso wie in der Berliner U-Bahn.«

»Und nun?« fragte ich resigniert.

»Ich denke, ich gehe wieder zurück nach Sachsen. Mit dem Westen bin ich fertig.«

 

Gregor gab mir das Stichwort.

»Was ich dich schon lange mal fragen wollte: Was war eigentlich der Grund dafür, das du deine letzte Stelle aufgeben musstest, und stimmt es, dass es dabei um Schülerinnen von dir ging?«

Gregors Gesicht wechselte die Farbe. So puterrot hatte ich einen Menschen bisher noch nie anlaufen sehen. Nicht mal Lutz Backhaus, als uns während der Weinlese vor zwei Jahren eine komplette Mannschaft ungarischer Erntehelfer quasi vom Weinberg weg abgeworben worden war.

»Fang du bitte nicht auch noch damit an. Mir reicht es schon, dass der Schröder in aller Öffentlichkeit solche Lügenmärchen über mich verbreitet.«

Er griff zu seinem Weinglas und stürzte den Inhalt mit einem Zug herunter.

»Und ich dachte, du wärst mein Freund.«

»Jetzt komm mal runter. Wenn ich mich für dich einsetzen soll, dann muss ich auch die ganze Wahrheit kennen.«

Gregor wollte schon von seinem Stuhl aufspringen, doch ich hielt ihn am Ärmel zurück.

»Heraus mit der Sprache! Glaube mir, manchmal tut es gut, mit jemandem über alles zu quatschen.«

Doch das Gesicht meines Freundes blieb zunächst verschlossen. Ich überlegte. Trank er noch ein Glas Wein, dann durfte er eigentlich nicht mehr fahren. Ich hätte ihn natürlich über Nacht zu mir auf das Weingut einladen können, aber seit mein Onkel nebst übellaunigem Wolfshund im Gästezimmer logierte, wäre das zumindest vom Platz her ein bisschen kompliziert geworden. Ich winkte der Kellnerin und bestellte zwei doppelte Espressi. Langsam begann er sich wieder zu beruhigen. Als ich mir eine Moods anzündete, waren es lediglich die Leute am Nachbartisch, die sich über den Qualm meines Zigarillos beschwerten.

»Also, ich höre.«

»Da gibt's nicht viel zu erzählen«, meinte er mit ausdrucksloser Miene. »Ich gebe ja zu, als Pädagoge habe ich vielleicht wirklich nie ein gutes Händchen gehabt. Vor der Wende durfte ich im Osten nur das unterrichten, was der Partei in den Kram passte. Zudem musste man als Lehrer an einer staatlichen Bildungsanstalt natürlich Mitglied der Partei sein, aber wer war das nicht? Nach der Wende konnte ich mich endlich einigermaßen beruflich entfalten. Ich erinnere mich noch gut an meine erste Anstellung in Magdeburg. Die Luisenschule hätte eigentlich abgerissen werden sollen. Fatal für einen Stadtteil, der auch heute noch als Problembezirk gilt. Dank meines Einsatzes lief es aber auf einmal wie am Schnürchen. Zwischenzeitlich galt die Luisenschule sogar als Musterbeispiel für gelungene Inklusion.«

Er griff zu seiner Espressotasse und nahm einen Schluck. Zum ersten Mal an diesem Tag huschte ein Lächeln über sein gesicht.

»Dann jedoch», fuhr er schließlich fort, »wurde ich größenwahnsinnig und bewarb mich auf frei werdende Stellen im Westen. Schon in Trier hätte ich gewarnt sein müssen. Dort eckte ich nicht nur bei der Rektorin mit meinem zugegeben manchmal etwas autoritärer Unterrichtsstil an. Aber dafür stieg auch der Notendurchschnitt in den von mir unterrichteten Klassen von einer glatten Vier auf eine Drei plus. Fast jeder meiner Schützlinge fand entweder eine Ausbildungsstelle oder schaffte es sogar aufs Gymnasium. Ich denke, mehr kann man von einem Pädagogen nicht verlangen.«

»Und was war mit den Nachhilfeschülerinnen?«

Er grunzte verächtlich.

»Die wollten wahrscheinlich bloß vor ihren Klassenkameradinnen angeben. Frei nach dem Motto: Wenn wir einen Pauker loswerden wollen, dann schaffen wir das auch. Egal wie. Zum Schluss sollte ich suspendiert werden und fand mich irgendwann sogar vor Gericht wieder. Doch der Schuss ging gehörig nach hinten los. Mein Anwalt nahm die Gören bei der Zeugenvernehmung im Beisein ihrer Eltern gehörig in die Mangel, und anschließend waren die Leute froh, dass ich den Spieß nicht noch umdrehte. Auf Vorschlag des Gerichts haben wir uns auf einen Vergleich geeinigt. Die Eltern der Mädchen bezahlten die Gerichtskosten, und ich verzichtete im Gegenzug auf ein Verfahren wegen übler Nachrede. Gleichzeitig bestand ich aber auf eine schriftliche Klarstellung der Eltern für meine Personalakte. Daher war es kein Wunder, dass ich in Grafenstein sofort eine Anstellung erhielt, als die Rektoren-Stelle vakant wurde.«

»Wer hatte seinerzeit eigentlich seine Finger dabei im Spiel?«

Gregors Empörung war keineswegs gespielt.

»Niemand, zum Henker! Das war einzig und allein die Entscheidung der Schulbehörde. Und ich verwahre mich davor, dass immer noch behauptet wird, unsere Bürgermeisterin hätte seinerzeit die Fäden im Hintergrund gezogen. Nur weil sie genau wie ich aus den neuen Bundesländern stammt. Das ist doch lächerlich! Wir kannten uns vorher überhaupt nicht.«

Ich überlegte. Ganz so abwegig war das nicht. Der Rektor einer Realschule stand schon von Amtswegen im öffentlichen Interesse. Da war es für die Bürgermeisterin schon wichtig, dass so jemand auch politisch eingenordet war. Es war inzwischen Stadtgespräch, dass in verschiedenen Abteilungen im Rathaus der sächsische Dialekt deutlich überwog. Lobbyismus im Kleinen. In Köln würde man sagen: Klüngel. Okay, Köln war vielleicht ein schlechtes Beispiel. Was sollte man auch von einer rheinischen Karnevalshochburg halten, in der neben Prinz und Bauer auch noch die Jungfrau männlich zu sein hatte. Nicht nur die Schwulen in der Domstadt lachten sich darüber Jahr für Jahr krumm.

 

Wir schauten eine Weile den Berufsschiffen zu, die vom Rhein kommend Fracht nach Luxemburg, Belgien oder Frankreich transportierten. Besonders den Schubschiffen konnte ich stundenlang zuschauen. Es war schon faszinierend, wie souverän gerade mal zwei Mann Besatzung mit diesen Ungetümen auf einer solch engen Wasserstraße wie der Mosel umgingen. Das erst recht, wenn man bedenkt, dass in Ballensiefens Yachthafen mitunter drei Mann Spalier standen, nur um zu verhindern, dass die Einparkversuche einiger Bootseigner nicht komplett danebengingen.

Wenn mich Gregor nicht gerade dreist angelogen hatte, dann klang seine Geschichte irgendwie einleuchtend und plausibel. Axel Schröder war ja hinlänglich bekannt dafür, sich für seine Hetztiraden immer genau die Argumente herauszupicken, die ihm gerade in den Kram passten. Wenn sich jemand gegen ihn zur Wehr setzte, wurde er unter Einsatz moderner Technik buchstäblich niedergebrüllt. Diese ganze Mischpoke Bürgerinitiative ging mir inzwischen dermaßen auf die Geschlechtsorgane, das glaubt man gar nicht.

In meiner Hosentasche begann schon wieder das Handy zu randalieren. Ich sollte mir endlich einen etwas dezenteren Klingelton zulegen und den Vibrationsalarm abschalten. Das Ding war ja schlimmer als ein Dildo.

»Hier ich, wer da?« brummte ich, obwohl mir bereits ein flüchtiger Blick auf das Display anzeigte, wer mich da zu erreichen versuchte.

Der Totengräber. Was der bloß schon wieder von mir wollte. Bis zum Abendessen war ja nun wirklich noch gehörig Zeit. Hoffentlich kam seine Frau langsam mal von ihrer Reise zurück. Der Typ fraß einem ja inzwischen die Haare vom Kopf.

»Wo steckst du?« keuchte er übergangslos.

»Wer will das wissen?« brummte ich wenig begeistert.

»Hier brennt die Hütte!«

»Wo brennt was?«

»Bei Miss Sophie! Der Breitenbach ist mit seiner Trachtengruppe angerückt und kramt bei der das Unterste zuoberst. Es fehlt nicht mehr viel, und der lässt sogar noch den Bagger der Friedhofsverwaltung anrücken.«

»Was sucht der denn? Den Schatz der Azteken?«

»Schlimmer. Sophias heimliche Kräuterzucht.«

Ich schüttelte den Kopf. Nun, nach den Ereignissen von heute Vormittag war mit Sowas eigentlich zu rechnen gewesen. Aber so rasch? Und mit solch einem Eifer? Sowas kannte ich aus Grafenstein überhaupt nicht. Wenigstens hatte die alte Dame auf meine SMS hin sofort reagiert.

»Warum ruft mich Sophia nicht selber an?«

»Die wird gerade vernommen. Breitenbach hat bereits Notebook, Tablet und Smartphone beschlagnahmt.«

»Woher weißt du das?«

»Von den beiden Kastenreuths. Als schwules Pärchen stehen die sowieso unter Generalverdacht. Klar, wer homosexuell ist, kifft natürlich auch. Der Breitenbach tut jedenfalls gerade so, als wäre er auf den hauptsächlichen Drogenumschlagplatz der italienischen Mafia gestoßen.«

»Ich glaube, ich spinne.«

Im nächsten Moment gab ich ihm zu verstehen, dass ich mich sofort auf den Weg machen würde.

»Beeil dich!« fügte er hinzu. »Der Nora haben sie nämlich schon Handschellen angelegt.«

»Die haben was?« fragte ich verblüfft.

»Sie soll sich dem Vernehmen nach der Arbeitsweise der deutschen Polizei in Allgemeinen und dem Auftreten von Breitenbach und seinen Leuten im Besonderen wenig geneigt gezeigt haben. Um es mal charmant auszudrücken.«

Ich wandte mich an Gregor, der meinem Gespräch ohne großes Interesse gefolgt war.

»Tut mir leid, alter Freund, aber meine Anwesenheit ist dringend gefragt. Kommst du alleine klar?«

Gregor nickte. Seine Augen wirkten müde. Ich traf eine Entscheidung. Gregors Probleme hin oder her, die alte Dame war im Augenblick erst einmal wichtiger. Ich erhob mich von meinem Stuhl und legte einen Zehneuroschein neben meine Tasse.

»Halt die Ohren steif«, meinte ich halblaut. Trotzdem kam ich mir irgendwie schäbig vor, meinen Freund einfach so sitzen zu lassen, aber ich konnte mich ja auch schließlich nicht zweiteilen.

»Wir sehen uns«, meinte er halblaut.

Ich klopfte ihm zum Abschied auf die Schulter und sah zu, dass ich schleunigst zu meinem Unimog kam. In der Gewissheit, die gesamte Grafensteiner Polizeitruppe bei Miss Sophie vorzufinden, drückte ich das Gaspedal bis zum Bodenblech durch. Zum ersten Mal seit langer Zeit konnte ich mal wieder ohne Furcht vor Geschwindigkeitskontrollen mit Vollgas durch den Ort preschen.

 

~~~~~~~

 

Gemächlich rollte die dunkle Limousine über den Autobahnparkplatz und steuerte auf eine Parkbox unweit des Toilettenhäuschens zu. Die Frau hinter dem Lenkrad zog die Kapuze ihres weinroten Capes tiefer ins Gesicht und den bunten Seitenschal weit über das Kinn nach oben. Zu guter Letzt griff sie noch nach ihrer Sonnenbrille. Sie parkte rückwärts ein, damit sich ihre Seitenscheibe auf gleicher Höhe mit der eines Pick-ups befand, der dort wartete. Dessen Nummernschild starrte vor Dreck. Jedenfalls war es unlesbar. Die Frau betätigte den elektrischen Fensterheber.

In dem anderen Wagen hockte ein Mann, der sich eine Sturmhaube über das Gesicht gestülpt hatte. Allem Anschein nach wollte auch er nicht erkannt werden.

»Ganz schön einsam, finden Sie nicht?« meinte er, ohne sie auch nur eines Blickes zu würdigen.

»Wieso, Sie sind doch da«, erwiderte die Frau.

»Was kann ich für Sie tun, Lady?«

»Ich habe gehört, Sie übernehmen auch etwas, sagen wir mal, pikantere Aufträge?«

Der Mann lachte.

»Wieso, hat Ihr Mann was mit einer Anderen?«

»Lassen Sie die Späße. Hören Sie zu. Sie müssen etwas für mich erledigen...«

Nach einer Weile nickte der Mann nur stumm und hielt seine behandschuhte Hand aus dem Seitenfenster. Zusammen mit einem dicken Umschlag zog er sie wieder zurück, startete den Pick-up und brauste davon. Die Frau schaute sich nach beiden Seiten um und ließ die Seitenscheibe ihres Wagens wieder nach oben gleiten. Anschließend verließ auch sie den Parkplatz.

 

~~~~~~~

 

Den Streifenwagen mit dem immer noch eingeschaltetem Blaulicht sah ich bereits von Weitem. Auf der gegenüberliegenden Seite parkte der Leichenwagen. Lanzerath befand sich allem Anschein nach also noch vor Ort. Hätte er mich nicht kurz vorher angerufen, ich wäre in diesem Moment vermutlich auf einen ziemlich absurden Gedanken gekommen.

Vor Miss Sophies Haus musste ich mir erst mal einen Weg durch bestimmt zehn, zwölf Schaulustige bahnen, die allesamt vor der hüfthohen Hecke eine Menschentraube bildeten. Solch einen Zirkus war man eigentlich nur gewohnt, wenn Nora mit Push-up und Hotpants den Rasen mähte. Der Auftrieb war aber andererseits kein Wunder, denn Razzien kamen bei uns in Grafenstein und erst recht im Neubauviertel eher selten vor. Bei näherem Hinsehen eigentlich gar nicht. Also gab das Polizeiaufgebot vor dem Haus der alten Dame allerlei Raum für wilde Spekulationen.

Eine Frau in mittlerem Alter gestikulierte wild mit den Händen.

»Ich habe euch ja immer schon gesagt, dass bei denen was nicht stimmt. So 'ne alte Frau zusammen mit dieser Schlampe und den beiden Schwuchteln. Jetzt sieht man, wo Sowas hinführt.«

»Wo führt was hin?« meinte ich nur.

Die Frau drehte sich zu mir um. Sie musterte erst den klapprigen Unimog und anschließend mich. Und zwar ziemlich von oben herab.

»Die Alte gehört ins Heim!« ereiferte sich eine andere Frau. »Die hat doch einen an der Waffel! Und dann dieses ordinäre Flittchen. Ich habe meinem Mann schon vor Monaten gesagt...«

Ein etwa vierzigjähriger Mann trat vor.

»Mein Junge ist von den beiden Kastenreuths schon mal richtig blöde angemacht worden«, beschwerte er sich. »Um so jemanden sollte sich die Polizei mal kümmern. Aber wenn unsere Kinder erst ins Krankenhaus eingeliefert werden müssen, damit solche Perverslinge...«

Ich baute mich breitbeinig vor ihm auf.

»Wahrscheinlich hat Ihr Sohn bloß mal wieder seine Zigarettenkippen in Frau Berrenraths Vorgarten geschnippt, stimmt's? Wie alt ist der nochmal? Dreizehn? Darf der eigentlich schon rauchen? Woher hat der eigentlich das Geld dafür? Schöne Erziehung!«

Miss Sophie hatte mir mal bei Gelegenheit von den diversen Auseinandersetzungen ihrer WG-Mitbewohner mit dem einen oder anderen Nachbarn erzählt. Ich drehte mich zu der aufgebrachten Menge um.

»Nora ist also eine Schlampe? Nun, wenigstens ist sie eine diskrete Schlampe. Wenn die nämlich auspacken würde, wer nach Dienstschluss so alles noch schnell auf einen Absacker bei ihr in der Strip-Bar auftaucht, um ihr beim Busenwackeln zuzusehen, dann würden hier im Viertel aber die Nudelhölzer ans Rotieren kommen.«

Ich schubste zwei Männer beiseite und öffnete das Gartentor. Hinter mir machte sich natürlich der Unmut der ehrlich Entrüsteten Luft.

»Was wissen Sie denn?«

»Wer sind Sie überhaupt?«

»Wahrscheinlich ein Freier von der kleinen Nutte.«

»Der Schröder hat schon recht. Hier müsste endlich mal einer mit einem eisernen Besen...«

Ich wirbelte herum. Meine Augen verzogen sich ganz allmählich zu sehr schmalen Schlitzen.

»Vorsicht, Freunde! Jetzt aber mal ganz langsam. Ihr seid neu hier im Ort. Vermutlich kennt ihr Frau Berrenrath nur vom Hörensagen. Aber die hat mehr Kinder in ihrem Leben unterrichtet als all die Pauker nach ihr, die sich in aller Regel schon mir Vierzig ihren ersten Burnout und anschließend die staatliche Pension genehmigen. Das waren nämlich damals noch Lehrer, kann ich euch sagen. Ich hatte selbst bei ihr Unterricht.«

Ich holte tief Luft.

»Na klar, Homosexuelle sind ja schon von Natur aus pädophil, und wer in einem Nachtclub arbeitet ist natürlich automatisch Prostituierte. Meine gute Erziehung verbietet mir auch nur ansatzweise anzudeuten, was Ihr mich alle mal könnt. Meine Empfehlung an den Herrn von Berlichingen.«

Wütend hieb ich auf den Klingelknopf. Man hatte mich schon erwartet. Jedenfalls wurde ich an meinem Jackenaufschlag gepackt und ins Innere gezerrt. Hinter mir krachte die Eingangstür sofort wieder ins Schloss.

»Endlich!« keuchte Lanzerath.

Ich befreite mich aus seinem Handgriff.

»Was ist denn eigentlich genau passiert?«

Lanzerath verdrehte die Augen.

»Kannst du dir das nach Schröders Auftritt von heute Mittag nicht vorstellen? Irgendwer hat die Dorfgendarmerie in Bewegung gesetzt. Zum Glück konnte Miss Sophie noch das Gewächshaus ausräumen und den ganzen Plunder auf ihrem Komposthaufen verbrennen. Wenigstens war noch genug Brennspiritus von der vergangenen Grillparty im Haus.«

 

Ich schob ihn beiseite und stürmte in Käpt'n Jack Sparrows Kapitänskajüte. Dort sah es inzwischen aus wie nach dem Angriff eines englischen Linienschiffs. Kommodentüren und Schubladen ihres Schreibtischs waren aufgerissen, der Inhalt der Fächer wie wild auf dem Boden verstreut, die Brokatvorhänge vor den Fenstern weggerissen, und Miss Sophies Fußboden aus gewachstem Schiffsparkett machte den Eindruck, als wäre dort eine Handgranate explodiert. Teile der Wandvertäfelung und drei ihrer historischen Schiffsmodelle lagen achtlos neben den von den Wänden gerissenen Bullaugenimitationen herum. Von Router, Server und der gesamten Verkabelung ganz zu schweigen. Die Krönung des Ganzen stellte der historische Maschinentelegraph dar. Den hatte irgendein Ignorant mit Gewalt auf 'Voll zurück' gestellt. Jedenfalls fehlte einer der Griffe. Sophia hockte währenddessen in aller Seelenruhe auf ihrem Kanapee, vor sich, ich musste vor Verblüffung zweimal hinsehen, eine Tasse Espresso und wirkte irgendwie seltsam entrückt. Herr im Himmel! Die hatte vor der Razzia doch wohl hoffentlich nicht noch einen Joint geraucht!

 

»Darf ich mal erfahren, was hier los ist?«

Gleichzeitig versuchte ich eine gewisse Strenge in meine Stimme zu legen. Ich erinnerte mich an die zahlreichen Hausdurchsuchungen, bei denen wir nicht selten vom Rechtsbeistand unserer Klienten buchstäblich im vollem Galopp aus dem Sattel geschossen wurden. Angriff war schon immer der beste Weg zur Kühlschranktür.

»Was hat die denn hier zu suchen?« rief Breitenbach und deutete dabei auf die Wohnzimmertür.

»Das werden Sie gleich erfahren«, ertönte eine helle Stimme.

Ich wirbelte herum. Im Türrahmen war eine attraktive rotblonde Frau von Anfang Dreißig. aufgetaucht. Unwillkürlich runzelte ich die Stirn. Was hatte denn Lena bei Miss Sophie verloren?

»Aber die Fragen stelle erst einmal ich, Herr Breitenbach«, fuhr sie ziemlich unterkühlt fort. Gleichzeitig ging sie zu Sophia und drückte ihr die Hand. Mir fiel auf, dass sie sich nur sehr mühsam bewegte. Sie ließ sich neben der alten Dame nieder.

»Zunächst möchte ich mal den Durchsuchungsbeschluss der Staatsanwaltschaft sehen.«

Breitenbach baute sich mit in den Gürtel eingehakten Daumen vor den beiden Frauen auf. Jetzt hätte nur noch eine verspiegelte Pilotenbrille, ein Motorradhelm und ein 45er Colt Magnum gefehlt, und die Parodie auf Police Academy Teil 1 wäre perfekt gewesen.

»Was geht Sie das an?«

Lena reichte dem Polizeibeamten ein Visitenkärtchen.

»Ich vertrete die Interessen von Frau Berrenrath, Frau Waldner und der Herren Kastenreuth. Also, ich höre? Wo ist der Durchsuchungsbeschluss?«

»Äh.«

Lena hatte offenbar mit einem Blick den wunden Punkt der Polizeiaktion entdeckt. Wahrscheinlich hatte die Kripo Trier der Ortspolizei von Grafenstein lediglich einen Hinweis gegeben, bei Gelegenheit mal den ohnehin eher vagen Vorwürfen eines gewissen Gemeinderatsmitglieds nachzugehen. Breitenbach hingegen hatte die Chance seines Lebens gewittert und war deshalb mit seinen beiden Hanseln bei Miss Sophie praktisch wie die Hunnen eingefallen. Ergebnis der Aktion: ein verwüstetes Wohnzimmer, eine österreichische Tabel-Dancerin in Einmal-Handschellen und zwei verstörte Studenten der Fachrichtung Angewandte Ästhetik. Was das Pärchen in Wirklichkeit studierte, das hatte ich bis heute noch nicht herausgefunden. Es ging dabei irgendwie um Orchideen. Von Sorabistik, Onomastik, Keltologie und Sprechwissenschaften war ständig die Rede. Aber frag mich was. Keine Ahnung, was sich dahinter verbarg.

 

Lena rieb sich die Nasenwurzel und schloss dabei die Augen. Genauso, als müsse sie das Ungeheuerliche, das sich da vor ihren Augen auftat, erst einmal innerlich verarbeiten.

»Soll das etwa heißen«, fuhr sie fort und zog dabei jede einzelne Silbe geradezu genüsslich in die Länge, »dass Sie als Verantwortlicher dieser geradezu grotesken Aktion von der Strafverfolgungsbehörde hierzu in keiner Weise autorisiert worden sind?«

Breitenbachs Miene fror ein. Seine beiden Kollegen ließen zu Sicherheit erst mal alles stehen und liegen. Lena war deutlich anzumerken, dass sie jeden einzelnen Augenblick wie ein Champagnerfrühstück genoss.

»Heißt das ferner, dass Sie sich momentan ohne irgendeine belastbare Rechtsgrundlage unbefugt beziehungsweise ohne das Vorliegen sonstiger wichtiger Gründe wie zum Beispiel Gefahr im Verzug Zutritt zu einem befriedeten Grundstück verschafft haben? Ich höre. Ja, oder nein, oder was?«

»Äh.«

Mehr brachte unser Dorfsheriff nicht heraus. Mit solch einem Anschiss schien er überhaupt nicht gerechnet zu haben.

»Das bedeutet folglich«, ließ sie nicht locker, »dass Sie, Herr Breitenbach, sich ohne belastbare Rechtsgrundlage Zutritt zu einem Haus verschafft haben. Da Sie bewaffnet sind, nennt man Sowas im Sprachgebrauch eines Juristen schweren Einbruch. Trifft es ferner zu, dass Sie, Herr Breitenbach...«

Himmel, was das schön. Bei Sowas wollte ich ab sofort öfter dabei sein. Das entschädigte für sämtliche Radarkontrollen der vergangenen fünf Jahre.

»... unbescholtene Bürger dem Verdacht ausgesetzt haben, angeblich eine Straftat begangen zu haben? Wie anders ist es zu erklären, dass sich vor dem Haus von Frau Berrenrath bereits der Pöbel zusammenrottet und Behauptungen verbreitet, die dem Tatbestand der Verleumdung und üblen Nachrede entsprechen? Haben Sie hierfür eine Erklärung, Herr Breitenbach?«

Lena zückte demonstrativ ihr Handy. Gleichzeitig tippte sie eine mehrstellige Ziffernfolge ein.

»Zu Ahrenfels. Bin ich richtig verbunden mit der Staatsanwaltschaft in Trier? Fein! Verbinden Sie mich bitte mit der Leitenden Oberstaatsanwältin Dr. Breuer. Ich möchte mich über eine ungenehmigte Razzia in Grafenstein beschweren und Strafanzeige stellen. Drei uniformierte Beamte der dortigen Polizeidienststelle haben sich ohne richterlichen Durchsuchungsbeschluss Zugang zu einer Privatwohnung verschafft und dabei eine Mitbewohnerin ohne Angabe von Gründen und ohne die Betroffene über ihre Rechte aufzuklären in Gewahrsam genommen. Damit ist der Tatbestand der Rechtsbeugung und der Amtsanmaßung gemäß Paragraf 339 in Verbindung Paragraf 132 Strafgesetzbuch ...«

Beinahe wäre ich in schallendes Gelächter ausgebrochen. Erstens, weil sich Sabine Breuer einen feuchten Dreck um irgendeinen Polizeiposten auf dem platten Land scherte, zweitens, weil auch die Rechtsgrundlage zumindest in diesem Fall ziemlich an den Haaren herbeigezogen schien. Wenn überhaupt, hätte die Staatsanwaltschaft allenfalls die medizinisch-psychiatrische Untersuchung des Dienststellenleiters der Polizeiwache Grafenstein von der zuständigen Bezirksregierung verlangt. Oder die Einleitung eines Disziplinarverfahrens wegen an den Tag gelegten Größenwahns. Aber, was soll's? Was zählt, ist das Ergebnis. Breitenbach jedenfalls pfiff im nächsten Moment seine Kollegen zurück und schob sie nach draußen.

»He, und wer räumt hier auf?« rief ich der flüchtenden Truppe hinterher.

»Äh, wir melden uns...«, war das einzige, was wir von Breitenbach noch hörten.

Draußen wurde der Polizeiwagen gestartet. Blaulicht aus, und einen Wimpernschlag später waren die drei Blaubefrackten von der Bildfläche verschwunden.

»Danke, Kinder«, meinte Sophia.

Lena drückte der alten Dame die Hand. Die jedoch wirkte genauso cool wie immer. Miss Sophie konnte anscheinend überhaupt nichts erschüttern.

»Gerne geschehen«, knurrte ich und machte mich auf die Suche nach Lanzerath. Der hatte inzwischen Nora von ihren Einmalhandschellen befreit und versuchte gleichzeitig, das Pärchen Kastenreuth zu beruhigen. Was hätte Ballensiefen in diesem Augenblick gesagt? Mann, Mann, Mann! Hier ist vielleicht was los!

Da Lanzerath offenbar alles im Griff hatte, drehte ich mich auf dem Absatz herum und betrat wieder das Wohnzimmer.

 

»Sagt mal, Leute, spinnen hier jetzt eigentlich alle?« polterte ich los. »Du baust illegal Hanf an, dein Nachbar hat nichts anderes zu tun, als dich beim Schröder anzuschwärzen, der schlägt gleich politisches Kapital daraus, vor eurer Haustüre tobt der Mob, Nora beschimpft Polizeibeamte, dass jeder Lude auf dem Hamburger Kiez blass werden würde, der Breitenbach führt sich auf wie Wyatt Earp, und im Yachthafen liegen die Leichen herum. Wo leben wir hier eigentlich?«

Ein mildes Lächeln huschte über das Gesicht der alten Dorfschullehrerin.

»Ach, Bub. Du musst noch viel gelassener werden. Weißt du, der Hanfanbau war für mich in letzter Zeit sowieso ein bisschen mühselig geworden. Ich bin nun mal nicht mehr die Jüngste. Und einen Tapetenwechsel hatte ich ohnehin schon seit Wochen geplant.«

Lena griff zu ihrem Smartphone, hielt es in die Höhe und drückte mehrmals auf den Auslöser der eingebauten Kamera.

»An den Kosten wird sich die Staatskasse allerdings beteiligen müssen«, meinte sie und machte sich gleichzeitig ein paar Notizen.

Ich musterte sie mit zugekniffenem rechtem Auge.

»Was sollte eigentlich die Show gerade eben? Bist du neuerdings Rechtsanwältin, oder was?«

Ehe Lena antworten konnte, erschien Lanzerath mit drei Gläsern. Ohne lange zu fragen, stellte er Sophias halb ausgeräumte Kommode wieder auf die Beine und zog eine zum Glück unbeschädigt gebliebene Flasche mit dunkelbraunem Inhalt hervor.

»Ich denke, wir können jetzt alle einen gehörigen Schluck vertragen.«

Der alte Pharisäer. Hauptsache, der Calvados war über fünfzehn Jahre alt und kostete nichts. Ich musste beim Einwohnermeldeamt endlich mal nachfragen, ob dessen Vorfahren nicht eventuell aus dem Schwäbischen stammten.

 

~~~~~~~

 

Abends hockten wir bei Tuttifrutti im Yachthafen-Restaurant. Mein Onkel war mit seiner neuen Bekanntschaft immer noch unterwegs, was bei mir daheim zwangsläufig kalte Küche bedeutete. Nach allem, was sich heute abgespielt hatte, gab es sowieso einiges zu bequatschen.

»Das ist nicht euer Ernst!« bellte Ballensiefen und lief dabei in seinem Restaurant herum wie ein Frettchen auf Extasy.

»Dieser verfluchte Schröder! Was fällt dem ein! Tut in aller Öffentlichkeit so, als wäre mein Laden ein Puff! Nur wegen der beiden Rumäninnen. Und dann auch noch Julia! Was zum Henker ist bloß in die gefahren?«

Heute abend konnte er in seinem Restaurant jedenfalls soviel herumbrüllen, wie er wollte. Bis auf mich, den Totengräber, Sophia und ihn war das Lokal so leer wie ein Kaufhaus am Ostermontag. Offenbar verspürte inzwischen niemand in Grafenstein mehr große Lust, sich dort blicken zu lassen, wo man anscheinend von zwielichtigen jungen Dingern bedient wurde und wo auch noch die Leichen im Vorgarten herumlagen. Ballensiefen war stinksauer. Seit heute trudelten bei ihm angeblich ständig neue Stornierungen für die Sommerliegeplätze im Yachthafen ein. Ballensiefen sah sich insgeheim schon mit dem Hut in der Hand von Haus zu Haus stiefeln.

»Sowas geht vorbei«, tröstete ihn Sophia. »Was glaubst du, was damals in den Sechzigern in Grafenstein los war, als oben auf dem Gelände vom heutigen Golfplatz sich eine Hippiekommune niederlassen wollte, um freie Liebe zu machen. Da hättest du hier aber mal was erleben können.«

»Was interessiert mich, was vor fünfzig Jahren war? Mich interessiert das Hier und Jetzt. Na, warte! Wenn die nach Hause kommt, die kann was erleben!«

Die alte Dame winkte ab.

»Damit machst du alles nur noch schlimmer, und darauf spekuliert der Schröder doch nur. Wenn Jugendliche gerade in der Pubertät ständig nur Druck bekommen, dann treibt die das doch erst recht in die Hände solcher Rattenfänger. Wir müssen die Kids davon überzeugen, dass Typen wie Schröder nur politische Scharlatane sind. Besser noch, sie überzeugen sich selbst davon. Sozusagen learning by doing.«

Ballensiefen baute sich demonstrativ vor ihr auf und stemmte dabei die Fäuste in die Hüften.

»Und was soll ich deiner Ansicht nach tun? Die Ohren steif halten? So, wie die Balfelders, die mit ihrem Bengel auch nicht fertig werden?«

 

Das war natürlich das Stichwort für den kinderlosen Leichenbestatter.

»Die Balfelders haben Probleme mit dem Max? Wieso?«

Ballensiefens Gesicht lief krebsrot an.

»Nichts als Computer, Facebook und dämliche Ballerspiele im Kopf. Ego-Shooter nennt man Sowas, habe ich mir sagen lassen. Dabei sitzt man stundenlang vor dem Bildschirm und versucht, so viele Typen wie möglich abzuknallen. Sagt mal, haben die sie eigentlich noch alle? Zu meiner Zeit hat man sich abends mit Kumpels getroffen, ist zum Tanzen gegangen oder hat sonst was gemacht, aber doch nicht stundenlang nur Leute auf dem Bildschirm abgemurkst.«

»Als du in Julias Alter warst, hast du dich da etwa nicht bis spät in die Nacht mit Beatmusik vollgedudelt?« meinte Sophia und tippte währenddessen auf dem Display ihres Tablet herum. »Ich weiß noch, wie sich deine Eltern damals bei mir beschwert haben. Ständig diese Negermusik. Das wäre ja nicht zum aushalten.«

Ballensiefen machte eine wegwerfende Handbewegung.

»Das war doch damals was ganz anderes!«

»Ist das so? Wo siehst du denn da den Unterschied? Jede Generation hat ihre eigenen Macken. Bei mir war es Rock'n Roll. Was glaubst du, wie viel Ohrfeigen ich mir eingehandelt habe, wenn ich ohne Erlaubnis im Petticoat zum abendlichen Tanztee verschwunden bin. Zu deiner Zeit waren es lange Haare, die 68er Studentenrevolte, Janis Joplin und die Doors. Kiffen, bis der Arzt kommt, und was gehen mich im die Spießer daheim an. Habe ich recht? Und? Ist aus uns allen nicht trotzdem was Ordentliches geworden?«

»Okay, okay«, versuchte ich zu beschwichtigen. »Lassen wir mal Rock'n Roll, Ballerspiele und die Doors beiseite. Konzentrieren wir uns lieber auf den Schröder. Wir müssen zusehen, dass der im Gemeinderat nicht noch die Oberhand gewinnt. Was der da vor dem Rathaus aufgeführt hat, das ist doch nicht mehr feierlich.«

Weil Sophia und Ballensiefen bei dem öffentlichen Festakt der Grafensteiner Bürgerinitiative nicht dabei gewesen waren, erzählte ich nochmal brühwarm von den Geschehnissen am Mittag. Nun wurde sogar die alte Volksschullehrerin nachdenklich.

»Und Schüler der Realschule waren auch mit dabei?«

Lanzerath nickte.

»Julia stand jedenfalls ganz vorne in der ersten Reihe.«

»Danke, dass du mich nochmal daran erinnerst«, knurrte Ballensiefen.

 

Sophia hielt ihr Tablet in die Höhe. Zu sehen war ein Videoclip. Es zeigte eine sichtlich aufgebrachten Melanie Balfelder und Gregor Weisz, wie er im Klammergriff von zwei Glatzköpfen weggetragen wird. Der Clip lief in Endlosschleife. Mit entsprechend bissigem Kommentar.

»Perfekt inszeniert. Warum um alles in der Welt können sich die Leute nicht zusammennehmen? Zumindest unsere Bürgermeisterin hätte als erfahrene Politikerin doch wissen müssen, dass sie völlig unvorbereitet gegen jemanden wie Axel Schröder und seine Security auf verlorenem Posten stand. Das war heute Mittag seine Party. Wenn sie wenigstens ein Megaphon dabei gehabt hätte, um sich Gehör zu verschaffen. Stattdessen brüllt sie sich die Kehle heiser. Ich an ihrer Stelle hätte die Klappe gehalten und die Angelegenheit ausgesessen. Ausrichten kann der mit einer einzigen Stimme im Gemeinderat doch ohnehin nichts.«

Ich schaute Sophia nachdenklich an. Etwa dasselbe war mir vor ein paar Stunden auch durch den Kopf gegangen.

»Trotzdem müssen wir achtgeben«, fuhr sie fort, »dass uns das alles hier nicht irgendwann gehörig um die Ohren fliegt. Seit der missglückten Grundstücksspekulation sitzt die Balfelderin nämlich keineswegs mehr so fest im Sattel, wie sie uns alle glauben lässt. Die Koalitionsparteien im Rat stärken ihr angeblich nur noch deshalb den Rücken, weil sie im Augenblick selbst keinen erfolgversprechenden Ersatzkandidaten aus dem Hut zaubern können. Sowas ist auf Dauer noch nie gut gegangen.«

Ich runzelte die Stirn. Sophia erriet meine Gedanken.

»Weißt du, Bub, ich habe Kontakt zu einer Menge einflussreicher Leute. Ein paar von denen habe ich selbst unterrichtet.«

»Warum bis du eigentlich nie in die Politik gegangen?«

Sophia lachte.

»Bin ich närrisch? Glaubst du, ich hätte auch nur für fünf Minuten bei mir im Garten Hanf anbauen oder Nora und die schwulen Kastenreuths bei mir wohnen lassen können, wenn ich im Grafensteiner Gemeinderat säße? Wir leben zwar im 21. Jahrhundert, aber Eifel und Moselregion sind immer noch genauso stockkonservativ wie zu Adenauers Zeiten. Das ist ja das Elend. Und der Grund dafür, dass sich Typen wie Axel Schröder bei uns breit machen können.«

 

Lanzerath wurde unruhig.

»Hatten wir eigentlich nicht vor geraumer Zeit mal Kalbsgeschnetzeltes bestellt?«

Klar, wenn jemand eine Diskussion beenden konnte, dann war das unser Totengräber. Aber inzwischen merkte auch ich ein deutlich größer werdendes Loch in meiner Magengegend.

»Ist ja gut, ich mach ja schon«, seufzte Ballensiefen. »Aber es wird ein bisschen dauern. Meinen Koch habe ich nach Hause geschickt. Wenn das so weitergeht, mache ich den Laden hier sowieso bald ganz dicht. Von euch paar Hanseln kann ich schließlich nicht leben.«

»Denk an mein Bier«, fügte Lanzerath hinzu.

»Und an meinen Cocktail.«

Wodka-Martini. Geschüttelt, nicht gerührt. Miss Sophie wusste, was sich in einer Männerrunde gehörte.

»Ich warte schon seit Stunden auf meinen Barolo«, fügte ich vorsichtshalber hinzu.

Tuttifrutti zeigte uns den schlimmen Finger und verschwand hinter der Schwingtür.

 

Keine Sekunde zu früh, denn im nächsten Moment spiegelte sich der Kegel eines Scheinwerfers in den Fensterscheiben von Ballensiefens Restaurant. Ich schaute genauer hin. Ein junges Pärchen kletterte von der Sitzbank des Motorrollers. Sie strich sich mit lasziver Handbewegung die Haare zurecht, er hängte mit lässiger Handbewegung seinen Integralhelm an die Lenkstange und legte besitzergreifend den Arm um ihre Schulter. Romeo und Julia. Version Zweipunktnull. Als er dem Mädchen einen Kuss zu geben versuchte, wand sie sich geschickt aus seiner Umklammerung und lief grinsend in Richtung Eingangstür. Romeo folgte seiner Angebeteten. Inzwischen allerdings wesentlich weniger cool. Unwillkürlich musste ich grinsen. Der Kerl lernte es nie! Lydia fiel mir ein. Okay, okay, man kann nicht immer gewinnen.

»Lasst die Beiden!« warnte uns Miss Sophie. »Und seht zu, dass Hugo Egon nichts mitbekommt, wenn die beiden Turteltäubchen gleich hereinkommen. Ich möchte in Ruhe essen und verspüre absolut keine Lust auf irgendwelche Streitereien.«

Doch unsere beiden Rollerfahrer machten der alten Dame einen gehörigen Strich durch die Rechnung. Die Eingangstüre flog auf, und Julia und ihr jugendlicher Möchtegern-Lover stürmten förmlich in das leere Restaurant.

»Viel los ist hier aber wenig«, witzelte Max Balfelder, als er uns mutterseelenallein an dem einzigen gedeckten Tisch sitzen sah. »Da ist bei uns daheim ja an Allerheiligen mehr Halligalli.«

»Was ist passiert?« prustete Julia heraus. »Sind die Russen einmarschiert, oder hat unser Herr Bestattungsunternehmer sämtliche Gäste vergrault?«

»Ich gebe dir gleich vergrault, junges Fräulein«, knurrte Lanzerath. »Schon mal auf die Uhr geschaut? Habt ihr morgen keine Schule?«

Max Balfelder baute sich vor unserem Totengräber breitbeinig auf.

»Erstens geht dich das einen Feuchten an, und zweitens nein. Ich weiß ja nicht, auf welchem Planeten ihr lebt, aber samstags geht bei uns schon lange keiner mehr in die Schule. Vielleicht war das im Mittelalter so.«

Lanzerath drehte sich verblüfft zu uns um.

»Sagt bloß, das stimmt.«

Sophia schüttelte den Kopf.

»Lothar, Lothar! Wird wirklich langsam Zeit, dass ihr euch endlich Kinder anschafft.«

»Die Beiden?«, wieherte Max. »Na, das wird was geben. Intelligenzallergiker mit einem IQ von Zehn. Nee, besser nicht.«

»Ganz schön frech, was?« mischte ich mich ein. Kesse Gören schön und gut, aber was zu weit ging, ging zu weit.

»Hast du ein Problem, oder was?« schnauzte mich der Bengel an. Offenbar wollte er Julia imponieren und machte hier jetzt einen auf dicken Maxe.

»Komm, geh woanders spielen. Mit so Jüngelchen, die den halben Tag nur am Computer hocken und sich die Daumen wund klickern, diskutiere ich doch gar nicht. Werd du erst mal trocken hinter den Ohren. Keine Haare am Sack, aber im Puff drängeln. So Typen habe ich gerne.«

Julia brach in schallendes Gelächter aus. Romeo hingegen warf mir einen Blick zu wie Othello seiner Desdemona. Vermutlich hätte er auch mich am liebsten auf der Stelle erwürgt.

»Du mit deiner armseligen Klitsche oben auf dem Berg«, pöbelte er drauflos. »Wer bist du denn? Ein kleiner Bulle, den sie rausgeschmissen haben. Weil er geglaubt hat, er könne das dicke Geld machen. Ist aber aufgefallen. Dumm gelaufen, was?«

Ich runzelte die Stirn und dachte kurz nach. Das war gut so, sonst hätte ich dem kleinen Scheißer vermutlich noch auf der Stelle so eine gelangt, dass er quer durch Ballensiefens Restaurant geflogen wäre.

»Da bist du dir sicher«, meinte ich nur. Mit so einem Rotzlöffel diskutierte ich doch gar nicht.

»Aber hallo!« bellte Max zurück und schob dabei sein Kinn weit vor.

Sowas konnte ich noch nie leiden. Bei halben Kindern schon gar nicht. Julia kicherte. Ich warf ihr einen vernichtenden Blick zu. Sie verstummte auf der Stelle.

»Wollt ihr mal sehen, wie ihr in zwei Minuten so klein seid, dass ihr unter dem Teppich Fahrrad fahren könnt? Und zwar mit Hut?«

Ich holte tief Luft.

»Ballensiefen! Kundschaft!«

Die Drehtür zur Küche schwang auf.

»Was ist denn nun schon wieder?« knurrte unser Gastwirt. »Ich habe zu tun. Wenn ihr was trinken wollt, dann bedient euch gefälligst ...«

In diesem Augenblick entdeckte er Max Balfelder. Seine Miene verfinsterte sich wie der Himmel vor einem herannahenden Tornado.

»Pass mal auf, Freundchen«, keuchte er und schwang dabei seinen Kochlöffel. »Ich will dich hier nicht wieder sehen. Jedenfalls nicht, solange du mit dem Schröder unter einer Decke steckst. Wenn du diesen Nazitypen hinterherlaufen möchtest, dann ist das deine Sache, aber zieh mir die Julia nicht mit hinein.«

Romeo schrumpfte wie erwartet auf Normalmaß zurück. Der Vergleich mit dem Fahrrad und dem Teppich war keinesfalls untertrieben. Dafür versuchte Julia einen letzten Vorstoß.

»Von euch lassen wir uns gar nichts sagen!« fauchte sie in unsere Richtung.

Ballensiefen platze der Kragen.

»Du hast sie wohl nicht mehr alle! Wie redest du mit mir? Stubenarrest! Bis Pfingsten! Mindestens.«

Er drehte sich zu Max herum, der immer kleinlauter wurde. Offenbar war er solch klare Ansagen von daheim nicht gewöhnt.

»Und du verschwindest auf der Stelle! Wenn ich dich nochmal in Julias Nähe sehe, dann kannst du dich auf was gefasst machen. Dann gibt's einen Satz heißer Ohren, die sich gewaschen haben.«

Super-Abgang! Weder Vorhang, noch Kulisse hinten rechts. Das war eher Flucht quer durch den Orchestergraben.

 

Lanzerath wieherte förmlich vor Vergnügen.

»Versteht ihr jetzt, warum wir keine Kinder haben?«

Julia ging auf unseren Totengräber zu, nahm Schwung und trat ihm mit voller Wucht gegen das Schienbein. Eine ihrer Highheels flog dabei in hohem Bogen quer durch das Lokal. Wenn Blicke hätten töten können, ich glaube, Julia wäre die nächsten dreihundert Jahre nicht mehr aus dem Knast herausgekommen.

»Sag mal, geht's noch?« jaulte Lanzerath. C-Dur. Ohne Strich und Komma.

»Verschwinde jetzt lieber auf dein Zimmer«, mischte sich Miss Sophie ein. »No country für young girls.«

Julia machte wortlos auf dem Absatz des ihr noch verbliebenen Stöckelschuhs kehrt und verschwand leise vor sich hin schimpfend nach oben.

»Seht ihr, so macht man das. Kein Stress, keine bösen Worte. Kinder, Kinder, ihr müsst aber noch viel lernen.«

»Heiß und fettig!« rief Ballensiefen und steuerte mit vier Tellern gleichzeitig auf unseren Tisch zu.

»Ahhh!« stöhnte Lanzerath und schnüffelte dabei demonstrativ an seinem Teller herum. »Das riecht aber lecker. Sind das die Enten unten vom Ufer?«

»Ich glaube, dir geht's wohl...«

 

Weiter kam er nicht. Die Eingangstür zum Restaurant schwang erneut auf. Im Türrahmen tauchte Abdelkader Omar Ibn Moutussi auf. Zumindest was, was man offenbar von ihm noch übrig gelassen hatte. Caddys Klamotten waren zerrissen, seine Nase eingedrückt, das Gesicht blutverschmiert. So sahen Nordafrikaner eigentlich nur dann aus, wenn sie gerade vor einem Bürgerkrieg flohen. Und genau das schien ihm passiert zu sein.

»Herrje, was haben sie denn mit dir gemacht?«

»Hattest du einen Autounfall?«

»Kundenreklamation?«

Lanzerath schien heute tatsächlich einen Clown gefrühstückt zu haben.

Sophia erhob sich und ging dem Nordafrikaner entgegen. Sie legte ihren Arm um seine Schulter.

»Setzen Sie sich, Abdelkader. Hugo Egon, ich brauche saubere Tücher! Und zwar flott, oder soll der arme Kerl dir auch noch den Fußboden versauen?«

 

Stöhnend ließ sich Caddy in einen der freien Sessel fallen. Ich schaute genauer hin. So desolat hatte ich schon lange niemanden mehr gesehen. Abgesehen von meinem Gegner bei der Schlägerei auf dem Weinfest vor zwei Jahren. Aber das war Pech. Für mich und für den anderen.

Caddys Nase war eindeutig gebrochen. Jedenfalls lief das Blut in Strömen aus seinen Nasenlöchern. Das rechte Auge war veilchenblau, das Jochbein hatte anscheinend auch einen deutlichen Knacks abbekommen. Die übrigen Abschürfungen konnte man beinahe schon als nebensächlich betrachten. Jacke, Hemd und Hose sahen jedenfalls aus, als hätte er sich im letzten Moment noch so gerade vor einer Schrottpresse retten können. Da war unser Tunesier offenbar an die Falschen geraten. Ich kapierte das nicht. Caddy war die Friedfertigkeit in Person. Der hatte die Klopperei bestimmt nicht angezettelt.

 

Ballensiefen kam mit einem Stapel sauberer Geschirrtücher aus der Küche. In der linken Hand jonglierte er einen Beutel mit Eiswürfeln. Sophia tupfte dem Tunesier vorsichtig das Gesicht ab. Caddy ergriff den Eisbeutel und presste ihn auf sein unterlaufenes Auge.

»Das sieht ja grauenhaft aus. Jetzt sag uns erst mal, was überhaupt passiert ist.«

»Scheiße, Alter! Sch'ab nix gemacht.«, nuschelte Caddy. »Sch'wollte grad absperren, da steh'n da plötzlich so zwei Typen im Laden.«

»Was für Typen?« wollte ich wissen.

»Typen halt. Mit Springerstiefeln und so.«

»Schröders Leute?«

Caddy zuckte die Schultern.

»Sch'weiß nich. Kann sein.«.

»Und was wollten die?« erkundigte sich Ballensiefen.

Caddy verzog das Gesicht. Das Reden fiel ihm sichtlich schwer.

»Na, Stress machen, Alter. Hätt'st die mal hören sollen. He, du Nigger, dich machen wir jetzt platt! Dann ist einer von den Typen mit einem Baseballschläger durch den Laden gefetzt und hat alles kurz und klein geschlagen. Der Andere hat mir eins aufs Maul gehauen. Sch'ab mich gewehrt, aber da war ja noch der andere Kerl.«

»Und was ist dann passiert?«

»Eh, da hielt so'n Wagen an. Riesenkiste. Der Typ hatte 'n Handy in der Hand. Plötzlich waren die Typen weg.«

»Hat der Hilfe gerufen?«

»Nee, ist kein Schwanz gekommen.«

»Hat einer von den Kapuzen-Trägern zur gleichen Zeit auch telefoniert?«

Caddy dachte einen Augenblick nach. Gleichzeitig wischte er sich über den Mund und verrieb dabei das Blut aus seiner Nase quer über das ganze Gesicht.

»Kann sein. Sch'weiß nicht, Alter. Doch, ja, glaub schon.«

Mein Gesicht verfinsterte sich.

»Der hat von irgendwoher Anweisungen erhalten. Und ich ahne inzwischen auch, wer hinter dem Lenkrad des geheimnisvollen Wagens saß, der vor Caddys Laden aufgetaucht und dann ebenso schnell wieder verschwunden ist. Mit Sicherkeit niemand anderes als Axel Schröder.«

Plötzlich stand Julia bei uns am Tisch. Offenbar hatte sie den Lärm im Restaurant mitbekommen. Bei Caddys Anblick fuhr sie sichtlich zusammen.

»Eh, Sonn'schein«, murmelte der Tunesier und versuchte aufzustehen, doch Sophia drückte ihn mit sanfter Gewalt in das Sitzpolster zurück.

Ballensiefen packte seine Tochter an ihrem Pulli und zerrte sie ganz dicht vor den Tunesier.

»So, und nun schau dir das hier mal ganz genau an, mein Frollein. Das waren Schröders Leute. Weil denen Abdelkaders Gesicht nicht passt. Und der Schröder hat sich alles von draußen in aller Ruhe angesehen, das feige Schwein. Hat nicht mal die Eier, sich selbst einzumischen. Nein, er hätte ja was aufs Maul kriegen können. Für Sowas hat der feine Herr ja seine Handlanger.«

An diesem Abend erlebte ich Julia zum ersten Mal ziemlich einsilbig.

»Hast du wenigstens die Polizei informiert?« mischte sich Lanzerath ein.

Caddy nickte zuerst und schüttelte dann den Kopf.

»Jou, Alter. Sch'ab Hundertzehn angerufen. Die meinten, sie gäben die Meldung weiter.«

»Und? Was ist passiert?«

Caddy verzog das Gesicht.

»Nix. Eh, ich schwör! Sch'ab 'ne Viertelstunde gewartet, dann hab ich mir'n Fahrrad geschnappt und bin hierher.«

»Ein Fahrrad? Wieso das?«

Caddy winkte traurig ab.

»Voll vier platte Reifen, Alter. Ich schwör!«

Julia löste sich aus dem Griff ihres Vaters und stürmte wortlos nach oben in ihr Zimmer. Täuschte ich mich, oder hatte sie auf einmal feuchte Augenwinkel?

»Das hört einfach nicht auf zu bluten.« Sophias Stimme nahm einen unnachgiebigen Ton an. »Sie müssen zum Arzt.«

»Nee, lasst mal«, murmelte Caddy.

Ich erhob mich und packte ihn an der Schulter.

»Wir sind hier nicht in einer Hollywood-Schmonzette, junger Freund. Natürlich bringen wir dich zum Arzt, oder möchtest du, dass man sich demnächst bei der Besetzung von Horrorfilmen um dich reißt.«

Unsere ehemalige Dorfschullehrerin wischte sich die Finger an einem noch halbwegs sauberen Tuch ab.

»Wir bringen ihn am besten gleich in die Klinik. Was ist, Hagen? Bringst du uns hin?«

»Mit dem Unimog?« fragte ich erstaunt. »Und wo soll Caddy sitzen? Etwa auf der Ladefläche?«

Lanzerath seufzte.

»Ich nehme Caddy mit. Im Zinksarg versaut er wenigstens keinem von uns die Polster.«

Ballensiefen stemmte die Fäuste in die Hüften.

»He, und was ist mit dem Kalbsgeschnetzelten?«

Gemeinsam mit Lanzerath schleppte ich Caddy hinaus zum Leichenwagen.

»Schickst du uns am besten mit UPS«, rief ich über meine Schulter zurück.

 

 

 

 

Kapitel 11

 

»Wie geht's ihm?«

Ich blickte hoch. Vor mir stand Sylvia Roth, Lokalreporterin vom Grafensteiner Tageblatt. Sie trug eine Spiegelreflexkamera über der Schulter und hatte bereits ihren Notizblock gezückt. Offenbar war sie gekommen, um Näheres über den Vorfall in Caddys Laden zu erfahren. Unwillkürlich musste ich schmunzeln. Das Beste hatte sie sowieso verpasst. Als wir nämlich mit Lanzeraths Leichenwagen vor dem Klinikportal auftauchen und zwei Pfleger aufforderten, den verletzten Tunesier aus dem Zinksarg auf die bereitgestellte Krankentrage zu wuchten. Wiederauferstehung war Comedy dagegen. Jeder anständige Katholik wäre anschließend in die nächste Kirche gestürmt und hätte zehn Rosenkränze gebetet.

»Geht so«, antwortete ich und deutete auf das Behandlungszimmer der Unfallnotaufnahme, hinter der Caddy seit einer knappen Dreiviertelstunde verarztet wurde.

Sylvia nickte Ballensiefen und Sophia zu, die genauso wie ich auf eklig harten Metallstühlen ausharren mussten.

»Und was ist passiert?« stocherte sie weiter.

Ich berichtete mit kappen Worten, was ich von dem Tunesier erfahren hatte. Sylvia machte sich eifrig Notizen.

»Glaubt ihr wirklich, das waren Schröders Leute?«

Sophia winkte ab.

»Das mit dem Glauben sollten wir dem Pfarrer überlassen. Ich für meinen Teil werde den Teufel tun und irgendwas in dieser Richtung behaupten. Anschließend habe ich noch eine Verleumdungsklage am Hals. Darum soll sich gefälligst die Polizei kümmern.«

Sylvia hob die Augenbrauen.

»Von denen komme ich gerade. Der Breitenbach war gerade dabei, den Tatort in Augenschein zu nehmen und nach etwaigen Zeugen Ausschau zu halten. Anscheinend jedoch ohne großen Erfolg. Entweder hat niemand was bemerkt, oder keiner will was sagen. Jedenfalls war unser Dorf-Sheriff stinksauer. Wieso der Moutussi überhaupt abgehauen wäre, wollte er wissen. Schließlich hätte er doch selbst bei der Polizei angeufen. Das röche doch alles schwer nach Versicherungsbetrug.«

»Spinnt der jetzt auf einmal?«

»Es gibt da angeblich einen anonymen Hinweis, dem man aber bisher noch nicht nachgegangen sei. Demnach soll Caddy mit seinem Laden in letzter Zeit nur noch Verluste gemacht haben.«

»So ein Blödsinn«, mischte sich Lanzerath ein. »In meinen Augen ist das genau die Handschrift dieses rechtsradikalen Schleimbeutels.«

»Darf ich das wörtlich zitieren?«

»Hüte dich!« zischte unser Totengräber. »Wehe, wenn auch nur ein Wort...«

Sophia legte ihm die Hand auf den Unterarm.

»Dann halte gefälligst auch den Mund, mein Junge. Das ist doch genau das, worauf der Schröder hinaus will. Dass er selbst denunziert wird und er denjenigen mit seinen ausgebufften Anwälten fertigmachen und anschließend bei der Bevölkerung auch noch Pluspunkte sammeln kann. Wir haben doch keine Beweise. Dass er angeblich mit seinem Wagen vor Abdelkaders Geschäft aufgetaucht sein soll, das ist lediglich Hagens Vermutung.«

Die Reporterin vom Grafensteiner Tageblatt schaute mich an.

»Der Schröder war am Tatort?«

»Nichts Genaues weiß man nicht. Aber überlege doch mal. Caddy wird von Typen in schwarzen Chinos und Springerstiefeln überfallen. Urplötzlich taucht ein Auto auf, der Kerl hinter dem Steuer zückt sein Handy und mit einem Mal sind die Typen wie vom Erdboden verschwunden. Ich zähle da nur Eins und Eins zusammen.«

»Vielleicht hat der Mann ja auch nur die Polizei informiert«, gab Sylvia zu bedenken.

»Quatsch. Breitenbach hat doch selbst behauptet, dass Caddy der Anrufer war. Jetzt soll mir also keiner mit dem berühmten Unbekannten kommen.«

 

Die große Schiebetür vor dem Behandlungsraum schob sich zurück. Ich sprang hoch und lief auf den Weißkittel zu, der sich bereits zu seinem nächsten Patienten aufmachen wollte.

»Wie geht's ihm?«

Der Arzt musterte mich misstrauisch.

»Sind Sie Angehöriger?«

»Nein, ein guter Bekannter.«

»Tut mir leid, dann darf ich Ihnen nichts sagen. Ärztliche Schweigepflicht. Aber fragen Sie Herrn Moutussi doch selbst. Da kommt er gerade.«

Vor mir tauchte Hohepriester Imhotep persönlich auf. Jedenfalls war Caddy genauso schick bandagiert wie eine altägyptische Mumie. Nur Augen und Mundöffnung hatte man frei gelassen. Hinter mir klickte eine Spiegelreflex im Dauerfeuer. Caddy sah aber auch wirklich abgefahren aus. Ich konnte mir insgeheim schon vorstellen, wie der Aufmacher des Grafensteiner Tageblatts am kommenden Tag ausschauen würde.

Caddy schwankte. Eine Schwester fasste ihn rasch unter die Achsel, damit er nicht fiel.

»Kann ihn jemand nach Hause bringen? Alleine schafft er das nicht. Wir mussten ihm eine Betäubungsspritze geben. Die Prellungen sind zwar überwiegend glimpflich, aber seine Nase ist gebrochen.«

Ehe ich etwas sagen konnte, war die junge Frau bereits verschwunden. So ging das zu in einer Notaufnahme nachts um kurz vor elf. Besonders dann, wenn man Kassenpatient war. Da gab's keinen Chefarzt, der zum Schluss noch rasch einen Blick auf den Patienten warf. Unwillkürlich fiel mir mein Onkel ein. Vielleicht war das mit der Grund, warum er sich noch nicht hatte behandeln lassen.

»Okay, und jetzt?«

In Lanzeraths Stimme schwang latente Traurigkeit mit. Kein Wunder. Mit Leuten, die noch auf den eigenen Beinen standen, konnte er schon berufsbedingt wenig anfangen.

»Jetzt fahren wir zu mir aufs Weingut«, bestimmte ich. »Daheim kann er jedenfalls nicht bleiben. Wer weiß, was diesen Rowdys noch alles einfällt.«

Sophia gähnte herzhaft.

»Fährst du mich bitte nach Hause, Lothar?«

Der Totengräber zögerte einen Augenblick. Viel lieber wäre er jetzt mit von der Partie gewesen, um nur ja nichts zu verpassen. Im übrigen reflektierte er mit Sicherheit auf meinen Kühlschrankinhalt. Bestimmt lagen da noch ein paar Schälchen mit Nachtisch herum. Aber jemandem wie Miss Sophie schlug man keinen Wunsch ab, und nachts um elf konnte man die alte Dame ja wohl kaum auf ein Taxi warten lassen. Zähneknirschend stimmte er zu.

 

~~~~~~~

 

Draußen vor der Klinik erwartete uns die nächste Überraschung. Vor dem Hauptportal stand ein schwerer Chevy Pick-up mit geschwärzten Seitenscheiben. Als wir uns näherten, röhrte der Achtzylinder auf, und der Geländewagen setzte sich in Bewegung. Auf der Ladepritsche kauerten zwei vermummte Burschen. Sie hielten Bierflaschen in die Höhe und prosteten uns zu. Ehe ich dazu kam, einen Blick auf das Kennzeichen zu werfen, war der Wagen bereits um die nächste Ecke gebogen.

»Scheißkerle!« fluchte ich den Typen hinterher.

Ich packte Caddy unter den Arm und bugsierte ihn zu meinem Unimog. Auf dem Weg hinauf zum Weingut merkte ich, dass mir ein fremder Wagen folgte. Mein Puls beruhigte sich erst, als ich feststellte, dass es sich um unsere Lokalreporterin handelte. Eine gute Viertelstunde später kletterte ich aus dem Unimog und schaute mich erst einmal sorgfältig nach allen Seiten um. Langsam packte mich die Wut. Bis gestern hatte ich mein Haus so gut wie nie verschlossen. Allenfalls die Halle mit den Gerätschaften und natürlich den Weinkeller. Landstreicher gab es schließlich überall, und die brauchten ihren Durst ja nicht unbedingt mit meiner Riesling Auslese zu löschen. Ab sofort würde ich wohl alles verriegeln und verrammeln müssen. Man konnte ja nicht ahnen, auf was für spinnerte Ideen manche Leute sonst noch kamen.

Hinter mir kam der Wagen der Zeitungsreporterin zum Stehen. Sylvia stieg aus und schaute mich fragend an.

»Was ist? Warum gehst du nicht rein?«

»Tu ich ja.«

Dabei half ich Caddy aus der Fahrerkabine des Unimog herunter. Der Tunesier war immer noch schwer angeschlagen. Wahrscheinlich hatte ihm der Arzt eine deftige Dröhnung Lidocain verabreicht. Jedenfalls war ich für Sylvias Hilfe dankbar. Gemeinsam schleppten wir ihn nach oben in mein Schlafzimmer und hievten ihn ins Bett. Wenige Augenblicke später war er auch schon weggedämmert.

 

Zurück in der Küche machte ich erst einmal Licht und schaute nach, ob mein Onkel vielleicht irgendwas hergerichtet hatte. Nach kurzem Stöbern in meinem normalerweise gähnend leeren Kühlschrank wurde ich zum Glück fündig. Nach Quiche Lorraine als Entrée, Bœf Bourguignon zur Hauptspeise und anschließend Créme caramel konnten wir kaum noch papp sagen. Einen Tagesverlierer gab es heute auf jedem Fall. Lanzerath würde sich daheim wahrscheinlich mit belegten Broten zufrieden geben müssen.

Anschließend verzogen wir uns in mein Wohnzimmer. Für zwei Personen war mir die riesige Küche einfach zu ungemütlich, und im übrigen roch es dort nach Essensausdünstungen. Eine Dunstabzugshaube besaß ich nicht, und das Fenster wollte ich an einem Tag wie diesem bestimmt nicht unbeaufsichtigt offen stehen lassen. Sylvia ließ sich in einen der Sessel fallen und schaute mich erwartungsvoll an.

»Nun erzähl mal. Was ist denn nun eigentlich genau passiert? Aus Abdelkader war ja nichts Vernünftiges herauszubekommen.«

Ich schaute sie nachdenklich an. Sylvia war Reporterin. Sogar eine ziemlich gute. Für ein Käseblatt wie das Grafensteiner Tageblatt eigentlich hoffnungslos überqualifiziert. Dass die Mauscheleien der Balfelders im Zusammenhang mit dem Sozialwohnungsbauprojekt im Neubauviertel ans Tageslicht kamen, war im wesentlichen ihr Verdienst, was jedoch zwangsläufig dazu führte, dass sie im Rathaus offiziell zur persona non grata erklärt wurde. Dem Vernehmen nach hatte sie Politikwissenschaften studiert, erhielt im öffentlichen Dienst aus irgendwelchen unerfindlichen Gründen jedoch keine Anstellung. Nur deshalb war sie irgendwann bei der Presse gelandet. Gerade deshalb musste ich höllisch aufpassen. Sylvia war dafür bekannt, alles, was sie erfuhr, gnadenlos für ihre Zwecke auszuschlachten. Hauptsache, sie konnte der Bürgermeisterin von Grafenstein gehörig ans Bein pinkeln.

Als kleiner Weinbauer war ich jedoch von guten Kontakten ins Rathaus abhängig. Andernfalls konnte nämlich auch mal schnell die Gewerbeaufsicht hereinschneien, gerade dann, wenn es auf die Lese zuging. Wehe, die Erntehelfer waren nicht alle korrekt angemeldet, oder die Leute hatten keine ordentliche Unterkunft und Verpflegung. Da konnte aus einem einfachen bulgarischen oder rumänischen Tagelöhner, der sich bei mir lediglich ein paar Euro hinzuverdienen wollte, ganz schnell ein hochqualifizierter Saisonarbeiter werden, der allem Anschein nach in menschenverachtender Weise vom kapitalistischen System ausgebeutet werden sollte. Oder man erhielt die Mitteilung, die Standplätze beim nächsten Weinfest unten am Moselufer seien leider schon alle vergeben. Man hätte angeblich nur noch ein Plätzchen direkt an der Hauptstraße und damit weit ab vom Schuss übrig. War alles schon passiert. Ein paar unserer Jungwinzer konnten ein Lied davon singen. Unter denen gab es einen Kollegen, der sich mal wortgewaltig über das selbstherrliche Politikgebahren unserer Bürgermeisterin beklagt hatte. Seine zugegeben schon etwas betagten Erntemaschinen erhielten urplötzlich keine Sicherheitsabnahme mehr. Nachdem er seinen Fuhrpark komplett erneuert hatte, gab es im darauf kommenden Jahr eine Missernte, und er war pleite und musste verkaufen. Ein Übergangskredit war ihm von der örtlichen Sparkasse aus unerklärlichen Gründen nicht bewilligt worden.

Mir persönlich hatte die Balfelderin bisher noch nie auf die Füße getreten, aber dabei sollte es gefälligst auch bleiben. Ich war weder Robin Hood noch Don Quichote. Den aussichtslosen Kampf gegen Windmühlenflügel sollten gefälligst andere führen. Ich hatte im Leben schon genug Prügel eingesteckt.

 

»Ich weiß eigentlich auch nicht viel mehr als du. Wir hockten gerade nichts ahnend beim Ballensiefen, da fliegt die Türe auf, und der Caddy stolpert blutüberströmt ins Lokal.«

Sylvia zückte sofort ihren Notizblock.

»Wer, wir?«

»Na, Ballensiefen, Miss Sophie, der Totengräber und ich.«

»Und weiter?«

»Nichts, und weiter. Der Caddy ist überfallen worden. Von zwei Typen in Kapuzenpullovern, schwarzen Chinos und Springerstiefeln. Dass sich der erste Verdacht gegen den Schröder richtet, liegt nach seinem heutigen Auftritt vor dem Rathaus ja wohl auf der Hand.«

Ich legte eine kurze Pause ein und überlegte mir anschließend jedes Wort peinlich genau.

»Du warst doch selbst dabei. Murad und die Leute aus dem Fitnessklub haben die Jungs vom Schröder schließlich Sowas von aufgemischt. Wahrscheinlich wollte sich die feige Bande bloß rächen. Getreu dem Motto: Ausländer bleibt Ausländer. Egal, um wen es sich dabei handelt und was der bei uns treibt.«

»Hmm«, meinte Sylvia. »An Sowas Ähnliches habe ich auch schon gedacht. Das war aber auch eine bescheuerte Aktion von den Türken. Murad kann froh sein, wenn er keinen Ärger mit den Bullen bekommt. Schließlich war Schröders Demo angemeldet, und seine Leute hatten sich zu Beginn der Veranstaltung ja auch brav im Hintergrund gehalten. Dass er jemanden, der vor seinem Podium herumpöbelt, von der Security fortschleppen lässt, das wäre auch bei jeder anderen Veranstaltung passiert. Und was den Murad betrifft, scheint mir Schröder ebenfalls auf der sicheren Seite. Der wird behaupten, seine Leute hätten sich lediglich gegen gewaltbereite Störenfriede zur Wehr gesetzt.«

Ich lachte grimmig.

»Sowas gab es Zweiunddreißig schon mal. Damals durften sich gewisse Politiker mit Schnauzbart sogar eine eigene Miliz leisten. Also, ehrlich, auf Sowas kann ich verzichten.«

»Nicht nur du. Aber mal was anderes. Im Neubauviertel gab es eine Polizeirazzia? Was hat Miss Sophie denn jetzt schon wieder angestellt?«

Insgeheim hatte ich auf diese Frage gewartet. Vermutlich war Sylvia von irgendwem aus dem Neubauviertel über Breitenbachs Polizeieinsatz informiert worden. Jetzt wollte sie natürlich Genaueres erfahren. Jetzt musste ich höllisch auf der Hut sein.

»Der Breitenbach hat bei seiner Aktion ziemlich über die Stränge geschlagen. Keine Ahnung, wie er auf die Idee kam, Miss Sophie sei die Betreiberin der illegalen Hanfplantage.«

Sylvias Augen blitzen listig auf.

»Und, hatte er recht mit seiner Annahme?«

»Frag Sophia gefälligst selbst, wenn dir dein Leben lieb ist. Ich weiß von nix. Der Breitenbach hat jedenfalls nichts gefunden.«

»Nun tu nicht so scheinheilig«, entgegnete sie und klopfte mir dabei beinahe schon kameradschaftlich auf die Schulter. »Als ob du nicht näheres wüsstest. In Grafenstein weiß doch jedes Kind, dass die alte Berrenrath einen Narren an dir gefressen hat, und ausgerechnet du willst angeblich von nichts eine Ahnung haben?«

Ich stand auf, um eine Flasche Spätburgunder zu holen. Nach all dem Theater konnte ich jetzt einen ordentlichen Schluck vertragen. Ich entkorkte die Flasche und stellte zwei Gläser auf den Tisch. Sylvia hielt die Hand über ihr Glas.

»Ich muss noch fahren. Hast du ein Mineralwasser?«

 

Ich nickte und verschwand in der Küche. Seit Karl bei mir logierte, stand aus unerfindlichen Gründen neuerdings immer ein voller Kasten Wasser neben dem Kühlschrank. Aus reiner Bequemlichkeit verzichtete ich darauf, das Licht anzuschalten. Mein Blick fiel durch das Küchenfenster... und damit auf ein Augenpaar, das mich von draußen anstarrte. Ich zwang mich dazu, genauer hinzusehen. Die Umrisse des Gesichts konnte man allenfalls erahnen, denn es wurde von einer Sturmhaube verdeckt. Bei eingeschalteter Deckenbeleuchtung wäre mir der Kerl wegen der spiegelnden Fensterscheibe vermutlich gar nicht aufgefallen. Mit einem Satz war ich zurück im Wohnzimmer, löschte den Deckenfluter und zerrte eine sich sträubende Sylvia aus dem Raum.

»Was ist denn in dich gefahren?« Gleichzeitig versuchte sie sich aus meiner Umklammerung zu befreien.

»Still!« zischte ich halblaut. Gleichzeitig horchte ich nach draußen, ob sich da etwas tat.

»Sag mal, geht's noch?« schimpfte sie und schüttelte mich ab.

»Still!« wiederholte ich. »Draußen ist jemand.«

Unwillkürlich senkte auch sie ihre Stimme.

»Wer?« keuchte sie.

»Keine Ahnung. Irgendein Typ. Zu einer nächtlichen Weinprobe ist der jedenfalls nicht angetanzt. Der Kerl trägt nämlich eine Sturmhaube.«

»Wer könnte das sein?«

»Vermutlich einer von den Typen auf dem Pick-up. Wahrscheinlich sind uns die Kerle gefolgt.«

Ich merkte, wie Sylvia zusammenzuckte.

»Hast du abgeschlossen?«

Ich nickte.

»Was denkst du denn.«

Aus Richtung Wohnzimmer vernahm ich ein lautes Klirren. Ich ahnte, was passiert war. Jemand hatte mir die Scheiben eingeworfen. Wütend stampfte ich mit dem Fuß auf.

»Hat der noch alle Tassen im Schrank?«

 

Ich schlich in das zum Glück stockdunkle Büro, ging an den Safe, tippte die Zahlenkombination ein und entnahm dem dunkelgrauen Stahlkasten einen kühlen metallischen Gegenstand, der sich seit eh und je unter meinen Geschäftspapieren befand. Eine Walther P38, die Armeepistole meines Großvaters aus dem Zweiten Weltkrieg, die bereits mein Vater von ihm geerbt hatte und seitdem bis auf ein paar Übungsschüsse alle paar Jahre im Wald nur nutzlos im Tresor herumlag. Ich hatte das Ding eigentlich längst beim Ordnungsamt abgeben wollen, aber irgendwas war immer dazwischen gekommen. Jetzt war ich froh über meine Nachlässigkeit.

Ich nahm die Pistole in die Hand, schob das Magazin mit den acht Patronen in den Griff und lud durch. Wohl war mir nicht in meiner Haut. Schon im Dienst hatte ich meine Waffe nur selten benutzt. Höchstens hin und wieder zur Warnung. Ich erhob mich und ging langsam auf die Eingangstüre zu. Sylvia folgte mir. Angstvoll starrte sie auf die Pistole in meiner Hand. Offenbar ahnte sie, was ich vorhatte.

»Du wirst doch jetzt wohl hoffentlich nicht nach draußen gehen?« jammerte sie.

 

Ich schob sie beiseite, drehte den Schlüssel herum und trat ins Freie. Draußen herrschte geradezu gespenstische Stille. Ich lauschte. Nichts. Auf Zehenspitzen schlich ich um das Haus herum und erreichte die Seite, an der sich das Küchenfenster befand. Plötzlich vernahm ich neben mir eine Bewegung. Ich wirbelte herum. Keine Sekunde zu spät. Auf einen hellen Blitz folgte ein dumpfes Ploppen und das Splittern der Holzfassade hinter mir. Eine Zehntelsekunde früher, und ich hätte vermutlich Lanzeraths Kundenkartei um einen Neuzugang erweitert. Verdammt! Der benutzte eine Waffe mit Schalldämpfer. Instinktiv hob ich die Walther und feuerte zweimal blindlings drauflos. Nach dem zweiten Schuss hörte ich einen Aufschrei. Ich sprang vor und ließ dabei den Lauf meiner Waffe wie ein Fallbeil auf meinen Angreifer nieder. Leider traf ich jedoch nur dessen Schulter. Der Vermummte taumelte zurück, strauchelte und ging zu Boden. Ich wollte ihm zur Sicherheit noch eins überziehen, aber da ertönte vom Eingangsbereich her ein gellender Schrei. Sylvia. Auch das noch!

Schon beim Umrunden der Hausecke sah ich, dass sie sich mit einer weiteren vermummten Gestalt balgte. Was sollte ich tun? Schießen konnte ich nicht, denn unter Umständen hätte ich dabei Sylvia getroffen. Ich entschied mich für einen Warnschuss in die Luft. Zur weiteren Gegenwehr hatte ich schließlich noch fünf weitere Patronen im Magazin. Der Typ ließ von der jungen Frau ab, wog für den Bruchteil einer Sekunde ab, ob er sich auf mich stürzen sollte, machte dann aber zum Glück, dass er fortkam. Der andere Kerl stolperte hinter ihm her. Man konnte deutlich erkennen, dass er sich den linken Arm hielt. Ich feuerte nochmal in die Luft.

»Lasst euch hier bloß nie wieder blicken, ihr Arschlöcher«, brüllte ich ihnen hinterher »Und sagt dem Schröder, das nächste Mal kann er hier eure Leichen aufsammeln.«

Sylvia zitterte wie Espenlaub. Ich nahm sie in den Arm und führte sie zurück ins Haus. Bevor ich die Eingangstüre erneut hinter mir verrammelte, warf ich einen letzten Blick hinaus in die Nacht.

Ein Hauch von Krieg schwebte über Grafenstein.

 

Als erstes ging ich durchs Haus, ließ überall die Rollläden herunter und kontrollierte das eingeschlagene Wohnzimmerfenster. Darum musste sich morgen Lutz Backhaus als erstes kümmern. Anschließend ging ich zu Sylvia in die Küche und goss uns beiden erst einmal einen doppelstöckigen Grappa ein. Heimfahren würde sie heute Nacht bestimmt nicht mehr. Vor mir lag die Walther.

»Tu das Ding bitte weg«, bat sie mich.

»Das Ding mir jedenfalls das Leben gerettet. Der Kerl hat zuerst geschossen.«

Sie blickte mich erstaunt an.

»Ich habe nichts gehört.«

»Er hat einen Schalldämpfer benutzt.«

»Denkst du wirklich, das waren Schröders Leute?«

»Wer sollte es denn sonst gewesen sein? Gewöhnliche Einbrecher benutzen jedenfalls nicht solche Schießeisen.«

Sie deutete auf die Tür zum Büro.

»Willst du nicht die Polizei benachrichtigen?«

Ich schüttelte den Kopf.

»Was soll das bringen? Glaubst du, der Breitenbach würde mitten in der Nacht irgendwas unternehmen? Denk doch mal an die Sache mit Caddy.«

In Wirklichkeit verspürte ich bloß keine Lust, den Besitz der Walther zu erklären. Schon gar nicht gegenüber unserem Dorfsheriff.

»Aber das hier war doch wohl ein glasklarer Überfall. Und dann auch noch mit Schusswaffengebrauch.«

»Und wenn schon. Sollten es wirklich Schröders Leute gewesen sein, dann sind die jetzt gewarnt. Von denen taucht hier jedenfalls keiner mehr so schnell wieder auf. Im übrigen würde ich mir mit einer Anzeige eine Menge Ärger einhandeln. Die Knarre ist nämlich nicht auf mich registriert.«

Sylvia sprang von ihrem Stuhl hoch.

»Deine Entscheidung. Ich schaue jedenfalls nicht tatenlos zu!«

Sie zog ihr Smartphone aus ihrer Jeans, tippte ein paar Mal auf das Display und hielt es sich anschließend ans Ohr.

»Hallo, Jens. Wie weit bist du mit der Morgenausgabe? Können wir die Titelseite noch ändern? Ich habe die Schlagzeile des Monats!«

Sie lauschte für einen Moment in die Stille.

»Jetzt komm mir doch nicht mit Redaktionsschluss! Wenn ich Sowas schon höre. Das hier ist die Story schlechthin, kannst du mir glauben. Die haut morgen früh halb Grafenstein aus den Pantinen. Wieviel Zeit gibst du mir? Eine halbe Stunde? Sorry, das schaffe ich nicht! Ich bin beim Brenner auf dem Weingut.«

Ich deutete in Richtung Büro.

»Wenn du einen Artikel schreiben möchtest, nimm doch unseren Computer.«

Ihr Gesicht hellte sich schlagartig auf.

»Hör zu, Jens. Ich schreibe den Artikel hier oben beim Brenner und schicke dir den Text per Email in die Redaktion. Und wehe dir, meine Story kommt anschließend nicht auf die Titelseite!«

Sylvia steckte ihr Smartphone zurück und schaute mich erwartungsvoll an.

»Also, was ist? Wo steht der Rechner? Und mach mir bitte einen doppelten Espresso. Ich muss jetzt hellwach bleiben.«

Eine knappe Viertelstunde später war der Artikel geschrieben und versandt. Ich kam aus dem Staunen nicht heraus. Marianne war ja schon fix, aber so schnell hatte ich noch nie zehn Finger über eine Computertastatur wirbeln sehen. Nebenbei stöpselte sie noch ein Lesegerät für ihre Speicherkarte aus der Spiegelreflex an die USB-Schnittstelle und fügte eine Reihe Bilder in die Email ein. Anschließend hieb sie auf die Enter-Taste und zückte erneut ihr Smartphone.

»Alles klar, Jens?«

Ich sah, wie sich ihre Mundwinkel nach oben verzogen.

»Nicht schlecht, was? Den Artikel über das Finanzministertreffen in Brüssel kannst du ja in den Wirtschaftsteil schieben.«

Sylvia ging an den Drucker und zog ein Blatt Papier aus dem Schacht.

»Willst du mal lesen?«

Ich nickte und überflog die Zeilen.

 

»Grafenstein kommt nicht zur Ruhe!

Nach den Ereignissen der vergangenen Tage, bei denen eine deutsche Touristin durch eine Schussverletzung zu Tode gekommen war, spitzt sich die Situation in Grafenstein dramatisch zu. Zunächst kam es anlässlich einer von der Bürgerinitiative Grafenstein auf dem Rathausplatz einberaumten Versammlung zu einer Massenschlägerei, zu der sogar das SEK gerufen werden musste. Dabei wurde das Ordnerpersonal, das Gemeinderatsmitglied Axel Schröder zu seiner eigenen Sicherheit engagiert hatte, von den Einsatzkräften in Gewahrsam genommen.

In den späten Nachmittagsstunden fand eine nicht genehmigte Polizeirazzia im Neubauviertel statt. Während der Protestversammlung der Bürgerinitiative Grafenstein war der Verdacht geäußert worden, dort würde unerlaubt Hanf angebaut. Wie die örtliche Polizeiinspektion ausgerechnet auf die im Ort angesehene Sophia Berrenrath (79) als Verdächtige kam, ist nicht nur den Anwohnern und unmittelbar Betroffenen ein Rätsel. Gefunden wurde nichts; die Polizeibeamten mussten nach Beschwerde einer eilends herbeizitierten Rechtsanwältin unverrichteter Dinge abziehen. Dem Vernehmen nach soll bei der Hausdurchsuchung nicht unerheblicher Sachschaden entstanden sein.

Kurz nach Geschäftsschluss ereignete sich schließlich ein Überfall auf das Ladenlokal des tunesischen Mitbürgers Abdelkader Moutussi. Zwei Männer mit Kapuzenpullovern und Springerstiefeln stürmten sein Geschäft, verwüsteten die Einrichtung und verletzten den Inhaber schwer. Er musste in der Grafensteiner Klinik behandelt werden und war bisher nicht ansprechbar. Polizeihauptwachtmeister Marcel Breitenbach, der am Tatort erste Ermittlungen aufnahm, zeigte sich wegen des angeblichen Überfalls skeptisch. Er äußerte den Verdacht, Herr Moutussi könnte den Überfall möglicherweise selbst inszeniert haben, um Geld von der Versicherung zu ergaunern. Weingutsbesitzer Hagen Brenner, ein Bekannter von Abdelkader Moutussi, brachte den Verletzten aus Sicherheitsgründen zu sich nach Hause.

Doch die Sicherheit für das Opfer des feigen Überfalls währte nicht lange. Kurz vor Mitternacht wurden Hagen Brenner und die Verfasserin des Artikels, die sich zu Recherchezwecken auf dem Weingut aufhielt, von zwei vermummten und zugleich bewaffneten Männern überfallen. Hagen Brenner, einem ehemaligen Kriminalbeamten, gelang es zum Glück, sich gegen die Unbekannten zur Wehr zu setzen. In Folge der Auseinandersetzung fielen Schüsse. Herrn Brenner zufolge benutze einer der Unbekannten eine Waffe mit Schalldämpfer.

Was ist los in Grafenstein? Tote im Yachthafen, Polizeiwillkür und Überfälle im Mafia-Stil sind vielleicht in einer Großstadt alltäglich aber gewiss nicht in unserem beschaulichen Heimatort. Mittlerweile häufen sich Hinweise von Bürgern, die sich über Skinheads mit Kampfhunden im Ortszentrum beklagen. Versinkt Grafenstein demnächst in Anarchie? Bürgermeisterin Melanie Balfelder und das Ordnungsamt sind jetzt gefragt. Sollte die Kriminalität weiter um sich greifen, dürfte das als erstes den Tourismus treffen.«

 

Ich schüttelte den Kopf.

»Starker Tobak, meine Liebe. Das gibt Ärger.«

Sylvia winkte ab und grinste breit.

»Ärger bin ich gewöhnt. Damit muss man leben.«

Ich blickte auf meine Armbanduhr.

»Was machen wir jetzt? Es ist weit nach Mitternacht. Willst du noch heimfahren?«

Ihr Blick wurde unsicher.

»Schmeißt du mich etwa raus?«

Ich schüttelte den Kopf.

»Ach wo! Das Problem ist nur, ich kann dir kein Gästezimmer anbieten. Dort logiert nämlich seit ein paar Tagen mein Onkel.«

»Wo steckt der überhaupt?«

Ich zuckte die Schultern.

»Keine Ahnung. Vermutlich immer noch mit Mariannes Bekannter auf Achse. Die Beiden wollten sich die Umgebung anschauen.«

»Wie alt ist die eigentlich?«

»So um die Vierzig.«

Sylvia lachte.

»Der geht ja ran. Aber lass ihm doch den Spaß. Es wird vermutlich der letzte Hormonschub in seinem Leben sein.«

Mir kam eine Idee.

»Du könntest natürlich im Wohnzimmer übernachten. Die Couch ist ausziehbar.«

Sylvia hob die Augenbrauen.

»Und wo schläfst du?«

Ich grinste breit.

»Natürlich direkt neben dir. Was denkst du denn? Nein, Unsinn. Ich bleibe besser im Büro. Dort bekomme ich am ehesten mit, falls wir es nochmal mit ungebetenen Gästen zu tun bekommen sollten. He, ich war mal Beamter. Ich bin es gewöhnt, am Schreibtisch zu schlafen.«

Wir richteten gemeinsam ihr Nachtlager her, und anschließend legte ich mich in eine Decke gehüllt auf meinen Büroschreibtisch. Langsam kam ich mir vor wie bei Trappern und Indianern.

 

~~~~~~~

 

Eine knappe halbe Stunde später war es mit der Nachtruhe aber auch schon wieder vorbei. Irgendein Trottel hämmerte wie verrückt gegen die Eingangstür. Seufzend erhob ich mich von meinem harten Nachtlager und sortierte erst einmal meine lahmen Knochen. Die Bollerei gegen die Eingangstür nahm kein Ende. Durch die Glasscheibe der Eingangstür konnte ich das Zucken blauer Einsatzbeleuchtung erkennen.

»Aufmachen! Polizei!«

»Ja, doch«, rief ich und stolperte in Richtung Eingangstür.

»Aufmachen, oder wir brechen die Türe auf!«

Draußen standen Breitenbach und Wachtmeister Nachtsheim. Beide schauten ziemlich missmutig aus der Wäsche. Breitenbach versuchte an mir vorbei in mein Büro zu stürmen, doch ich schubste ihn zurück.

»Was soll das?«

Breitenbach nahm Haltung an.

»Hier hat eine Schießerei stattgefunden?«

Ich runzelte die Stirn.

»Wer sagt das?«

»Zeugen.«

»Ach was. Und wo sind die Zeugen?«

Breitenbachs Eifer erlahmte. Genauso wie nach Lenas Anschiss am späten Nachmittag bei Miss Sophie.

»Na, Zeugen halt.«

»Aha, Zeugen halt. Und die haben gesehen, dass hier eine Schießerei stattfand. Wann soll das denn gewesen sein?«

»Vor etwas über einer Stunde.«

Ich schaute demonstrativ auf meine Uhr.

»Da war es ungefähr Mitternacht. Boh, ey! Und da seid ihr jetzt schon hier? Das ging aber fix. Was haben eure Zeugen zur Geisterstunde überhaupt auf meinem Grundstück verloren, hmm? Ist es nicht viel eher so, dass eure Zeugen vielleicht selbst in der Gegend herumgeballert haben?«

»Ja, nee, ich weiß nicht«, stammelte Breitenbach.

Seit seinem verkorksten Auftritt bei Miss Sophie schien sein überbordendes Selbstbewusstsein jedenfalls einen deutlichen Knacks abbekommen zu haben. Gut so.

»Hört mal zu, ihr zwei Komiker«, erwiderte ich wenig versöhnlich. »Was soll der Aufstand? Beim Moutussi habt ihr euch beinahe genau soviel Zeit gelassen wie bei mir. Mit euren Scheiß-Radargeräten, da seid ihr fix wie der Teufel, aber wenn's mal um Kopf und Kragen geht, dann spielt ihr auf der Wache Fang-den-Hut, oder was?«

Zugegeben, das war rotzfrech, aber ich hatte heute Nacht vielleicht sowas von Wut im Bauch, dass konnte man kaum glauben. Und diese beiden Spaßvögel, die fehlten mir jetzt gerade noch zu meinem Glück.

»Wir mussten erst noch zu einem Wohnungseinbruch. Sie wissen ja selbst, dass wir nur zu dritt auf der Wache...«

»Papperlapapp. Wohnungseinbruch. Wenn ich Sowas schon höre. Sowas geht natürlich vor. Besonders dann, wenn anderswo einem Ausländer der Laden kurz und klein schlägt und er zu allem Überfluss auch noch krankenhausreif geprügelt wird. Was überhaupt für ein Wohnungseinbruch? Hat man der Bürgermeisterin etwa die Gemäldesammlung geklaut?«

Es war landläufig bekannt, dass Melanie Balfelder über eine nicht unerhebliche Sammlung von Werken zeitgenössischer Künstler verfügte.

Breitenbach nahm einen erneuten Anlauf.

»Sie lassen mich jetzt sofort ins Haus! Dies ist eine polizeiliche Anordnung!«

»Habt ihr einen Durchsuchungsbeschluss?«

Breitenbach schien jetzt etwas besser vorbereitet als vorhin.

»Gefahr im Verzug.«

Ich wieherte vor Vergnügen. Demonstrativ trat ich einen Schritt vor und blickte mich suchend um.

»Wo ist denn hier eine Gefahr, Breitenbach? Die einzige Gefahr, die ich momentan sehe, das seid ihr. Ihr seid eine Gefahr für meine Nachtruhe. Und nun ist Schluss mit lustig! Ich will jetzt endlich schlafen.«

Hinter mir schob sich die Eingangstür zur Seite, und ein verschlafenes Gesicht tauchte im Türrahmen auf.

»Was ist denn jetzt schon wieder los?«

Breitenbach starrte zuerst auf Sylvias ziemlich knappes T-Shirt, unter dem sich ihr Busen deutlich abhob, und dann auf mich. Es fehlte nicht mehr viel, und Breitenbach hätte wie eine Henne angefangen zu gackern.

»Ach, nee! Die Blitzreporterin von unserem Käseblatt als Logierbesuch beim Brenner. Das wird ja immer schöner.«

Mir riss der Geduldsfaden.

»Jetzt ist aber Ende im Gelände, oder wollt ihr eine Anzeige wegen Landfriedensbruch und Nötigung riskieren? Wenn ihr was von mir wollt, dann besorgt euch von der Staatsanwaltschaft gefälligst einen Durchsuchungsbeschluss. Bis dahin, gute Nacht und schlafen Sie gut, meine Herren.«

Ich schob Sylvia zurück ins Büro, ließ die Tür ins Schloss krachen und schloss demonstrativ zweimal ab. Kurze Zeit später war das Blaulicht verschwunden, und endlich kehrte auf dem Weingut Brenner Ruhe ein.

 

 

 

 

Kapitel 12

 

Samstag

 

Am Wochenende pflegte die Bürgermeisterin in aller Herrgottsfrühe erst einmal eine Runde zu joggen. Nichts war in ihren Augen peinlicher, als jemand in exponierter Position mit ordentlich Speck um die Hüften. Sportlichkeit bedeutete in ihren Augen Souveränität, also genau das, was man in Politik und Geschäftsleben brauchte. Aus diesem Grunde hatten sie vor mehreren Jahren auch einen Golfplatz angelegt. Eine lohnenswerte Investition, denn inzwischen gab sich dort immer häufiger das Who-is-who der Luxemburger, Frankfurter und sogar Kölner Schickeria ein Stelldichein. Wo ließ es sich schließlich angenehmer plaudern als beim gepflegten Walk über das Grün oder auf dem Weg zum nächsten Abschlag. Besonders, wenn man auch noch ein Schlag unter Par lag.

Wegen ihres frühmorgendlichen Lauftrainings gehörte die Bürgermeisterin folglich zu den Ersten, die von den Geschehnissen der vergangenen Nacht aus der Zeitung erfuhren. Melanie Balfelder goss sich Kaffee ein und faltete die Zeitung auf. Wegen der Vorkommnisse auf dem Rathausplatz hatte sie sich ohnehin auf eine wenig schmeichelhafte Berichterstattung eingestellt. Zugegeben, ihr Auftritt zählte wirklich nicht zu den Sternstunden ihrer politischen Karriere. Über die fehlgeschlagene Razzia bei Sophia Berrenrath wusste sie auch schon Bescheid. Pech für Breitenbach. Um alles weitere musste sich am kommenden Montag der Krowiak vom Ordnungsamt kümmern. Das letzte, was sie noch mitbekommen hatte, ehe sie nach Trier ins Theater aufbrach, war der Polizeieinsatz in Morsbach, einem kleinen Ort in unmittelbarer Umgebung von Grafenstein. Ausgerechnet bei einer jungen Frau, die erst vor ein paar Monaten hierher gezogen war, hatte man eingebrochen. Glücklicherweise war sie zur Tatzeit aber nicht daheim gewesen. Nicht auszudenken, wenn es zu einer weiteren Gewalttat gekommen wäre. Die Fraktionsführer im Gemeinderat saßen ihr wegen Schröders fortwährender Anfragen zur allgemeinen Sicherheit in Grafenstein ohnehin ständig im Nacken. Dieser blöde rechtsradikale Populist. Warum blieb der nicht daheim im Ruhrgebiet, von wo er herkam?

Eigentlich wollte die Bürgermeisterin den Zeitungsartikel der Lokalredaktion ignorieren, doch der Aufmacher auf Seite eins ließ sie aufhorchen. Was stand da? Überfall am praktisch hellichten Tag auf das Ladenlokal von Abdelkader Moutussi! Ausländerfeindlicher Hintergrund nicht ausgeschlossen! Die Täter angeblich Kapuzenträger mit Springerstiefeln. Opfer schwer verletzt. Jetzt hatte der Schröder aber ein gewaltiges Problem, grinste sie vor sich hin, denn solche Typen schlichen schon seit Tagen in Grafenstein umeinander. Aber was stand da noch im eigentlichen Artikel? Nächtlicher Schusswechsel auf dem Weingut vom Brenner? Instinktiv griff sie zum Telefon und rief den Polizeiposten an. Doch der Diensthabende beruhigte sie. Man habe den Tatort noch in der Nacht gesichert, da der Betroffene aber wohlauf war und auf eine Anzeige verzichtete, habe die Funkstreife von weiteren Maßnahmen Abstand genommen. Staatsanwaltschaft und Spurensicherung seien bereits informiert. Die Trierer Kollegen würden Herrn Brenner in Kürze einen Besuch abstatten.

 

Kaum, dass sie die erste Tasse Kaffee hinuntergestürzt hatte, klingelte auch schon ihr Mobiltelefon. Sie erkannte bereits beim ersten Blick auf das Display, wer sie zu erreichen versuchte.

»Was ist denn jetzt schon wieder bei euch los?« knurrte die Oberstaatsanwältin übergangslos. »Tote, Nutten, Demos, Überfälle. Das ist ja schlimmer als in Chicago. Hast du deinen Laden nicht mehr im Griff? Dein gestriger Auftritt auf dem Rathausplatz war ja wohl auch nicht gerade der Brüller, nicht wahr?«

Melanie Balfelders Gesicht verfärbte sich unwillkürlich von blassrosa in Richtung purpur.

»Ich hatte keine andere Wahl. Als Gregor Weisz bei mir im Büro auftauchte und den Verdacht äußerte, die Bilder könnten durchaus von jemandem aus dem näheren Umfeld der Schulleitung auf den Server geladen worden sein, schrillten bei mir sofort sämtliche Alarmglocken. Ehrlich gesagt, bis dahin hatte ich noch an einen Böse-Buben-Streich geglaubt und eine Zeit lang sogar Max und seine Mitschüler in Verdacht gehabt. Aber wie hätten die an den Server herankommen sollen? Es kommen im Prinzip nur Lamann und die kleine Sommer infrage. Okay, die Sommer sind wir in ein paar Wochen, sobald ihr Zeitvertrag ausläuft, sowieso los. Beim Lamann sieht das allerdings anders aus. Der bleibt uns blöderweise noch ein Weilchen erhalten.«

Sie machte eine kurze Pause.

»Bekanntlich ist er Mitglied in der Bürgerinitiative. Als dann der Schröder draußen vor dem Rathaus mit seiner Hetzkampagne gegen mich anfing, musste ich einfach was unternehmen.«

»Das war jedenfalls eine ganz schwache Vorstellung, meine Liebe. Sowas sitzt man aus. Jedenfalls hast du jetzt ein Problem. Nach den Vorkommnissen der vergangenen Tage vielleicht sogar zwei oder drei.«

»Was willst du damit andeuten?«

»Nun«, fuhr die Oberstaatsanwältin fort, »Schröder wird die verschlechterte Sicherheitslage in Grafenstein jetzt erst recht für seine Ziele ausschlachten. Überfälle auf Weingüter, Geschäfte, Privatwohnungen, und das alles kurz hintereinander, zeugen nicht gerade von einer Bürgermeisterin mit Tatkraft und Durchsetzungsvermögen. Von der Leiche im Yachthafen mal ganz zu schweigen.«

»Und falls Schröders Leute selbst dahinterstecken?«

Sabine Breuer grunzte verächtlich.

»Bei diesem Moutussi, oder wie euer Ramschladen-Besitzer heißt, könnten vielleicht tatsächlich seine Leute ihre Finger im Spiel gehabt haben. Aber warum sollten Rechtsradikale ohne einen ersichtlichen Grund ausgerechnet die Privatwohnung einer jungen Frau verwüsten? Allem Anschein nach wurde bei ihr ganz gezielt nach etwas gesucht. Einbruchsdiebstahl ist aber nicht die Handschrift von Rechtsradikalen. Solche Typen hätten gewartet, bis die Frau wieder daheim ist, um ihr richtig einzuheizen. Und der nächtliche Überfall auf das Weingut Brenner? In Frau Roths Artikel wird mit keinem Wort erwähnt, dass es sich dabei um einen Überfall von Schröders Leuten handeln könnte.«

Melanie Balfelder versuchte den Spieß herumzudrehen.

»Was ist eigentlich mit den beiden rumänischen Nutten, die euch durch die Lappen gegangen sind? Wieso schafft ihr es nicht mal, zwei illegale Hupfdohlen dingfest zu machen?«

»Das ist in erster Linie das Problem von deinen Leuten im Einwohnermelde- oder Ausländeramt», wischte die Oberstaatsanwältin den Einwand beiseite. »Der Punkt geht jedenfalls eindeutig an Schröder. Sowas darf einfach nicht passieren, meine Liebe. Doch wie dem auch sei, welches Interesse sollten ausgerechnet zwei rumänische Prostituierte am Tod einer Touristin aus Belgien haben? Ich sehe da keinen Zusammenhang.«

»Touristin«, schnaubte Melanie Balfelder. »Die Kosinsky? Soll das ein Witz sein?«

Die Stimme der Oberstaatsanwältin nahm an Schärfe zu.

»Hörst du hier jemanden lachen?«

 

~~~~~~~

 

Vehementes Sturmklingeln riss mich aus meinem ohnehin unruhigen Schlaf. Ein brettharter Schreibtisch ist halt nicht als Nachtlager geeignet. Ich erhob mich stöhnend. Gleichzeitig rödelte die Eingangsglocke wie der Kölner Dom an Silvester.

»Ja, doch, zum Henker! Die Bimmelei ist ja nicht zum Aushalten.«

In Erwartung eines erneuten Erscheinens des örtlichen Überfallkommandos riss ich die Türe auf. Draußen erwarteten mich jedoch keine Uniformierten, sondern eine junge Frau. Besser gesagt: der Gräfin einzige Tochter. Was um alles in der Welt hatte die denn zu nachtschlafender Zeit bei mir zu suchen? Zudem schien sie mir heute Morgen auch seltsam zusammengeschrumpft. Ich schaute genauer hin und fuhr zusammen. Lena zu Ahrenfels hockte im Rollstuhl! Vor lauter Verblüffung brachte ich keine Silbe heraus.

Meine Besucherin hielt sich allerdings auch gar nicht erst mit langen Erklärungen auf, sondern überwand mit einem energischen Griff in die Speichen ihres fahrbaren Untersatzes die niedrige Schwelle vor meinem Eingang und glitt an mir vorbei ins Büro.

»Was ist passiert?« fragte sie übergangslos. »Ich las heute Morgen von dem Überfall auf dein Weingut. Es sollen Schüsse gefallen sein. Bist du verletzt? Geht's dir gut?«

Lena schien ernsthaft besorgt.

»Was passiert sein soll? Ich frage mich, was mit dir los ist. Seit wann sitzt du im Rollstuhl?«

Lena machte eine wegwerfende Handbewegung.

»Hatte gestern Abend einen etwas heftigeren Anfall als sonst. Meine Multiple Sklerose, aber das weißt du doch sicher, oder täusche ich mich? Tanzen fällt für mich die kommenden Tage jedenfalls erst mal aus, doch das dürfte im Augenblick wohl unsere geringste Sorge sein.«

»Aber du hast meine Frage immer noch nicht beantwortet«, fügte sie hinzu.

Die 'rote Lorelei' im Rollstuhl. Ich fasste es nicht. Mir gegenüber hatte sie ihre Erkrankung jedenfalls noch nie erwähnt. Allerdings stand sie zuweilen tatsächlich etwas unsicher auf den Beinen. Zuletzt war mir das bei Miss Sophie deutlich aufgefallen.

»Ein paar Maskierte haben mir einen kurzen Besuch abgestattet«, meinte ich nach einer Weile. »Vermutlich Einbrecher. Sowas kommt vor. Sogar bei uns an der Mosel. Nichts dramatisches«

Lena schaute mich verblüfft an.

»Hast du mal einen Blick in die Zeitung geworfen? Vermutlich nicht. In unmittelbarer Umgebung von Grafenstein gab es gestern Abend einen weiteren Einbruch. Dabei soll die Wohnung einer jungen Frau verwüstet worden sein. Hinzu kommt der Überfall auf das Geschäft in der Innenstadt. Ich wollte dich anrufen, aber du hattest vermutlich dein Handy über Nacht ausgeschaltet.«

Ich überlegte. Sollte Breitenbach tatsächlich die Wahrheit gesagt haben? Angeblich wollte er vor Caddys Anzeige zu einem Wohnungseinbruch gerufen worden sein.

»Ist bei dem Wohnungseinbruch auch geschossen worden?«

Lena schüttelte den Kopf.

»Allem Anschein nach nicht. Die Wohnung gehört übrigens einer gewissen Marianne Schäfer. Das ist doch deine Halbtagskraft, nicht wahr? Deshalb war ich ja so besorgt.«

»Was sagst du da? Marianne? Ich muss sie sofort anrufen.«

Hektisch riss ich mein Handy aus der Hosentasche, doch kurz darauf stellte ich fest, dass der Akku leer war. Ich wollte nach dem Telefonapparat auf meinen Schreibtisch greifen.

Lena winkte ab.

»Ich habe bereits versucht, sie zu erreichen. Sie geht nicht dran. Womöglich ist sie unterwegs und ahnt noch gar nichts von ihrem Glück.«

Kopfschüttelnd packte ich die beiden Griffe ihres Rollstuhls und schob sie in die Küche.

»Ich mache uns jetzt erst mal einen Kaffee.«

»Aber danach erzählst du mir endlich, was genau passiert ist«, verlangte Lena.

 

Ein paar Minuten später hockten wir in der Küche. Vergeblich suchte ich nach Gebäck. Mist, so schnell konnte man sich an einen gut funktionierenden Haushalt mit eigenen Koch und Chefeinkäufer gewöhnen. Nicht eine armselige Schnitte Brot befand sich im Brotkasten, von Brötchen oder Baguette ganz zu schweigen. Da hatte Lanzerath mit all seiner Verfressenheit mal wieder ganze Arbeit geleistet.

Mit einer dampfenden Tasse Kaffee in der Linken und meiner obligatorischen Moods im Mundwinkel berichtete ich Lena von den Geschehnissen. Die Anwesenheit von Sylvia unterschlug ich dabei wohlweislich. Man soll schließlich keine schlafenden Hunde wecken. Ein fataler Fehler, wie sich bald herausstellte, denn der schlafende Hund tauchte kurz darauf nur im T-Shirt und zudem auch noch mit ziemlich verwuschelten Haaren bei uns in der Küche auf.

Sylvia fing sich als Erste. Lenas Rollstuhl schien sie dabei nicht im Geringsten zu überraschen.

»'n Morgen, Frau zu Ahrenfels.«

Gleichzeitig versuchte sie vergeblich, das T-Shirt, das ich ihr für die Nacht überlassen hatte, möglichst weit über gewisse Schamhaftigkeiten zu zerren. Bei einer Körpergröße von knapp einem Meter achtzig jedoch ein hoffnungsloses Unterfangen. Das fadenscheinige Hemdchen mit dem Aufdruck 'Sex'n Drugs, no Rock'n Roll', das ich vor etlichen Jahren anlässlich eines Mallorca-Urlaubs für eine Handvoll Peseten erworben hatte, bedeckte kaum ihren Po, geschweige denn den Tanga-Slip mit dem lustigen Bärchen-Motiv. Ich versank beinahe vor Verlegenheit in meinen Sessel.

Lena zu Ahrenfels tat so, als müsse sie angestrengt über etwas nachdenken.

»Sind Sie nicht die Lokalreporterin vom Grafensteiner Tageblatt? Dann geht der Leitartikel in der heutigen Ausgabe wohl auf Ihr Konto, oder irre ich mich?«

Anschließend warf sie mir einen vielsagenden Blick zu.

»Ach, und dann hat die junge Dame auch gleich bei dir übernachtet?«

»Das ist nicht so, wie Sie vielleicht denken«, erwiderte Sylvia.

Der blödeste Spruch aller Ertappten seit Noahs Flucht mit der Arche. Als Journalistin und studierte Politologin hätte ihr wirklich was Besseres einfallen können. So jedenfalls wurde die nicht mal Praktikantin im Oval Office, geschweige denn persönliche Referentin irgendeines deutschen Ministers.

Lenas Augen verzogen sich zu schmalen Schlitzen.

»Was denke ich denn?«

Ich seufzte.

»Ehe es hier zum Zickenkrieg kommt: Frau Roth, ich meine Sylvia, hat mich vom Krankenhaus aus hierher begleitet, weil wir uns um den verletzten Caddy kümmern mussten. Den konnten wir schließlich nicht sich selbst...«

»Wer zum Teufel ist Caddy?«

Sylvia nahm mir das Wort aus dem Mund.

»Abdelkader Moutussi, der Ladenbesitzer, den man gestern Abend kurz nach Geschäftsschluss in seinem Laden überfallen und zusammengeschlagen hat. Falls Sie meinen Artikel zu Ende gelesen haben, müssten Sie das eigentlich wissen. Ich kam zufällig hinzu, als Hagen in der Klinik auf dessen Entlassung wartete.«

Lenas Augen blieben weiterhin schmal. Bisher überzeugte sie die Erklärung offenbar nicht die Spur.

»Zufällig, sagen Sie? Also, Zufälle gibt's!«

»Ich bin schließlich Journalistin, Frau zu Ahrenfels«, meckerte Sylvia.

»Und dann schreiben Sie für solch ein Käseblatt?«

Genauso muss im siebzehnten Jahrhundert eine Befragung durch die spanische Inquisition ausgesehen haben. Nur ohne Streckbank und Eiserne Jungfrau. Andererseits, wer wusste schon, was sich in den gräflichen Gewölben zwischen irgendwelchem verstaubtem Gerümpel unter Umständen alles verbarg.

»Dieser Caddy befindet sich immer noch hier?«

»Hmm«, antwortete ich.

»Und anschließend tauchten diese Strolche bei euch auf?«

Sylvia und ich nickten mit dem Kopf.

»Und die haben dann in der Gegend herumgeballert?«

Unsere Köpfe nickten im Takt eines zu schnell eingestellten Metronoms.

»Und das soll ich euch glauben?«

Ich seufzte erneut.

»Wenn wir es dir doch sagen. Im übrigen steht es exakt so in Sylvias Zeitungsartikel. Wenn du Glück hast, wirst du gleich den Aufmarsch der Sturmtruppen miterleben. Ich denke, es ist nur noch eine Frage der Zeit, ehe hier Kriminalpolizei und Spurensicherung anrücken. So häufig kommen bei uns im Landkreis Schießereien nun auch wieder nicht vor.«

Lena schaute mich scharf an.

»Lenk nicht ab! Warum ist Frau Roth anschließend bei dir auf dem Weingut geblieben?«

Sylvia baute sich trotz ihres kurzen Hemdchens demonstrativ vor ihr auf.

»Sie sollten sich bei der Kripo bewerben, Frau zu Ahrenfels. Oder Jura studieren und Staatsanwältin werden. Ist das hier ein Verhör, oder was? Ich hatte Angst. Eine Scheißangst. Aber wie ich Sie einschätze, wären Sie nach solch einem Vorfall bestimmt liebend gerne mutterseelenallein durch die Gegend gefahren.«

»Was lässt Sie daran zweifeln, dass ich kein juristisches Staatsexamen habe?« erwiderte Lena schnippisch. Doch mit einem Mal huschte ein entwaffnend freundliches Lächeln über ihr Gesicht.

»Sie sollten sich jetzt besser etwas überstreifen, sonst holen Sie sich noch den Tod. Sollten die Beamten der Kripo tatsächlich noch auftauchen, wie Hagen vermutet, macht es bestimmt auch einen besseren Eindruck.«

Nachdem Sylvia im Bad verschwunden war, schenkte Lena auch mir wieder ein Lächeln. In ihrer Stimme klang allerdings sehr deutlicher Tadel mit.

»Man kann dich wirklich keinen Moment alleine lassen. Mord, Totschlag und Schießereien. Nicht zu vergessen, halbnackte Frauen. Da muss man ja zwangsläufig auf andere Gedanken kommen.«

 

~~~~~~~

 

Die schwere Limousine fuhr langsam vom Parkplatz. Nach einem Druck auf den Schalter am Lenkrad leuchtete das Display auf. Es dauerte nur einen kurzen Augenblick, ehe die Mobilfunkverbindung zustande kam.

»Dr. Steiner, bitte.«

»Bedaure, aber der ist nicht im Haus.«

Die Stimme am anderen Ende ließ sich nicht beirren.

»Dann versuchen Sie es unter Neun-vier-zwei-eins.«

Für einen kurzen Augenblick blieb es stumm in der Leitung.

»Neuner«, meldete sich eine weibliche Stimme.

»Laurin lässt grüßen.«

»Moment, bleiben Sie in der Leitung.«

Es dauerte einen Augenblick, ehe sie sich wieder meldete.

»Er ruft zurück.«

Die kurz darauf eingeblendete Telefonnummer deutete auf ein Handy mit Prepaid-Karte hin.

»Laurin?«

»Wer sonst?«

»Was kann ich für Sie tun?«

»Es geht um die leidige Angelegenheit in Grafenstein. Langsam wird die Sache unübersichtlich. Ich habe Ihnen ein paar Anweisungen gemailt. Veranlassen Sie das Erforderliche.«

Am anderen Ende der Leitung trat für einen kurzen Moment Stille ein.

»Sind Sie sicher?« Der Zweifel, der in der Stimme mitschwang, war unüberhörbar.

»Hätte ich sonst angerufen?«

»Haben wir freie Hand?«

»Selbstverständlich, aber passen Sie auf, dass diesmal nichts schief geht.«

»In Ordnung, ich kümmere mich darum. Koslowsky wird das erledigen.«

»Keine Einwände.«

Mit einem erneuten Druck auf den Lenkradschalter wurde das Gespräch unterbrochen.

 

~~~~~~~

 

Ich war gerade dabei, mich selbst ein wenig frisch zu machen, als draußen im Hof der Kies nur so durch die Gegend spritzte. Neugierig ging ich zur Tür. Breitenbach war nicht alleine gekommen. In seinem Gefolge befanden sich drei weitere Fahrzeuge. Zwei davon kannte ich. Den Passat der Trierer Staatsanwaltschaft und Hasso Schäfers Porsche, aus dessen Beifahrersitz sich in diesem Moment dessen Adlatus Kroppke schälte. Bei dem dritten Wagen handelte es sich um einen silbergrauen Audi R8. Das unangefochtene Spitzenteil aus der Ingolstädter Fahrzeugschmiede. Gegen den wirkte Schäfers luftgekühlter Zweisitzer aus dem Schwabenländle wie ein Golf GTI, der sich versehentlich nach Le Mans verirrt hatte.

Ich musste zweimal hinsehen. Hinter dem Lenkrad dieser Straßenrakete krabbelte Lydia Sartorius hervor und zerrte dabei gleichzeitig einen Alukoffer vom Beifahrersitz. Wenige Augenblicke später schritten drei Männer und zwei Frauen auf meine Eingangstür zu. Ich kam mir vor wie in einem schlechten Remake von Die glorreichen Sieben. Denn neben mir lehnte die Lokalreporterin vom Grafensteiner Tageblatt im Türrahmen.

»Was kann ich für Sie tun?« fragte ich sicherheitshalber, obwohl ich ahnte, warum das halbe Polizeipräsidium bei mir auftauchte.

 

»Guten Morgen, Herr Brenner«, eröffnete Stefanie Michels den Schlagabtausch.

Die junge Staatsanwältin sah müde und abgespannt aus. Anscheinend bekam sie in letzter Zeit genauso wenig Schlaf wie ich. Mir fiel auf, dass sie immer noch denselben Hosenanzug trug wie am vergangenen Tag, und der gehörte auch längst mal wieder von erfahrener Hand aufgebügelt. Im Gegensatz zu ihr wirkte die Chefin der Trierer Kriminaltechnik geradezu wie frisch aus dem Ei gepellt. In ihrem knappen Kostüm sah sie echt zum Anbeißen aus. Zudem umspielte ein verheißungsvolles Lächeln ihre sinnlichen Lippen. Wider Willen musste ich heftig schlucken. Wahrscheinlich hatte sie diese Nacht ausgiebigen Sex gehabt. Im Gegensatz zu dir, du Idiot! Nein, du musstest ja unbedingt auf dem Schreibtisch im Büro kampieren und von unnahbaren Frauen träumen. Wie sagt der Volksmund? Sieh, das Gute liegt so nah. Im wahrsten Sinne des Wortes.

»Sie können sich sicherlich vorstellen, warum wir Ihnen einen Besuch abstatten. Es geht um die Schießerei vergangene Nacht.«

Stefanie Michels Augen verzogen sich für einen kurzen Augenblick zu schmalen Schlitzen.

»Leider zeigten Sie sich den beiden Streifenbeamten gegenüber wenig kooperativ, was ich persönlich sehr bedauere. Aber was soll's, dafür bin ich ja jetzt hier.«

Sie zog die Hand hinter ihrem Rücken hervor und hielt mir einen blaßrosa Wisch entgegen. Ich wusste auch so, um was es sich dabei handelte.

»Hier der Durchsuchungsbeschluss. Würden Sie uns jetzt bitte ins Haus lassen und mir als erstes Ihre Waffe aushändigen?«

Sie deutete auf die Frau neben mir.

»Darf ich erfahren, wer Sie sind?«

Sylvia stellte sich als Mitarbeiterin der örtlichen Zeitungsredaktion vor. Lydia musterte die Frau von oben bis unten und warf mir anschließend einen ziemlich skeptischen Blick zu. Zum zweiten Mal an diesem Morgen wollte ich im Boden versinken. Hervorragende Leistung, Brenner! Punktlandung! In diesem Leben brauchst du bei der jedenfalls nicht mehr um ihre Hand anzuhalten. Mann, wie viel Pech konnte einer alleine eigentlich haben?

»Ah, die Reporterin vom Grafensteiner Tageblatt«, nickte die Staatsanwältin. »Habe Ihren Zeitungsartikel beim Frühstück überflogen. Dann sind Sie also die Zeugin? Herr Kroppke!«

Kroppke stürmte an ihr vorbei, schnappte sich Sylvia und zerrte sie gleich hinter sich her. Keine zwei Augenblicke später begann er auch schon mit der Zeugenvernehmung.

»Wo hat sich der Schusswechsel ereignet?«, fragte mich die Chefin der Spurensicherung.

Ich führte die Truppe hinters Haus. Breitenbach und sein Kollege nahmen derweil vor der Eingangstür breitbeinig Stellung auf. So ein Wichtigtuer! Was erwartete der Kerl? Dass wir vielleicht türmten?

 

Lydia nahm ein paar Instrumente aus ihrem Metallkoffer und begann die Hauswand abzusuchen. Bereits nach kurzer Zeit wurde sie fündig. Nach kurzer Bohrerei in der Holzfassade hielt sie eine Pistolenkugen in Händen, die sie mit hochgezogenen Augenbrauen demonstrativ in einen Plastikbeutel gleiten ließ. Genauso wie bei Rizzoli und Isles, meiner Lieblingsserie im Free-TV. Nur dass Lydia Sartorius um Klassen besser aussah als Sasha Alexander.

»Können Sie mir schon etwas über das Kaliber sagen?« fragte die Staatsanwältin.

»7,65 mm«, kam es wie aus der Pistole geschossen.

Als sie die enttäuschten Gesichter der Anderen bemerkte, zuckte sie die Schultern.

»7,65 mm, ohne Frage. Keinesfalls identisch mit der Waffe, mit der auf die Frau im Yachthafen geschossen wurde.«

Stefanie Michels machte auf dem Absatz kehrt.

»Macht nichts. Aber Sie, Herr Brenner, zeigen mir jetzt bitte die Waffe, mit der Sie gestern Abend angeblich die Einbecher verscheucht haben wollen.«

Während wir zum Haus zurückgingen, schaute sie mich ganz kurz von der Seite an.

»Nach Ihrem Waffenschein muss ich Sie als ehemaligen Kriminalbeamten ja wohl nicht fragen.«

»Ach, hören Sie schon auf«, brummte ich. »Als ob Sie das nicht vorher nachgeprüft hätten.«

»Stimmt, sonst trügen Sie längst Handschellen.«

Ich öffnete den Tresor und zog die Waffe unter meinen Geschäftsunterlagen hervor. Lydia nahm sie in die Hand, ließ das Magazin herausgleiten und zog eine der noch übrig gebliebenen Patronen heraus.

»Bingo! Neunmillimeter Parabellum.«

Nun war es Schäfer, der sich vor mir aufbaute.

»Sagen Sie, Herr Brenner, wo genau haben Sie sich zwischen Mittwochabend und Donnerstag in der Frühe aufgehalten?«

Unwillkürlich zog ich die Stirn in Falten.

»Das habe ich doch längst zu Protokoll gegeben. Ich dachte, Sie wären wegen der beiden Spaßvögel von letzter Nacht hier.«

 

Ehe Schäfer antworten konnte, schwang die Küchentüre auf. Lena zu Ahrenfels rollerte in mein Büro. Stefanie Michels zog die Stirn in Falten.

»Und wer ist diese junge Dame?«

Lenas Stimme nahm aristokratische Herablassung an.

»Dr. Lena-Maria Anastasia Gräfin zu Ahrenfels-Lauendorff, der Rechtsbeistand von Herrn Brenner.«

Ich fragte mich schon gar nicht mehr, in wievielen falschen Kinovorstellungen man eigentlich noch sitzen konnte. Daran hatte ich mich langsam gewöhnt. Aber wer um alles in der Welt taufte die eigene Tochter denn noch ernsthaft auf den Namen Anastasia? Der gestrige Abend bei Miss Sophie fiel mir wieder ein. Dann war Lena tatsächlich Juristin?

»Nennen Sie mich einfach Lena zu Ahrenfels. Das reicht. Auf die Gräfin und meinen Doktortitel lege ich keinen gesteigerten Wert.«

»Und Sie vertreten Herrn Brenner?« wunderte sich Stefanie Michels. »Interessant, dass er sich schon vorab eine Rechtsanwältin besorgt, wo er doch angeblich unschuldig zu sein vorgibt.«

Der Ton in Lenas Stimme wurde eisig. Dagegen war das Gletschergrün in den Augen der Staatsanwältin ein lauwarmer Sommerregen. Ich sag's ja immer: Zickenkrieg, wohin man sieht.

»Wenn ich den Vorfall gestern Abend bei Frau Berrenrath und Ihr heutiges Auftreten genau betrachte, so haben meine Mandanten wohl genau das Richtige getan. Stimmt's, Hagen?«

»Ach, Sie kennen sich?«

Lena-Maria Gräfin von Was-weiß-ich-was hob aristokratisch-indigniert die Braue ihres rechten Auges.

»Flüchtig. Aber ich wüsste nicht, was Sie das angeht.«

Die Staatsanwältin seufzte.

»Da mögen Sie recht haben. Ich wäre dennoch dankbar, wenn Ihr Mandant die Frage des Herrn Kriminalhauptkommissars beantworten würde.«

Lena warf mir einen fragenden Blick zu. Ich nickte ergeben.

»Mein Mandant ist bereit.« Lenas Stimme troff geradezu vor Sarkasmus.

 

Ich schaute an dem Porschefuzzi vorbei und der Staatsanwältin geradewegs in die Augen. Was sollte mir schon passieren? Ich hatte ja schließlich nichts verbrochen.

»Nachmittags war ich bei Rektor Weisz in der Schule. Er hatte mich gebeten, wegen der Bilder auf dem Schulrechner vorbeizukommen. Sie waren übrigens bei der Unterhaltung dabei. Anschließend bin ich noch auf einen Sprung in Ballensiefens Yachthafen-Restaurant vorbeigefahren. Da mein Mittagessen allerdings bereits dem Mülleimer zum Opfer gefallen war, blieb ich nur auf ein Wasser und fuhr anschließend heim. Dort fand am Abend ein ausgedehntes Dinner statt. Mein Onkel ist ein begnadeter Koch, müssen Sie wissen.«

»Gibt's dafür Zeugen?«

»Klar. Lothar Lanzerath, seines Zeichens Bestattungsunternehmer in Grafenstein, wie gesagt mein Onkel, mein Kellermeister, meine Bürokraft und natürlich Miss Sophie.«

»Natürlich«, frotzelte Stefanie Michels. »Die alte Dame scheint ja überall dabei zu sein, wo was los ist.«

»Und für die Zeit davor?« ließ Schäfer nicht locker.

Ich schaute ihn erstaunt an.

»Das sagte ich bereits. Ich war in Ballensiefens Yachthafen-Restaurant.«

»Der kann Sie aber nicht gesehen haben, denn der hatte einen wichtigen Termin, wie er uns glaubhaft versichern konnte.«

Ich überlegte.

»Richtig. Ballensiefen und ich sahen uns zuletzt beim Mittagessen, kurz bevor ich zu Herrn Weisz gerufen wurde. Hinterher wurde ich von den beiden Rumäninnen bedient.«

Schäfer horchte auf.

»Welche Rumäninnen? Etwa die beiden Nutten? Die Ionescu und die Dumitrescu?«

»So viele rumänische Servierkräfte wird es in Grafenstein nun auch wieder nicht geben.«

»Schwaches Alibi, mein Lieber. Die beiden Damen sind, wie Sie vielleicht wissen, untergetaucht und inzwischen zur Fahndung ausgeschrieben.«

Lena schien auf dieses Stichwort gewartet zu haben.

»Wieso eigentlich Alibi? Ein Alibi braucht nur ein Verdächtiger. Wessen wird mein Mandant eigentlich verdächtigt? Ich war bislang davon ausgegangen, Ihr Besuch dient der Aufklärung der Schießerei von vergangener Nacht.«

 

Schäfer machte eine wegwerfende Handbewegung.

»Lassen wir mal die Spitzfindigkeiten beiseite, Lady. Ob sich die Schießerei überhaupt so zugetragen hat, wie behauptet, wird sich noch herausstellen. Uns geht es in erster Linie um zwei Dinge. Erstens eine nicht angemeldete Waffe im Hause Ihres Mandanten. Eine Waffe desselben Kalibers, mit der sowohl die Frau vom Yachthafen als auch eine weitere Person in Dessau erschossen worden ist. Das ergaben die ballistischen Untersuchungen. Und das führt mich zweitens zu der Frage, wo genau sich Ihr Mandant zur fraglichen Zeit aufhielt. Und da weist die Darstellung von Herrn Brenner jedenfalls erhebliche Lücken auf. Zudem hätte ich gerne erfahren, ob Ihr Mandant vor etwa zwei Wochen in Dessau war.«

Ich runzelte die Stirn.

»Was zum Teufel hätte ich denn ausgerechnet in Dessau zu suchen gehabt? Wo ist das überhaupt?«

Schäfer zuckte die Schultern.

»Sagen Sie's mir.«

Ehe ich antworten konnte, trat Lydia hinzu. Sie hielt die Walther in der Linken und in der rechten Hand eine Handvoll Patronen. Lydia beugte sich kurz zu Stefanie Michels hinab und flüsterte ihr etwas ins Ohr. Die Staatsanwältin verzog keine Miene.

»Wieviel Schuss haben Sie gestern Nacht abgefeuert?«

Ich brauchte nicht lange zu überlegen.

»Die ersten beiden Schüsse galten meinem Angreifer. Eine Kugel könnte ihn getroffen haben. Jedenfalls vernahm ich einen Aufschrei. Mit einem weiteren Schuss habe ich dafür gesorgt, dass der andere Angreifer von Sylvia abließ, und als die beiden Ganoven endlich Fersengeld gaben, habe ich zur Sicherheit nochmal in die Luft geschossen.«

Stefanie Michels wandte sich an die Zeitungsreporterin, die der Diskussion bis dahin nur schweigend gefolgt war.

»Sie waren dabei, Frau Roth. Können Sie die Aussage von Herrn Brenner bestätigen?«

Sylvia nickte.

»Ja, ich denke, das stimmt. Ich kann mich auch an vier Schüsse erinnern.«

Die Staatsanwältin wandte sich erneut an mich.

»Verraten Sie mir bitte, wer sonst noch so alles Zugang zu Ihrem Tresor hat.«

Die Antwort fiel mir leicht.

»Niemand.«

»Auch Ihre Mitarbeiter nicht?«

»Auf gar keinen Fall.«

»Damit wäre die Angelegenheit wohl geklärt, nicht wahr?« meinte Lena mit Blick auf Lydias Hand.

Die Staatsanwältin schüttelte den Kopf.

»Leider nein, denn die vier Patronen aus der Waffe Ihres Mandanten beweisen erst einmal gar nichts. Machen wir uns nichts vor, ein Magazin lässt sich schließlich nachladen. Wie der Herr Kriminalhauptkommissar bereits andeutete, haben wir es mit zwei Opfern zu tun, die beide mit ein und derselben Waffe erschossen wurden. Ihr Mandant besitzt eine nicht registrierte Neunmillimeter, für den Tatzeitraum im Fall Grafenstein jedoch kein hieb- und stichfestes Alibi. Selbst nach dem ausgedehnten Abendessen im Kreise seiner Bekannten hätte er Zeit genug gehabt, zurück in den Ort zu fahren und dort die Frau umzubringen. Und ob er nicht vielleicht doch unlängst in Dessau war, wird unsere weiteren Ermittlungen zeigen.«

 

»Wer soll dort eigentlich erschossen worden sein?« fragte Lena.

»Ein gewisser Dr. Jochen Kohn, Facharzt in einer Gemeinschaftspraxis.«

Lena warf mir einen fragenden Blick zu. Ich zuckte die Schultern. Mein unerwarteter Rechtsbeistand brach daraufhin in schallendes Gelächter aus.

»Aber sonst sind Sie noch bei Trost, ja? Welches Motiv sollte mein Mandant denn haben? Er kannte Frau Leinfeld überhaupt nicht. Auch Ihnen dürfte nicht entgangen sein, dass die Dame erst kurz vor ihrem gewaltsamen Tod in Grafenstein eingetroffen ist. Wie hätten die Beiden sich in solch kurzer Zeit überhaupt näher kennenlernen sollen? Eine frühere Bekanntschaft ist ebenfalls auszuschließen. Frau Leinfeld lebte die vergangenen fünfzehn Jahre in Belgien, mein Mandant hingegen überwiegend in Bochum. Und in Dessau ist mein Mandant noch nie in seinem Leben gewesen. Ein Dr. Kohn ist ihm ebenfalls gänzlich unbekannt. Merken Sie eigentlich nicht, in was Sie sich da verrennen? Sie suchen vermutlich nur einen Tatverdächtigen, und dabei scheint Ihnen jedes Mittel recht.«

»Im übrigen«, und diesen Nachsatz ließ sie sich geradezu genüsslich auf der Zunge zergehen, »ist überhaupt nicht bewiesen, dass es sich bei der Waffe von Herrn Brenner und der, mit der die Frau im Yachthafen und die andere Person umgebracht worden sind, um ein und dieselbe Pistole handelt. Oder kann die Kriminaltechnik in Trier neuerdings hellsehen?«

Stefanie Michels blieb kalt wie ein Eisblock. Jedenfalls tat sie so.

»Mal ganz am Rande: Eine Anwaltskanzlei Ahrenfels ist mir in Trier und Umgebung nicht bekannt. Würden Sie mir freundlicherweise Ihre Karte geben oder sich sonst irgendwie legitimieren?«

»Aber gerne doch«, fauchte Lena und zog ihr Smartphone aus der Handtasche.

Nach kurzem Herumfingern hielt sie es triumphierend in die Höhe. Auf dem Bildschirm war ein kryptisches Gekrickel in Quadratform zu erkennen.

»Und was soll ich damit?« fragte die Staatsanwältin verblüfft.

Lydia tippte ihr auf die Schulter.

»Das ist ein QR-Code. Ein sogenannter Quick-Response- oder auch zweidimensionaler Barcode. Ich zeige Ihnen, wie man damit umgeht.«

Sie zückte ihr eigenes Mobiltelefon, tippte ein paarmal auf der Oberfläche herum und scannte dann den Barcode mit der eingebauten Smartphonekamera ab. Sekunden später erschien die Visitenkarte der Anwältin im Klartext auf ihrem Bildschirm.

»Ich will es Ihnen aber nicht unnötig schwer machen«, meinte Lena und zog aus der Reverstasche ihres Jacketts ein Papierkärtchen hervor. Mehr Verachtung ging eigentlich überhaupt nicht mehr.

»Hier meine Visitenkarte in SZF.«

»SZF?« fragte Lydia verwundert.

»Steinzeitformat.«

 

Stefanie Michels wusste inzwischen nicht mehr, ob sie lachen oder weinen sollte. Bei ihr im Büro stapelten sich die Ermittlungsakten, doch die Schwarze Mamba hatte ausdrücklich darauf bestanden, dass sie den Einsatz auf dem Weingut leitete. Und jetzt das. Es war zum Heulen!

»Sie arbeiten bei Steinheuer Lanzmann Partner?«

Ausgerechnet diese Burschen aus Frankfurt, die in den letzten Jahren kaum einmal einen Prozess verloren hatten. Der Schrecken aller Staatsanwälte, Politiker und Konkursverwalter.

»Nein.«

Stefanie Michels Augen wurden groß.

»Wie jetzt?«

Lena lächelte indigniert.

»Die Sozietät gehört zur Holding meiner Mutter, Brunhild Gräfin zu Ahrenfels. Eine Hinterlassenschaft meines allzu früh verstorbenen Vaters.«

Gleichzeitig wischte sie sich mit dem Knöchel des rechten Zeigefingers eine imaginäre Träne aus dem Augenwinkel. Ich war ja mit dem üblichen Gehabe von Juristen nicht sonderlich vertraut, aber jetzt übertrieb sie wirklich ein bisschen.

»Ich schaue in Frankfurt nur ab und zu mal vorbei und picke mir hin und wieder interessante Fälle heraus«, fügte sie schnippisch hinzu.

Stefanie Michels räusperte sich.

»Wie dem auch sei, ich denke, wir nehmen Herrn Brenner jetzt erst mal mit nach Trier zu einer ausführlichen Vernehmung. Herr Brenner, ich nehme Sie vorläufig fest wegen unerlaubtem Waffenbesitz, Körperverletzung zum Nachteil einer bislang noch unbekannten Person sowie des Verdachts der Tötung von Erna Leinfeld und Dr. Jochen Kohn. Nach den üblichen erkennungsdienstlichen Maßnahmen werde ich Sie anschließend dem Untersuchungsrichter vorführen.«

Ich darf betonen, dass ich die Staatsanwältin in diesem Augenblick nicht gerade anschaute, als wäre sie die Lottoglücksfee.

»Das ist nicht Ihr Ernst!«

»Das ist mein voller Ernst.«

Ich drehte mich zu Lena um.

»Was sagst du dazu?«

Lenas Miene besaß inzwischen die Wärme von flüssigem Stickstoff.

»Mit welcher Begründung wollen Sie Untersuchungshaft anordnen lassen?« fragte sie die Staatsanwältin.

»Flucht- und Verdunklungsgefahr.«

Ehe Lena etwas erwidern konnte, meldete sich das Smartphone der Staatsanwältin. Stirnrunzelnd fischte sie es aus ihrer Jackentasche.

»Entschuldigen Sie mich einen Augenblick.«

Schon ein flüchtiger Blick auf das Display verriet ihr, wer sie zu erreichen versuchte.

»Sind Sie noch oben beim Brenner? Was haben Sie inzwischen erreicht?«

Die junge Staatsanwältin verschwand für einen kurzen Augenblick nach draußen und berichtete.

»Unternehmen Sie nichts. Ich bin gleich bei Ihnen.«

Frustriert und wütend zugleich kehrte sie schließlich in mein Büro zurück. Das durfte doch alles nicht wahr sein. Da riss sie sich seit Tagen förmlich den A...llerwertesten auf, und nun brachte diese schwarzhaarige Kräuterhexe im entscheidenden Moment alles durcheinander.

»Schlechte Nachrichten?« feixte Lena.

Stefanie Michels warf der Frau im Rollstuhl einen vernichtenden Blick zu. Viel hätte nicht gefehlt, und sie hätte Lena die Luft aus den Reifen gelassen.

»Wie kommen Sie darauf?«

»Sie schauen so sorgenvoll.«

»Machen Sie sich um meinen Gemütszustand mal keine unnötigen Gedanken.«

Jemand stolperte die Treppe hinunter. Nanu, dachte ich noch bei mir. Karl und Robespierre waren doch unterwegs.

 

Auftritt Hohepriester Imhotep. Jedenfalls das, was von ihm noch übrig geblieben war. Caddy hatte beim Hinabsteigen bereits damit angefangen, sich einen Teil seiner Mullverbände vom Gesicht zu zerren. Inzwischen wirkte er wie eine halb ausgewickelte Mumie.

»Wer ist das denn?« wollte die Staatsanwältin wissen.

»Was'n hier los?« nuschelte die Mullbindengestalt. »Sch'ab nix gemacht. Ich schwör!«

Ich seufzte.

»Darf ich vorstellen? Abdelkader Moutussi, Inhaber des Ladenlokals, das gestern Abend von zwei Unbekannten heimgesucht wurde. Herr Moutussi ist ein guter Freund des Hauses, und ich habe ihm Unterschlupf gewährt.«

Axel Schäfers Stirn verzog sich in Falten. Gleichzeitig griff seine Hand in den Hüftbereich. Vermutlich tastete er dort vorsorglich nach seinen Handschellen.

»Unterschlupf? Aus welchem Grund?«

»Angesichts der Tatsache, dass man die Täter noch nicht hat dingfest machen können, hielt ich es für sinnvoller, ihn bis auf weiteres bei mir unterzubringen.«

»Sie sind ja ein richtiger Gutmensch«, schnaufte Schäfer. »Aber das trifft sich gut. Kroppke!«

Der Kriminalhauptmeister tauchte wie ein Schachtelteufelchen aus der Versenkung auf.

»Vernehmen. Name, Anschrift, wohnhaft, geboren, wann, wieso. Das übliche Programm. Und machen Sie rasch. Wir haben nicht ewig Zeit.«

 

Kurze Zeit später fuhr eine weitere Limousine bei uns vor. Ein Chrysler 300. Ich spitzte die Lippen und nickte andächtig. Bei der Staatsanwaltschaft schien man ja ordentlich zu verdienen. Inzwischen glich mein Parkplatz dem Genfer Autosalon. Porsche, Audi, Mercedes, Chrysler. Ach ja, nicht zu vergessen der Passat von Frau Michels und natürlich mein Unimog, das Flaggschiff aus der Abteilung Oldtimer.

Dem Chrysler entstieg eine Mittfünfzigerin mit pechschwarzem Lockenkopf, der schon lange mal wieder in die Hand eines erfahrenen Coiffeurs gehört hätte. Die Frau trug ein streng geschnittenes Kostüm und elegante Halbschuhe. Stefanie Michels, die mir nach draußen gefolgt war, glaubte ihren Augen nicht zu trauen. Sie musste ernsthaft überlegen, wann sie die Schwarze Mamba das letzte Mal hatte lächeln sehen.

»Hagen Brenner. Sieh an, so trifft man sich wieder«

Mich haute es beinahe genauso aus den Pantinen. Aber aus einem ganz anderen Grund.

»Sabine Breuer? Was zum Henker machen Sie denn hier?«

Auch Stefanie Michels verstand die Welt nicht mehr.

»Sie kennen sich?«

Die Schwarzgelockte streckte mir die Hand entgegen. Anschließend huschte ein ironisches Grinsen über ihre ein wenig zu grell geschminkten Lippen.

»Hauptkommissar Hagen Brenner, ehemaliger Ermittler bei der Staatsanwaltschaft Bochum, Spezialgebiet Steuerstrafsachen, suspendiert wegen angeblicher Korruption, in allen Anklagepunkten vom Oberlandesgericht freigesprochen, freiwillig aus dem Dienst geschieden.«

»Was ich als seine damalige Vorgesetzte übrigens sehr bedauert habe«, fügte sie würdevoll hinzu. »Ihr könnt euch alle ein Beispiel an ihm nehmen. Aber lassen wir das. Brenner, kommen Sie mit! Ich will was hören. Sie sind dran.«

 

Verblüfft und neugierig zugleich folgte ich meiner ehemaligen Chefin über den Parkplatz. Vom ersten Tag an hatte uns eine seltsame Freundschaft verbunden. Was der eigentliche Grund für ihre Zuneigung mir gegenüber war, hatte nie jemand bei uns in der Dienststelle herausfinden können. Ich am allerwenigsten. Böse Stimmen in Bochum behaupteten, die Breuerin hätte seit jeher ein latentes Faible für ledige Kollegen aus den Fahndungsabteilungen gehabt. Das sei angeblich der Grund, warum sie selbst nie geheiratet habe. In meinen Augen waren das alles üble Unterstellungen. Ich jedenfalls war nie gegen meinen Willen in irgendeine Besenkammer gezerrt worden.

»Was haben Sie denn jetzt schon wieder angestellt?« brummte sie versöhnlich. »Sie kann man wirklich keine fünf Minuten alleine lassen.«

»Ich habe überhaupt nichts angestellt«, beschwerte ich mich.

»Na, dann erzählen Sie mal, was Sie angeblich nicht angestellt haben.«

Wir erreichten die Bank, von wo aus man diesen grandiosen Blick über das Moseltal hatte. Ich reichte ihr eine von meinen Moods.

»Schön haben Sie es hier«, meinte sie und ließ sich Feuer reichen.

»Das meinte Ihre Mitarbeiterin letztens auch«, brummte ich.

Sabine drohte mir mit dem erhobenen Zeigefinger.

»Lassen Sie das Mädchen in Frieden. Die ist viel zu jung für Sie. Und jetzt heraus mit der Sprache.«

 

Als ich mit meinem Bericht fertig war, schüttelte die Schwarzgelockte den Kopf.

»Und dieser Moutussi steckt bei Ihnen?«

Ich nickte.

»Der war völlig groggy. Was hätte ich denn tun sollen? Den daheim abliefern und abwarten, dass ihm dort vielleicht irgendeiner den Rest gibt?«

»Sie glauben demnach auch, dass Schröders Leute dahinterstecken?«

Ich schaute sie verblüfft an.

»Wer sollte es sonst gewesen sein?«

»Und in Ihrem Fall?«

Ich überlegte einen kurzen Augenblick.

»Schwer zu sagen. Im ersten Moment dachte ich, es könnte sich um eine Racheaktion von Schröders Leuten handeln. Zumal ein paar von denen uns anscheinend bis zur Klinik gefolgt waren. Aber die beiden Typen von gestern Nacht trugen weder Kapuzenpullis noch Springerstiefel. Und überhaupt, ich selbst bin dem Schröder nie auf die Füße getreten. In meinen Augen war das war eine ganz andere Nummer. Aber fragen Sie mich bloß nicht, wer dahinterstecken könnte.«

»Haben Sie Feinde in Grafenstein? Leute, mit denen Sie Krach haben? Konkurrenten?«

Ich schüttelte den Kopf.

»Nicht, dass ich wüsste. Natürlich habe ich Mitbewerber. Auch ernsthafte Konkurrenten. Es gibt auch hin und wieder mal Streit, besonders wenn es um die Erntehelfer geht. Aber deshalb trachtet man sich doch nicht gegenseitig nach dem Leben. Es wäre auch ziemlich seltsam, dass so jemand ausgerechnet jetzt eine offene Rechnung mit mir begleichen müsste.«

Meine ehemalige Chefin nickte.

»Na, schön, aber ich kann der Michels nicht in die Parade fahren. Hoffen wir mal, dass es sich bei Ihrer Walther tatsächlich nicht um die Tatwaffe handelt.«

»Herrschaftszeiten, was wollt ihr eigentlich alle von mir? Nehmt von mir aus die Knarre mit und untersucht sie in aller Ruhe. Ich habe diese Frau aus dem Hafen nicht erschossen. Keiner von uns hat das getan. Dafür lege ich meine Hand ins Feuer.«

Meine ehemalige Vorgesetzte in Bochum schaute lange ins Moseltal hinab. Irgendwann drehte sie sich wieder zu mir herum. Ihr Blick wirkte ausdruckslos.

»Wie oft haben wir zwei Hübschen solche Sprüche schon gehört. Von wegen, ich war es nicht, Herr Kommissar. Ich schwöre es Ihnen! Glauben Sie mir doch, Frau Staatsanwältin! Ich bin unschuldig! Und zum Schluss waren sie es meist doch. Immer dasselbe. Die Leute lügen, dass sich die Balken biegen.«

Ich zuckte die Schultern.

»Tut mir leid, dann weiß ich auch nicht weiter.«

Sie drückte ihr Zigarillo aus.

»Kommen Sie, gehen wir zurück. Die kommen sonst noch auf dumme Gedanken.«

»Dumme Gedanken? Weshalb?«

»Dass wir hier vielleicht irgendeinen einen Deal aushandeln.«

»Was für einen Deal?«

»Na, sehen Sie.«

Kopfschüttelnd begleitete ich Sabine Breuer zurück in mein Büro.

 

»Wie sind Sie mit dem Tatverdächtigen verblieben?« fragte Stefanie Michels und versuchte dabei, ihre Frage nicht allzu provozierend klingen zu lassen.

Dr. Sabine Breuer sah ihre Mitarbeiterin mit gleichgültigem Gesichtsausdruck an.

»Ich bin mit Herrn Brenner überhaupt nicht verblieben, meine Liebe. Audiatur et altera pars. Ich wollte auch mal die Gegenseite hören. Vorschlag zur Güte: Sie lassen die Walther erst einmal von der Spusi gründlich untersuchen. Sollte es sich wider Erwarten um die Tatwaffe handeln, dann können Sie Brenner immer noch verhaften. Mit den dünnen Beweisen erscheinen Sie mir jedenfalls nicht beim Untersuchungsrichter. Machen wir uns doch nichts vor: Welchen Grund sollte Brenner haben, kurz hintereinander sowohl in Dessau als auch daheim in Grafenstein ausgerechnet zwei ihm völlig fremde Personen umzubringen?«

Über Lenas Gesicht huschte ein breites Grinsen.

»Und tschüss!«

Hätten Blicke töten können, Stefanie Michels wäre die nächsten fünfundzwanzig Jahre nicht mehr aus dem Knast heraus gekommen. Mit deutlich umwölkter Stirn wandte sie sich wieder an ihre Vorgesetzte.

»Dann entbinden Sie mich bitte von den laufenden Ermittlungen.«

 

Sabine Breuer zog ihre Untergebene in eine Ecke meines Büros, wo sie ungestört reden konnten.

»So schnell geben Sie auf, Schätzchen?«

»Ich darf doch bitten, Frau Oberstaatsanwältin. Ich bin gewiss nicht Ihr 'Schätzchen'.«

Sabine Breuer verzog keine Miene.

»Doch, sind Sie. Ich halte nämlich große Stücke auf Sie. Irgendwie erinnern Sie mich sogar ein bisschen an Brenner. Der konnte genauso schnell eingeschnappt sein, wenn ihm meine Entscheidungen nicht in den Kram passten. Nun machen Sie es uns doch nicht so schwer. Finden Sie heraus, ob es sich bei Brenners Pistole um die Tatwaffe handelt. Falls ja, dann habe ich mich das erste Mal in meinem Leben furchtbar in einem Menschen getäuscht. Sollte ich aber recht behalten, dann werden Sie mir noch auf Knien danken, dass ich sie vor dem Zorn des Ermittlungsrichters bewahrt habe.«

Verstohlen deutete sie auf die junge Frau im Rollstuhl.

»In wenig aussichtsreichen Fällen sollte man sich auch nicht gerade mit den stärksten Gegners anlegen. Glauben Sie mir, ich weiß, wovon ich rede. Die kleine Ahrenfels ist nicht zu unterschätzen. Ich erinnere mich an einen Fall vor dem Landgericht Mainz, wo die in einem Konkursverfahren den gegnerischen Anwalt dermaßen zusammengefaltet hat, dass der anschließend mit einem Tretroller nach Hause gefahren ist. Der war dermaßen geschrumpft, der hätte gar nicht mehr übers Lenkrad schauen können.«

Stefanie Michels schaute ihre Chefin nachdenklich an. So hatte sie ihre Vorgesetzte noch nie erlebt. Die alte Kräuterhexe konnte ja richtig fürsorglich sein.

»Na, schön«, meinte sie nach kurzem Überlegen. »Vielleicht haben Sie ja recht. Ich lasse mir die Sache noch mal durch den Kopf gehen.«

»Gute Idee«, nickte Dr. Breuer. »Wie sagt der Bayer? Schau'n mer mal, dann seh'n mer scho.«

 

Als die Trierer Beamtenschaft sich anschickte, mein Weingut zu verlassen, hielt ich die Chefin der Kriminaltechnik am Jackenärmel fest.

»Wissen Sie zufällig, wo sich Marianne aufhält?«

Lydia schaute mich erstaunt an.

»Bei mir daheim. Warum fragen Sie?«

Im selben Moment biss sie sich auf die Unterlippe.

»Bei Ihnen daheim? Was hat denn Marianne bei Ihnen verloren?«

Es war Lydia deutlich anzumerken, dass sie sich verplappert hatte.

»Wir, nun, wir wollten heute... Also, ich weiß nicht, ob Sie das überhaupt etwas angeht.«

Ich winkte großzügig ab.

»Was ihr Mädels in eurer Freizeit treibt, interessiert mich nicht die Spur. Aber ich muss Marianne dringend sprechen. Sie geht aber leider nicht an ihr Handy. Vermutlich weiß sie noch gar nicht, dass gestern Abend in ihre Wohnung eingebrochen wurde.«

Lydia starrte mich an, als hätte ich ihr gerade erklärt, dass sie bequem ein Dirndl ausfüllen könnte.

»Was ist passiert?«

»Wie ich schon sagte, bei Marianne...«

»Entschuldigen Sie mich.«

Lydia wirbelte auf dem Absatz herum und hetzte zu ihrem Sportwagen. Noch im Laufen zerrte sie ihr Smartphone hervor und hielt es sich ans Ohr. Als der Audi anschließend über den Parkplatz preschte, hatte ich das Gefühl, in einen mittleren Sandsturm geraten zu sein. Doch viel Zeit zum Grübeln blieb mir nicht. Im Türrahmen tauchten Lena und Sylvia auf. Sylvia winkte mir zu.

»Miss Sophie rief gerade an. Sie hat angeblich irgendwas herausgefunden und meint, du solltest unbedingt mal bei ihr vorbeischauen.«

Ich tippte Lena auf die Schulter.

»Vielen Dank für deine Hilfe. Ich weiß nicht, was ich ohne dich gemacht hätte.«

Lena schüttelte den Kopf.

»Oh nein, mein Lieber. So einfach kommst du diesmal nicht raus aus der Nummer.«

»Also, gut. Dann komm halt mit, wenn du magst. Am besten nehmen wir aber deinen Wagen. Der Unimog ist zu langsam, und mit dem Ein- und Aussteigen dürfte es für dich vermutlich auch ein bisschen schwierig werden.«

»Ich bin dann auch mal weg«, meinte Sylvia. »War eine lange Nacht, und in der Redaktion gibt es bestimmt noch das eine oder andere aufzuarbeiten.«

»Was mach ich solange?« meldete sich eine Stimme aus dem Off. Sie gehörte zu der halb ausgewickelten Mumie.

»Du hältst am besten die Stellung. Mach niemandem auf und lass gefälligst die Griffel vom Weinkühler.«

»Eh, 'sch bin Moslem, Alter!« beschwerte sich Caddy.

Ich zog das Lid meines rechten Auges herunter.

»Ja, ich weiß. Und katholische Priester sind kinderlos.«

 

 

 

 

Kapitel 13

 

 

»Was gibt's denn so Wichtiges?«

Gemeinsam mit Lena folgte ich Miss Sophie durch den Flur. Fast schon vermisste ich die anzüglichen Bemerkungen einer gewissen Wiener Hupfdohle.

»Wo steckt eigentlich dein Hausdrachen?«

»Nora? Die ist irgendwo in Trier unterwegs. Angeblich Einkäufe erledigen.«

»Angeblich?«

»Bei der weiß man das nie so genau. Letztens wollte sie nur beim Ballensiefen Tiefkühlkost besorgen. Und von woher, glaubst du, rief Sie mich spätabends an? Aus Saarbrücken. Und ich konnte dann zusehen, um kurz vor Zehn vom Pizza-Dienst noch eine halbwegs genießbare Calzone geliefert zu bekommen.«

Kurz darauf hockten wir in ihrem Wohnzimmer. Verblüfft schaute ich mich um. Von Käpt'n Sparrows Kajüte war kaum noch was zu sehen. Jedenfalls fehlten die Vorhänge, die künstlichen Bullaugen, die Modellschiffe, und sogar der Maschinentelegraph schien der allgemeinen Aufräumwut zum Oper gefallen zu sein. Der schwere Schreibtisch war ebenfalls verschwunden und hatte einem matt glänzenden Designerstück aus gebürstetem Aluminium und Plexiglas Platz gemacht. Auch die Kommode mit Barfach und dem elektronischen Equipment schien sich irgendwie in Luft aufgelöst zu haben. Anstelle dieses hölzernen Ungetüms nahm inzwischen eine weiß-grau lackierte Schrankwand aus diversen Einzelelementen ihren Platz ein. Mittendrin schwebte förmlich ihr neuer Fernseher. Ein Riesenteil mit knapp zwei Metern Bildschirmdiagonale. Im Augenblick lief ein Video mit Bildern aus dem Orbit. Vermutlich live von der internationalen Raumstation ISS. Käpt'n Sparrow schien ohne Vorwarnung auf der Enterprise angeheuert zu haben. Wenigstens gab es noch die bequemen Ohrensessel und das Kanapee. Ich mochte mir gar nicht vorstellen, wo man hier demnächst Platz nehmen musste. Vermutlich in schwebenden Kunststoffschalen.

»Mir wurde das schon seit langem alles ein bisschen zu eng und zu plüschig«, erklärte Sophia. »Im tiefen Grunde meines Herzens bin ich eigentlich Purist.«

Ich schaute mich demonstrativ um.

»Sowas nennst du puristisch? Ich nenne das eher Kulturrevolution.«

»Warte ab, bis alles komplett ist. Der Rest der Inneneinrichtung ist bereits unterwegs. Aber mal was anderes: Was darf ich euch anbieten?«

Lena schmunzelte.

»Ich nehme dasselbe wie du.«

Sophia nickte.

»Und du, Bub?«

Da ich nirgendwo die legendäre Espressomaschine entdecken konnte, entschied ich mich für ein stilles Wasser. Kopfschüttelnd ging sie auf die nagelneue Schrankwand zu und zückte dabei ihr Smartphone. Wie von Geisterhand schob sich eine der Schiebetüren zur Seite und gab den Blick auf eine reichlich bestückte Hausbar frei. Die HiFi-Anlage begann leise zu dudeln, wobei die LED-Innenbeleuchtung ihre Farbe im Takt der Musik änderte. Mit einem Mineralwasserfläschchen und dem legendären Holzkistchen unter dem Arm kehrte sie zurück.

Ich warf Lena einen fragenden Blick zu.

»Ist nur wegen der MS«, lächelte sie und griff ungeniert in die Schatulle. Demonstrativ verschränkte ich die Arme vor der Brust.

»Irgendeine Ausrede braucht man immer. Bei Sophia ist's angeblich die Arthritis.«

Die alte Dame warf mir einen strengen Blick zu.

»Wollen wir hier die neueste Ausgabe der Apothekenrundschau diskutieren, oder weshalb seid ihr gekommen?«

»Entschuldige, aber eigentlich hast du uns herbestellt.«

Miss Sophie tippte sich an die Stirn.

»Erste Anzeichen von Demenz. Wartet, ich hole das Notebook.«

Kurz darauf ließ die alte Dame die sprichwörtliche Katze aus dem Sack.

»Wir haben ein Problem. Genau genommen, zwei.«

 

Ich rechnete kurz nach. Die Tote im Yachthafen, zwei rumänischen Nutten, Axel Schröder, die Webseite von Gregor Weisz, dessen Bilder auf dem Schulrechner, die nächtlichen Überfälle auf Caddy und mich, Robespierre und natürlich Miss Sophies an fortwährendem Energienachschub leidender Elektro-Rollator. Bereits auf den ersten Blick fielen mir wesentlich mehr als nur zwei Probleme ein.

»Als da wären?«

Sophia reichte Lena Feuer und deutete auf den Rollstuhl.

»So schlimm?«

Lena lächelte matt.

»Halb so tragisch. Ich gewöhne mich langsam dran. Zuletzt konnte ich mich immer noch mit Krücken über die Runden helfen, aber diesmal ging gar nichts mehr.«

Sie warf mir einen sehnsüchtigen Blick zu.

»Tja, mit Disco und Tanzen wird das erst mal nichts.«

Die beiden Frauen nahmen beide einen tiefen Zug und stießen den Qualm anschließend gegen die Decke. Ich nippte derweil an meinem stillen Wässerchen. Sicher war sicher.

»Wie schon gesagt«, wiederholte die alte, »wir haben zwei Probleme. Gewisse Ungereimtheiten, über die ich im Zusammenhang mit der Toten vom Yachthafen gestolpert bin und die Umtriebe im Hause Balfelder.«

»Was für Ungereimtheiten?«

 

Sophia klappte den Deckel ihres Notebooks auf. Wenige Augenblicke erschien der Starbildschirm von Kali Linux. Oma Finchens bevorzugtes Hacker-Programm. Getreu dem Wahlspruch: Während andere noch nach ihrem Passwort suchten, war Sophia längst bei denen eingeloggt.

»Soweit wir alle wissen, hieß die Tote Erna Leinfeld. Gibst du diesen Begriff in irgendeine der gängigen Suchmaschinen ein, erhältst du lediglich Verweise auf die damalige Firma und das Lebenswerk eines gewissen Bernd Leinfeld. Um es kurz zu machen: Erna Leinfeld ist, beziehungsweise war Bernd Leinfelds Witwe.«

Lena rückte sich in ihrem Rollstuhl zurecht.

»Was ist so Besonderes an dem Verstorbenen?«

»Bernd Leinfeld führte bis Mitte der Neunzigerjahre einen mittelständischen Elektrokonzern in Hannover. Die Firma lief richtig gut. Es stand zur Diskussion, sie an die Börse zu bringen. Einige Banken hatten hierfür bereits grünes Licht gegeben.«

»Was hat denn dieser Bernd Leinfeld mit der Sache in Grafenstein zu tun? Ich denke, der ist tot.«

»Nur Geduld. Kurz nach der Wende lernte Leinfeld, der sich gerade von seiner ersten Frau getrennt hatte, eine gewisse Erna Kosinsky kennen. Erna Kosinsky war damals Mitte Ende Dreißig, eine, wie es heißt, durchaus attraktive Erscheinung und dazu noch eine Frau mit anscheinend nützlichen Verbindungen in den Osten.«

»In den Osten?« fragte ich. »Welcher Osten? Ostwestfalen, Ostdeutschland oder Osteuropa?«

Sophia lächelte milde.

»Such's dir aus. Jedenfalls war Lena Leinfeld geborene Kosinsky eine Frau mit außerordentlichen Fähigkeiten. Die Ehe schien nach allem, was man hört, glücklich, Kinder hatten die Beiden jedoch keine, also praktisch das Paradies auf Erden.«

»Aber dann«, prophezeite Lena.

»Richtig. Als es mit dem Börsengang zum Schwur kommen sollte, verunglückte Bernd Leinfeld auf tragische Weise. Während einer Bergwanderung in Südtirol verlor er in einem schwierigen Geländeabschnitt angeblich den Halt und stürzte vor den Augen seiner Frau in die Tiefe.«

»Schlimm«, murmelte ich. »Aber was hat das mit dem Hier und Jetzt zu tun?«

»Es gab keine Zeugen für den Unfall. Erna Leinfeld und ihr Mann waren alleine in den Bergen unterwegs. Hinzu kommt, dass Bernd Leinfelds Frau von Anfang gegen den Börsengang war. Anscheinend scheute sie das Licht der Öffentlichkeit. Und es gibt noch eine weitere Ungereimtheit: Sie erbte nämlich nur als Witwe, geschieden wäre sie leer ausgegangen. So stand es angeblich im Ehevertrag. Dieser Passus soll auch für den Börsengang maßgeblich gewesen sein.«

»Wie hast du denn das schon wieder herausgefunden?« wollte Lena wissen. »Ich habe auch ein bisschen im Internet recherchiert, bin aber nie über die paar wenige Hinweise zu Bernd Leinfelds Vita hinausgekommen.«

Sophia schmunzelte.

»Es existieren da gewisse Börseninformationsplattformen in London und New York. Ihr wisst ja: Das Internet vergisst nie. Normalerweise kommt man nach so langer Zeit auch kaum noch an Interna über einen abgesagten Börsengang beziehungsweise eine längst von einem südostasiatischen Konzern übernommene Firma heran. Oder versteht einer von euch etwa koreanisch?«

Ungeduldig wibbelte ich in meinem Sessel hin und her. Börsenlatein war nicht mein Ding. Mich interessierte einzig und allein der Mordfall.

»Komm endlich auf den Punkt, Sophia!«

Lena drückte ihren Joint im Aschenbecher aus. Dabei warf sie der alte Dame einen vielsagenden Blick zu. Sophia nahm noch einen tiefen Zug, ehe auch sie das Stäbchen im Aschenbecher versenkte.

»Bist du vielleicht ungeduldig. Aber du hast ja recht. Früher im Unterricht hätte ich zu meinen Schülern auch gesagt: 'Hör auf zu schwafeln und komm gefälligst auf den Punkt.' Nach dem tragischen Tod ihres Ehemannes verkaufte Erna Leinfeld jedenfalls gegen alle Widerstände des Vorstands, der Belegschaft und der Gewerkschaften die Firma. Sie trennte sich auch von dem hochherrschaftlichen Anwesen an der Leine und zog nach Belgien. Im Zuge dessen gab es zwar Ermittlungen seitens der Staatsanwaltschaft sowie die eine oder andere Recherche der Steuerfahndung, doch Erna Leinfeld konnte man nicht die geringste Unregelmäßigkeit nachweisen. Weder einen Mordversuch noch ein Steuervergehen. Luxemburg zum Beispiel ist von Spa aus ja nur einen Katzensprung entfernt. Irgendwann verlor dann auch die Presse das Interesse an der Dame. Hinzu kam, dass Erna Leinfeld in Belgien äußerst zurückgezogen und weitgehend unglamourös lebte. Drei-Zimmer-Appartement, japanischer Kleinwagen, kein ausschweifendes Gesellschaftsleben, keine sexuellen Eskapaden.«

»Mit Sechzig«, grunzte ich.

Sophia schaute mich vorwurfsvoll an.

»Was heißt hier 'mit Sechzig'? Also, hör' mal...«

Sie räusperte sich.

»Aber lassen wir das. Erna Leinfeld hätte sich von dem Geld ihres verstorbenen Mannes bequem eine Villa an der Riviera samt Motoryacht leisten können, aber solche Art Luxus schien ihr irgendwie völlig fremd zu sein. Vielleicht lag es daran, dass Erna Leinfeld geborene Kosinsky ursprünglich aus dem Osten stammte. Aus Dessau, um genau zu sein.«

»Aus Dessau?« riefen Lena und ich wie aus einem Munde.

»Ja. Hat das irgendeine besondere Bedeutung?«

»Erklären wir dir später. Erzähl weiter.«

 

Sophia ging nochmal an den Barschrank und kam mit einer Flasche Calvados und drei Cognacschwenker zurück. Sie goss uns und anschließend sich selbst ein. Ich weiß, es ist ein saudummer Spruch, aber ich konnte einfach nicht anders.

»Cheerio, Miss Sophie!« rief ich, sprang auf und schlug die Hacken gegeneinander.

»Hör mit dem Quatsch auf, Bub. Du tust dir noch weh mit deinem Herumgehampel. Viel interessanter ist das Vorleben von Erna Kosinsky.«

»Nämlich?«

Sophia hob die Augenbrauen.

»Frau Kosinsky arbeitete bis zur Wende in der Bezirksverwaltung des MfS in Karl-Marx-Stadt und war dort für die Überwachung des Strafvollzugs verantwortlich. Sie fungierte jedoch in erster Linie als sogenannter 'Offizier für staatsbürgerliche Erziehung und allgemeine Bildung von Strafgefangenen' in Stollberg.«

»Stollberg?«

»Eine Kleinstadt zwischen Zwickau und Chemnitz.«

»Und was ist so besonders an diesem Kaff?«

»Die ehemalige Frauenhaftanstalt Hoheneck. Im Rang eines Oberleutnant des Staatssicherheitsdienst hatte Erna Kosinsky den Auftrag, Dissidenten, Mauerflüchtlinge und sonstige subversiver Elemente politisch umzuerziehen. Wobei man 'Erziehung' durchaus wörtlich nehmen darf.«

»So ein Schätzchen«, brummte ich.

»Du sagst es. Stasi-Oberleutnant Kosinsky galt als eine der schärfsten 'Erzieherinnen' in Hoheneck. Ich möchte nicht wissen, wie viele Häftlinge ihre Verhörmethoden nicht oder nur mit schweren gesundheitlichen Schäden überstanden haben.«

In meinem Mund machte sich ein schaler Geschmack breit. Ich kippte den Calvados in einem Zug herunter. Lena schien es ähnlich zu gehen.

»Was willst du damit andeuten?«

Eigentlich wollte ich das gar nicht wissen, denn ich hatte noch einen Filmbericht vor Augen, der vor ein paar Jahren spätabends in einem Spartenprogramm lief. Bislang hatte ich gedacht, das wäre alles ziemlich übertrieben. Guantanamo bei uns in Deutschland? Dummes Zeug!

»Ich sage nur: Luminal und Protazin, Wasserbecken und Tigerkäfig.«

»Hör auf«, winkte Lena ab. »Ich habe da mal abends einen Filmbericht zu dem Thema gesehen. Dabei konnte einem ganz anders werden.«

Sophia nickte.

»Stimmt. Die Reportage konnte einen wirklich zum Nachdenken bringen. Ich habe anschließend ein langes Gespräch mit Gregor Weisz geführt. Er behauptet jedoch steif und fest, das sei alles Propaganda gewesen, damit man von uns im Westen mehr Geld für den Freikauf von Dissidenten erpressen konnte. Je schlimmer es in den Gefängnissen der ehemaligen DDR angeblich zuging, desto mehr konnten die sogenannten Opferanwälte für das Regime herausschinden. Gregor Weisz vertritt nach wie vor der Ansicht, wir im Westen hätten uns bloß ein genaueres Bild von den tatsächlichen Bedingungen in den dortigen Haftanstalten machen brauchen. Anschließend hätte keiner mehr solche Unsummen auf den Tisch gelegt, nur um ein paar Andersdenkende freizukaufen. Seiner Ansicht nach sei das Bild vom bösen Ostdeutschen aber gerade unseren konservativen Politikern gut zupass gekommen.«

»Und was sagte er über die Filmemacher?«

Sophia rümpfte die Nase.

»Die seien angeblich auf paranoide Wichtigtuer hereingefallen. Die Horrorgeschichten über Bautzen, Berlin-Hohenschönhausen und eben Hoheneck wären seiner Ansicht nach alle samt und sonders erfunden. Nun ja, da ist er etwas blauäugig, dein Freund.«

»Wie hast du das alles eigentlich auf die Schnelle herausbekommen?« wollte ich wissen. »Hast du Kontakte zum Verfassungsschutz, zur Stasi-Unterlagenbehörde oder zu ehemaligen Informellen Mitarbeitern?«

»Im Internet existiert ein Forum ehemaliger Hoheneck-Häftlinge. Mit ein paar der Leute stehe ich in Kontakt. Früher hätte man für solche Recherchen natürlich Jahre gebraucht. Ich sage euch, der Filmbericht seinerzeit abends im Fernsehen ist Sesamstraße gegen das, was sich dort tatsächlich abgespielt haben muss. Die Verhörmethoden der Gestapo im Dritten Reich oder die der Amis in Guantanamo konnten nicht schlimmer sein.«

 

Sie erhob sich, ging ans Wohnzimmerfenster und schaute eine Weile stumm in den Garten hinaus. Als sie zurückkam, schien sie mir noch ernster als sonst.

»Neben der Kosinsky gab es angeblich einen Anstaltsarzt, dem Empathie und Mitgefühl gegenüber politischen Strafgefangenen genauso so fremd war wie Wladimir Putin die Einhaltung der Menschenrechte. Nach der Wende haben tatsächlich ein paar Frauen den Mut aufgebracht, den Kerl wegen ärztlicher Kunstfehler, Falschmedikation oder unterlassener Hilfeleistung anzuzeigen. Keine Ahnung, was aus den einzelnen Strafanzeigen geworden ist. Jedenfalls kam es nie zu einem Prozess gegen diesen Dr. Kohn.«

»Sag das nochmal!« riefen Lena und ich gleichzeitig. »Wie heißt der Kerl?«

»Dr. Jochen Kohn. Wieso, kennt ihr den Mann?«

»Wir nicht, aber die Staatsanwaltschaft«, rief Lena. »Dr. Kohn ist übrigens tot. Und nun rate mal, mit welcher Waffe der erschossen wurde.«

Jetzt machte Sophia große Augen.

»Doch nicht etwa mit einer Neunmillimeter...«

Lena nickte.

»Mit derselben Waffe, mit der auch Erna Leinfeld umgebracht worden ist. Und jetzt sage ich euch, das ist alles kein Zufall mehr. Die Leinfeld und der Kohn kannten sich aus ihrer Zeit in der Haftanstalt Hoheneck. Die Frage ist erstens, aus welchem Grund wurden zwei ehemalige Bedienstete im Strafvollzug nach über dreiundzwanzig Jahren umgebracht und zweitens, von wem.«

Ich winkte ab.

»Das herauszubekommen ist Sache von Schäfer, der Staatsanwältin und Lydia Sartorius. Wir halten uns da besser raus.«

Lena schnappte erwartungsgemäß nach Luft. Ich war aber auch ein Idiot!

»Sag mal, träumst du neuerdings von der Sartorius? Die scheint es dir ja mächtig angetan zu haben.«

Ich runzelte die Stirn.

»Wie kommst du denn darauf?«

Lenas Miene verzog sich zu einem breiten Grinsen.

»Du hättest dich vorhin sehen sollen. Verliebt wie ein zwölfjähriger Pennäler, der von seiner Bio-Lehrerin den Unterschied zwischen Mama-Bär und Papa-Bär erklärt bekommt. Bevor du dich aber restlos zum Affen machst, kleiner Hinweis: Lydia hat es nicht so mit Männern, falls du verstehst, was ich damit meine.«

Mich beschlich das Gefühl, dass ich ganz schnell noch einen Calvados brauchte. Sophia schien meinen Gedanken zu erahnen. Jedenfalls goss sie mir unaufgefordert zwei Finger breit ein. Ich nahm einen kräftigen Schluck. Lena weidete sich förmlich an meinem entsetzten Gesichtsausdruck.

»Herrje, kannst du Frauen anhimmeln! Oder machst du das immer nur bei Lesben?«

»Anhimmeln, so ein Unfug!«

Lena erntete von mir jedenfalls einen bitterbösen Blick. Ich und ein verliebter Pennäler! Ja, spinnt die jetzt auf einmal, oder was? Andererseits, die Kleine mit dem Audi, das war wirklich der Brüller. Vergeudung! Pure Vergeudung! Sowas sollte verboten werden. Mindestens.

 

Sophia klopfte ungeduldig auf die Tischplatte.

»Wie ich bereits andeutete, existiert allerdings noch ein weiteres Problem. Und das befindet sich nur ein paar Straßen von hier entfernt.«

Sie klickerte ein paar Mal auf der Computertastatur herum und drehte uns anschließend den Bildschirm entgegen. Was wir da zu sehen bekamen, war nicht etwa nur pikant. Das war Hardcore pur. Und der Hauptdarsteller war kein anderer als Stefan Balfelder, Ehemann, oder sollte man eher sagen: demnächst Ex-Ehemann der Grafensteiner Bürgermeisterin. Seine beiden Gespielinnen ließen sich ohne große Mühe als Olga Ionescu und Dana Dumitrescu identifizieren.

»Herr im Himmel! Was ist denn das schon wieder für eine Sauerei? Wo stammt das her?«

Sophia hob die Augenbrauen.

»Kursiert neuerdings auf Clips4Us. Das ist sowas Ähnliches wie Youtube, allerdings weniger zensiert, wie man sieht.«

Ich zog das Lid meines rechten Auges herunter.

»Herrje, sowas schaust du dir an? Sophia, Sophia! Das hätte ich aber nicht von dir erwartet.«

»Glaubst du etwa, ich gucke ausschließlich Arte und Phönix?«

Lena schob sich ganz dicht an den Bildschirm heran und hielt dabei demonstrativ den Kopf schräg

»Hat der vielleicht eine Ausdauer«, meinte sie mit gewisser Bewunderung in der Stimme. »Hätte ich dem alten Knacker gar nicht zugetraut. Andererseits, Viagra kriegt man inzwischen ja auch schon an jeder Straßenecke.«

Unwillkürlich packte ich sie am Arm.

»Moment mal! Was heißt hier 'alter Knacker' und 'Viagra'? Der Stefan ist in meinem Alter, und ich brauche bestimmt keine Stimulanzien.«

Lena grinste frech.

»Was du nicht sagst.«

Ich warf einen anzüglichen Blick auf ihren Rollstuhl. Lena verstand auch ohne viele Worte. Erwartungsgemäß begannen ihre Augen gefährlich zu funkeln.

»Hör mal gut zu, Freundchen! Ich hocke zwar im Rollstuhl, aber da unten bin ich immer noch toppfit.«

 

»Hört auf zu streiten«, ermahnte uns Sophia und klappte den Deckel ihres Notebooks zu.

»Hierbei geht es nicht alleine um Stefan Balfelder. Das ist letztendlich Sache zwischen ihm und seiner Frau. Dieses Video ist eine Politkampagne aus der rechten Ecke. Und zwar eine auf unterstem Niveau.«.

»Du glaubst, der Schröder steckt dahinter?« meinte Lena.

Sophia nickte.

»Das glaube ich nicht nur, das weiß ich sogar. Ursprünglich war der Link zu diesem Video auf der Facebook-Seite dieses Bernd Düsing gepostet. Dort wurde es jedoch inzwischen gelöscht. Seit der MyHistory-Affäre von neulich habe ich ein wachsames Auge auf Düsings Machenschaften im Netz. Ich gehe davon aus, dass die beiden Rumäninnen von Schröder gezielt auf Stefan Balfelder angesetzt wurden, um insbesondere im Rathaus für Unruhe zu sorgen.«

»Erpressung?« fragte ich.

»Nicht unbedingt«, meinte die alte Dame. »So blöd stellen die sich nicht an. Die agieren da ganz entspannt und verlassen sich auf die langsam aber stetig hochkochende Volksseele. Deshalb wurde auch Melanie Balfelder nicht direkt angegriffen. Im Gegenteil. Sie darf sich im Augenblick bestimmt des moralischen Zuspruchs zahlreicher Grafensteiner Frauen gewiss sein. Aber auf Dauer wird ihr das nichts nützen. Wer sein eigenes Umfeld nicht im Griff hat, von den Sicherheitsbelangen im Ort mal ganz zu schweigen, der ist als Verwaltungschef auf Dauer nicht tragbar. Ihr könnt sicher sein, in manch einer Mainzer Parteizentrale sind die jetzt richtig am rotieren. Falls Melanie Balfelder als Bürgermeisterin abgewählt wird oder selbst das Handtuch wirft, möchte ich nicht wissen, wie die Sache ausgeht. Die Anderen haben nämlich keinen ernstzunehmenden Ersatzkandidaten in petto. Unsere Bürgermeisterin war clever genug, politische Konkurrenten stets frühzeitig auszuschalten.«

Ich winkte ab.

»Der Schröder hat doch nur eine Stimme im Gemeinderat. Seine eigene.«

Lena schüttelte den Kopf.

»Als freier Kandidat muss er nur genügend Stimmen im Rat hinter sich vereinen. Und die kann er im Gegensatz zu einem Kandidaten mit einschlägigem Parteibuch aus allen politischen Lagern rekrutieren. Die Balfelderin hat es schließlich genauso gemacht. Die gehört auch keiner Partei an. Sie hatte lediglich genug Geld und Einfluss.«

»Wer sollte denn dem Schröder seine Stimme geben?« meinte ich skeptisch.

Sophia machte ein bedenkliches Gesicht.

»Jeder, der die Balfelderin loswerden möchte. Jeder, der deren ewiges Gekungel und Taktieren leid ist. Und das sind inzwischen mehr, als du denkst.«

 

Das Smartphone auf dem niedrigen Couchtisch machte durch leises Summen auf sich aufmerksam. Die alte Dame warf einen kurzen Blick auf das Display. Schließlich hielt sie es sich an Ohr.

»Was gibt's? Ich bin beschäftigt.«

Trotzdem lauschte sie den Worten des Anrufers. Man konnte deutlich sehen, wie ihr Gesicht noch eine Spur faltiger wurde.

»In Ordnung, ich sage Hagen Bescheid. Er ist gerade bei mir.«

Sie beendete das Gespräch und warf mir einen auffordernden Blick zu.

»Das war Lothar. Im Klub brennt es, und von der Freiwilligen Feuerwehr soll weit und breit nichts zu sehen sein. Die sind wohl kurz vorher zu einem Bauernhof gerufen worden, wo angeblich eine Scheune in Flammen steht.«

Ich sprang hoch.

»Ausgerechnet der Klub? Das riecht doch nach einem abgekarteten Spiel!«

Sophia nickte.

»Die Angelegenheit erreicht langsam neue Dimensionen. Erst die beiden Überfälle, dann das Video und jetzt die Disco von Murad Öztürks Schwager Kelim. Murad soll mit seinen Leuten doch gestern die Leibwächter vom Schröder aufgemischt haben, stimmt's? Langsam mache ich mir wirklich Sorgen.«

 

~~~~~~~

 

Bereits lange bevor wir Steinfeld, einen unbedeutenden Weiler direkt an der Bundesstraße, erreichten, konnte man die Rauchsäule bereits deutlich ausmachen. Als wir näher kamen, stöhnte ich unwillkürlich auf. Falls es sich wirklich um Brandstiftung handelte, dann hatte derjenige ganze Arbeit geleistet. Kelim Öztürks 'Klub' brannte lichterloh. Da war nichts mehr zu retten. Klassischer Fall für Herrn Kaiser.

Lena hielt ihren Wagen in sicherer Entfernung am Straßenrand an. Ich wunderte mich immer noch, wie souverän sie mit dem schweren Cabrio trotz ihrer Behinderung umging. Etwa in Höhe der Automatik-Schaltung ragte neuerdings ein unauffälliger Handgriff in Form einer Krücke ein Stück weit über die Mittelkonsole. Mit dieser Fahrhilfe konnte man durch Ziehen Gas geben und durch Schieben nach vorne abbremsen.

»Das Multima-System von Veigel«, hatte mir Lena erklärt. »Momentan das Nonplusultra für Leute mit Gehbehinderung. Eigentlich war die Anlage für unseren Geländewagen bestimmt, aber ich hasse diesen vierrädrigen Panzer. Im übrigen kann ein schwenkbarer Fahrersitz ohnehin nur bei Zweitürern problemlos eingebaut werden. Blöd ist es nur, wenn's mal regnet, denn um an den Rolli heranzukommen, muss ich erst das Verdeck zurück klappen.«

Hinter mir ertönte Sirenengeheul. Aber es war nicht etwa die Freiwillige Feuerwehr von Grafenstein, es war Breitenbach mit seinem Streifenwagen. Unser Dorfsheriff platzierte den Wagen mitten auf der Straße und schaltete das Blaulicht ein. Gemeinsam mit Wachtmeister Nachtsheim schritt er mit gewichtiger Miene an uns vorbei.

»Bleiben Sie gefälligst zurück! Sie haben hier nichts verloren. Das ist eine polizeiliche Anordnung.«

»Du mich auch, du Spinner«, murmelte ich halblaut und schob Lenas Rollstuhl unbeirrt weiter.

»He, können Sie nicht hören?« brüllte mir Breitenbach hinterher.

Im gleichen Moment rauschte der Wagen der Bürgermeisterin an uns vorbei.

»Und was ist mit der?« rief Lena. »Genießt die neuerdings Sonderrechte, oder was?«

Breitenbach und sein Adlatus nahmen die Beine in die Hand und hasteten hinter der Limousine her.

»Der wird gleich was zu hören bekommen. Die Bude ist beinahe vollständig abgebrannt, und bis jetzt hat noch keiner den Unglücksort vernünftig abgesichert.«

Und so kam es auch. Melanie Balfelder und Polizeihauptwachtmeister Breitenbach begannen sich auf offener Straße zu fetzen.

»Wieso sind Sie erst jetzt zur Stelle?« fauchte die Bürgermeisterin. »Wo haben Sie gesteckt? In der Kneipe, oder was?«

Das Gesicht des Polizeibeamten lief rot an.

»Wir waren erst gemeinsam mit der Kripo beim Brenner wegen der Schießerei vergangene Nacht«, versuchte er sich mit überschlagender Stimme zu verteidigen. »Dann waren wir auf dem Hof vom alten Lenz, wo die Scheune abgefackelt ist und erhielten kurz darauf über Funk die Meldung, dass es auch hier brennt. Wo soll man denn da zuerst sein?«

Melanie Balfelder wurde bleich.

»Was sagen Sie da? Beim alten Lenz steht die Scheune in Flammen?«

Breitenbach nickte.

»Wenn ich es Ihnen doch sage. Aber jetzt lassen Sie uns gefälligst unsere Arbeit tun.«

»Wo ist die Feuerwehr?« keuchte die Bürgermeisterin.

Breitenbach zuckte die Achseln.

»Die sind wahrscheinlich noch auf dessen Hof. Jetzt sehen Sie endlich, wohin Ihre dämliche Sparerei führt. Mit den beiden Feuerwehrautos aus der Nachkriegszeit kann man doch keine Gemeinde wie Grafenstein schützen.«

 

Melanie Balfelder hatte von Anfang an vehement gegen die Verbesserung des örtlichen Zivilschutzes plädiert. Golfplatz, Multifunktionshalle und kostspielige Freizeiteinrichtungen für die Jugendlichen waren ihr wichtiger. Sowas brachte mehr Wählerstimmen in der Bevölkerung als irgendwelche Feuerwehrautos, die man ja sowieso nur alle Jubeljahre brauchte.

»Halten Sie sich nur ja zurück«, fauchte sie. »Es hat Sie niemand nach Ihrer Meinung gefragt.«

Unsere Bürgermeisterin schien irgendwie völlig von der Rolle. Vermutlich hatte ihr längst jemand die frohe Kunde vom ausschweifenden Liebesleben ihres Gatten gesteckt.

Der Totengräber kam uns entgegen.

»Du bist wohl auch immer da, wo was los ist, oder?«

Lanzerath stutzte. Offenbar sah auch er Lena das erste Mal im Rollstuhl.

»Was ist denn Ihnen passiert?«

Lena winkte ab.

»Nicht der Rede wert. Machen Sie sich um mich mal keine Gedanken. Aber was ist hier eigentlich los? Gab es Tote?«

Lanzerath zuckte die Schultern.

»Nichts Genaues weiß man nicht, aber im Geschäftsleben muss man jedenfalls immer hart am Ball bleiben.«

»Du hat Nerven«, murmelte ich und schob Lena weiter.

Inzwischen hatten wir den den Unglücksort erreicht. Aus dem Gebäude schlugen die Flammen bis in den Himmel. Als Geschäftsmann gönnte ich Lanzerath ja im Prinzip jeden neuen Kunden, doch insgeheim hoffte ich sehr, dass sich niemand mehr im Haus aufhielt. Derjenige würde sich jetzt nämlich fühlen wie ein Hähnchen auf dem Grill.

 

In Grafenstein begannen die Sirenen zu jaulen. Katastrophenalarm. Endlich trudelten auch die Floriansjünger ein. Die beiden Löschtrupps der Freiwilligen Feuerwehr kamen mit Tatütata herangebraust und begannen als erstes, die Schläuche auszurollen. Was es hier allerdings noch zu löschen gab, blieb war mir ein Rätsel. Der Chef der Feuerwehrtruppe winkte dann auch bald ab.

»Nichts mehr zu machen«, rief er der Bürgermeisterin zu. »Wir passen jetzt nur noch auf, dass der Brandherd nicht noch weiter um sich greift.«

Hinter mir hörte ich das Kreischen von Scheibenbremsen. Ein BMW kam abrupt zum Stehen, und ein bulliger Kerl schälte sich aus dem Fahrersitz. Es war Kelim Öztürk, der Besitzer der Disco. Der Türke brüllte auch gleich los wie ein zu heiß gebadeter Stier.

»Eh, Scheiße! Wo ist Murad? Murad! Murad!«

Als er Anstalten machte, auf das brennende Haus loszustürmen, wurde er von Breitenbach zurückgepfiffen.

»Bleiben Sie gefälligst stehen, oder wollen Sie sich umbringen?«

Auch der Chef der Freiwilligen Feuerwehr stellte sich ihm in den Weg.

»Da kann man nichts mehr machen. Näher heranzugehen bedeutet Lebensgefahr.«

»Red doch keinen Scheiß! Der Murad ist da noch drin!«

Dienstbeflissen zückte Breitenbach seinen Notizblock. Lanzerath bekam sofort glänzende Augen, und eine imaginäre Registrierkasse in seinem Innern ließ die Glöckchen bimmeln. Vermutlich doch noch Kundschaft.

»Murad, wer? Wie kommen Sie darauf, dass sich noch jemand in dem brennenden Haus aufhalten sollte? Wieso haben Sie uns nicht informiert? Haben Sie was mit dem Brand zu tun?«

Kelim Öztürk, ein Bär von einem Mann, brach förmlich in Tränen aus.

»Murad!« stammelte er.

Im selben Augenblick tauchte eine junge Frau neben mir auf. Es war Sylvia, die sofort damit anfing, die umstehenden Leute auszuquetschen. Sicherheitshalber zog ich den Türken beiseite.

»Die Leute haben recht. Hier kannst du im Augenblick sowieso nichts ausrichten. Aber sag mal, was ist mit deinem Schwager? Bist du sicher, dass der sich im Haus aufhält?«

Der Besitzer der Diskothek warf mir einen verzweifelten Blick zu.

»Wo sollte er denn sonst sein? Sein Vermieter hat ihm die Bude gekündigt. Angeblich, weil den Nachbarn das Gestöhne seiner Perle auf den Geist ging. Die Beiden sind erst seit Kurzem verlobt. Du weißt schon, wie ich das meine. Und weil er im Augenblick keine Bleibe hat, habe ich ihm halt die Kammer unter dem Dach angeboten. Ich weiß, das ist eigentlich verboten, aber was hätte ich denn tun sollen? Murad ist schließlich mein Schwager.«

Sylvia schlich mit gezückter Kamera näher. Kelim Öztürks Augen begannen zu flackern.

»Ich schwöre dir, Mann, wenn dem Murad was passiert ist, dann kann sich der Schröder auf was gefasst machen. Den mache ich fertig! Und den Scheißbullen dahinten gleich mit.«

»Was haben denn der Schröder und der Breitenbach mit dem Brand zu tun?« wollte Sylvia wissen.

Kelim warf ihr einen wütenden Blick zu.

»Gestern Nacht hat jemand 'Türken raus!' an die Fassade geschmiert. Das muss kurz nach Geschäftsschluss passiert sein. Jedenfalls habe ich das erst gemerkt, als ich nach Hause fahren wollte. Ich habe dann gleich die Bullen angerufen und die Sache angezeigt. Der blöde Breitenbach hat aber nur dämlich gelacht. Ich solle mich an eine Sicherheitsfirma wenden oder am besten gleich nach Anatolien verschwinden, wo ich angeblich hingehöre. Hört mal, ich bin in Istanbul geboren, in Berlin aufgewachsen und habe dort Betriebswirtschaft studiert. Ich zahle Steuern wie alle anderen auch und habe nicht einen einzigen Punkt in Flensburg. Und da kommt mir dieses Arschloch mit Anatolien! In Anatolien bin ich mein Lebtag noch nicht gewesen.«

Die Lokalreporterin vom Grafensteiner Tageblatt runzelte die Stirn.

»Und wie kommen Sie ausgerechnet auf den Schröder?«

Kelim schien außer sich vor Wut.

»Welcher Wichser soll das mit 'Türken raus!' denn sonst gewesen sein?«

Murads Schwager riss sich von mir los, ging ein paar Schritte beiseite und begann aufgeregt zu telefonieren. Das gibt Ärger, dachte ich insgeheim. Andererseits, dem Schröder und seiner Fascho-Truppe tat eine ordentliche Abreibung bestimmt mal richtig gut. Egal, ob der an dem Brand schuld war, oder nicht. Ich dachte an die beiden Typen von gestern Nacht. Jetzt war ich auch mal braun.

 

Der nächste Wagen rollte heran. Diesmal einer aus der Kategorie 'Genfer Salon'. Er gehörte der Spurensicherungsexpertin aus Trier. Mit dem Alukoffer unter dem Arm bahnte sie sich den Weg durch die Menschentraube, die sich inzwischen gebildet hatte. Ich warf einen Blick in Richtung Sportwagen. Auf dem Beifahrersitz hockte eine junge Frau. Marianne.

»Was ist passiert?« hörte ich Lydia den diensthabenden Polizeibeamten fragen.

»Sehen Sie doch. Die Disco ist abgebrannt. Ich tippe auf Brandstiftung. Aber das herauszufinden, ist Ihr Job.«

Sie wandte sich an den Behelmten.

»Wie lange wird das noch dauern, bis man hinein kann?«

Der Mann in der schweren dunklen Jacke mit der Aufschrift 'Feuerwehr' zuckte die Schultern.

»Das wird dauern. Sie sehen ja, das Gemäuer brennt immer noch wie Zunder. Obergeschoss und Fassade sind schließlich aus Holz.«

»Irgendwelche Opfer?«

»Möglich«, erwiderte der Chef der Freiwilligen Feuerwehr. »Der Mann dahinten meint, sein Schwager sei eventuell noch in dem Gebäude.«

»Kann man da nichts machen?«

Der Feuerwehrmann winkte ab.

»Schauen Sie doch selbst. Dort hinein zu gehen wäre glatter Selbstmord.«

Im gleichen Moment krachte das Obergeschoss Funken stiebend in sich zusammen. Trotz Warnung lief Sylvia ein Stück vor, um Fotos zu schießen. Ich löste mich von Lenas Rollstuhl und lief zum Audi hinüber. Mariannes Augen waren gerötet.

»Was ist los?« fragte ich überflüssigerweise.

»Ich war gerade mit Lydia auf dem Weg zu mir nach Hause«, stammelte sie, »als sie auf halber Strecke den Auftrag erhielt, sich erst einmal um den Brand in Steinfeld zu kümmern. Weißt du, dass sie bei mir eingebrochen haben?«

»Habe ich erst heute Morgen erfahren. Wir konnten dich übrigens nicht erreichen.«

»Ich war bei Lydia. Wusstest du das nicht?«

Das war mir inzwischen bekannt. Ich nickte stumm.

»Kannst du mich bitte zu meiner Wohnung bringen?« bat Marianne. »Ich habe gehört, dort soll es schrecklich aussehen, und Lydia wird hier vermutlich noch eine zeitlang alle Hände voll zu tun haben.«

Mir fiel etwas ein.

»Wo steckt eigentlich dein Logiergast?«

»Margarete? Das weißt du doch. Die ist mit Karl unterwegs.«

»Hast du eine Ahnung, wo die hingefahren sein könnten?«

Marianne schüttelte den Kopf.

»Was macht Margarete eigentlich beruflich?«

»Sie besitzt angeblich ein Modegeschäft in der Nähe von München.«

»Angeblich?«

»Der Job war für uns nie ein Thema.«

»Woher kennst du sie eigentlich wirklich?«

Marianne zögerte einen Augenblick.

»Das weißt du doch. Aus dem Internet. Wird das hier ein Verhör, oder was?«

Ich ließ mich nicht beirren.

»Und so jemanden lädst du mir nichts dir nichts zu dir nach Hause ein?«

Mariannes Miene wurde frostig.

»Sei mir nicht böse, aber das geht dich wirklich nichts an.«

Ich atmete tief durch.

»Hast ja recht, aber merkwürdig finde ich das schon. Seit Margarete aufgetaucht ist, geschehen hier die seltsamsten Dinge.«

Marianne starrte mich an.

»Dasselbe trifft auch auf deinen Onkel zu.«

Darüber hatte ich noch gar nicht nachgedacht. Aber wo sie recht hatte, hatte sie recht. Seit Anfang der Woche war wirklich nichts mehr beim Alten.

»Ich bringe dich jetzt nach Hause«, meinte ich nach kurzem Überlegen. »Komm, steig aus. Lenas Wagen steht dort hinten.«

Unwillkürlich begannen Mariannes Augen zu glänzen.

»Lena ist hier?«

Ich hielt sie an der Schulter zurück.

»Nicht deine Baustelle, mein Engel! Soweit kommt das noch.«

 

~~~~~~~

 

»Soll ich euch was verraten? Hier hat jemand ganz gezielt nach etwas gesucht.«

Lena hatte längst den Versuch aufgegeben, uns ins Innere des verwüsteten Appartement zu folgen. Bereits im Flur musste sie mit ihrem Rollstuhl kapitulieren.

»Das sieht mir auch danach aus«, bestätigte ich insgeheim ihre Vermutung.

In der kleinen Wohnung sah es katastrophal aus. Mariannes Bett war zerwühlt, die Matratzen von den Lattenrosten gezerrt und wild verstreut. Bei der Couch und den beiden Sesseln hatte der Einbrecher ebenfalls ganze Arbeit geleistet. Die Polsterbezüge waren heruntergerissen und zum Teil mit einem Messer aufgeschlitzt. Auch vor den Bücherregalen, den Einbauschränken und der kleinen Küchenzeile hatte man nicht Halt gemacht. Bilderrahmen, Bücher, Papiere, Unterlagen, selbst Töpfe und Geschirr lagen wild über den gesamten Fußboden verstreut. Die Wohnung meiner Angestellten sah aus wie kurz nach einem Erdbeben.

Marianne bahnte sich einen Weg durch die Unordnung und steuerte die Couch an. Mit zitternden Fingern tastete sie die zerrissenen Polster ab und wühlte anschließend zwischen dem Unrat herum.

»Das darf doch alles nicht wahr sein!« hörte ich sie stammeln.

Ich trat neben sie.

»Vermisst du etwas?«

Marianne sah mich mit großen Augen an. Ihr Blick wirkte geradezu verzweifelt.

»Die... Ich weiß nicht...«

Ihre Stimme versagte. Tränen rannen über ihre Wangen.

»Was meinst du mit 'die'?« wollte ich wissen. »Fehlt was? Nun sag schon!«

»Ich weiß es nicht. Schau dir das Chaos doch an! Ich werde eine Ewigkeit brauchen, um das alles wieder in Ordnung zu bringen.«

»Wir rufen jetzt erst mal bei deiner Versicherung an. Du bist doch hoffentlich versichert, oder etwa nicht?«

Schluchzend zuckte Marianne die Schultern und begann planlos, ein paar Bücher von einer Seite zur anderen zu schieben.

»Du bist nicht versichert? Ja, wo gibt's denn sowas?«

Alles, was jemand wie Marianne in dieser Situation bestimmt nicht brauchen konnte, waren dumme Kommentare. Lena warf mir einen scharfen Blick zu.

»Immer mit der Ruhe. Dafür gibt's bestimmt eine Lösung.«

In Mariannes Gesicht spiegelte sich eine Mischung aus Fatalismus, Wut und Verzweiflung wieder.

»Lasst mich bitte alleine. Ihr könnt mir im Augenblick sowieso nicht helfen.«

Lena nickte und deutete in Richtung Haustür.

»Marianne hat recht. Hier können wir momentan wirklich nichts tun. Wir würden uns auch nur gegenseitig im Weg stehen. Ich denke, wir lassen Marianne jetzt erst mal ihre Ruhe.«

Ich zögerte. Schließlich legte ich meiner Angestellten die Hand auf die Schulter.

»Aber wenn was ist, rufst du an, in Ordnung?«

Marianne nickte nur stumm. Ich packte die Handgriffe von Lenas Rollstuhl und schob sie zurück zu ihrem Wagen.

»Das passt mir überhaupt nicht, Marianne in diesem Zustand sich selbst zu überlassen. Was ist, wenn der Kerl zurückkommt?«

Lena schüttelte den Kopf.

»Glaube ich nicht. Möglich, dass der Einbrecher gefunden hat, wonach er suchte.«

Ich schaute sie erstaunt an.

»Wie kommst du darauf?«

»Hast du nicht gesehen, wie Marianne als erstes zur Couch ging? Dort scheint irgendwo ein Versteck gewesen zu sein. Anschließend war sie wie paralysiert. Es muss sich um etwas handeln, worüber sie nicht mir uns sprechen möchte.«

»Vielleicht ein Monster-Dildo?« rutschte mir heraus.

Lena schüttelte den Kopf.

»Kannst du nicht wenigstens einmal ernst bleiben?«

 

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Auf dem Weg zurück nach Grafenstein fiel mir ein, was ich schon längst hätte machen sollen. Ich nahm mein Handy und wählte einen Anschluss in Trier.

»Die Mobilfunknummer von Hauptkommissar Schäfer, bitte.«

Es dauerte eine Weile, ehe die Telefonistin begriff, was ich von ihr wollte.

»Wie bitte?«

»Sie haben mich richtig verstanden. Ich muss Kriminalhauptkommissar Schäfer dringend eine Nachricht zukommen lassen. Im Büro ist er nämlich nicht. Bei uns in Grafenstein brennt unter Umständen demnächst die Hütte!«

»Geht's auch ein bisschen weniger dramatisch?« erhielt ich schnippisch zur Antwort.

»Hören Sie, ich weiß dass Schäfer sich momentan bei uns in der Gegend aufhält. Wir haben heute Morgen noch miteinander gesprochen. Er war bei mir auf dem Weingut...«

»Ach, dann sind Sie dieser Brenner, bei dem gestern Nacht herumgeschossen wurde?« fragte sie mit gelangweilter Stimme. »Hören Sie, Ihr Mitteilungsdrang in allen Ehren, aber ich bin hier kein Auskunftsbüro für Verdächtige.«

»Sagen Sie mal, haben Sie sie noch alle?« brüllte ich, doch die Frau am anderen Ende der Leitung hatte das Telefonat bereits abgebrochen.

»Du solltest in den diplomatischen Dienst wechseln« flachste Lena. »Mit dir als Chefvermittler wäre der Nahostkonflikt bestimmt längst gelöst. Allerdings mit zweifelhaftem Ergebnis.«

»Wie erreiche ich jetzt bloß den Schäfer?«

»Wenn's weiter nichts ist.«

Lena begann an dem Drehknopf auf der Mittelkonsole zwischen den Sitzen herumzufummeln. Wie von Geisterhand verschwand der Navi-Bildschirm im Armaturenbrett, und eine Telefonliste tauchte auf. Der Cursor scrollte nach unten, bis er auf einem bestimmten Eintrag verharrte.

»Bitte sehr«, meinte sie mit einem unüberhörbaren Triumph in der Stimme.

Sekunden später war die Verbindung hergestellt.

»Ich grüße Sie, Herr Hauptkommissar. Brenner, hier. Ich komme gerade von dem Brand in der Disco in Steinfeld. Ich muss Ihnen dringend...«

»Bin ich die Feuerwehr, oder was?« bellte er mir in den Gehörgang. »Woher haben Sie eigentlich meine Handynummer?«

Ich nahm einen erneuten Anlauf.

»Hören Sie, der Kelim Öztürk ist ganz schön sauer. Ich werde den Verdacht nicht los...«

»Wer zum Henker ist Kelim Öztürk?«

»Der Besitzer der Disco.«

Es blieb einen kurzen Moment stumm in der Leitung.

»Dass der sauer ist, kann ich mir gut vorstellen. Aber was habe ich damit zu tun, wenn dem einer die Bude abfackelt?«

So kam ich nicht weiter.

»Wissen Sie zufällig, wie ich Frau Michels erreichen kann? Ich muss dringend mit ihr sprechen.«

»Ich bin doch kein Auskunftsbüro. Sonst noch was? Ich habe zu tun.«

Zum zweiten Mal innerhalb nur weniger Minuten hatte man mich nach allen Regeln der Kunst abserviert. Ignoranten!

»Hast du vielleicht auch deren Handynummer?« wandte ich mich hoffnungsvoll an Lena.

»Nein, tut mir leid. Nur die von ihrem Festnetzanschluss im Büro.«

Ich lehnte mich weit in den Beifahrersitz zurück und schloss für einen kurzen Moment die Augen.

»Sollte Murad Öztürk tatsächlich ums Leben gekommen sein, dann geht's in Grafenstein demnächst zu wie im syrischen Bürgerkrieg, kann ich dir sagen. Ich sehe schon die Schlagzeile: Chef der Bürgerinitiative von ausländischem Mob gelyncht. Das würde den Faschos haargenau in den Plan passen. Dass es bei uns zum ganz großen Bums kommt, während sich die Balfelderin daheim mit ihrem untreuen Gatten zofft. Als Bürgermeisterin wäre sie damit endgültig erledigt.«

Lena sah mich von der Seite her an.

»Übertreibst du jetzt vielleicht nicht wirklich ein bisschen?«

Ich atmete tief durch.

»Denk mal nach. Wir haben eine Tote im Yachthafen. Der Yachthafen gehört Ballensiefen, einem stinknormalen Bürgerlichen. Die Tote wird von einer rumänischen Prostituierten gefunden, die bei Ballensiefen arbeitete. Ob legal oder nicht, das spielt jetzt erstmal gar keine Rolle. Diese Rumänin treibt es gemeinsam mit ihrer Kollegin vor laufender Kamera ausgerechnet mit dem Ehemann der Bürgermeisterin. Das Filmchen stammt aus dem Repertoire eines gewissen Bernd Düsing, Gesinnungsgenosse von Schröder. Na, dämmert's? Beinahe zeitgleich kommt es in unserer Gegend vermehrt zu Einbrüchen, Überfällen und Brandstiftungen. Mir kann doch keiner erzählen, dass die Scheune vom alten Lenz und die Disco vom Öztürk von selbst in Flammen aufgegangen sind. Und das auch noch kurz hintereinander und praktisch am helllichten Tag. Mit dem voran gegangenen Brand in der Scheune wollte man lediglich erreichen, dass die Feuerwehr erst mit gehöriger Verspätung nach Steinfeld ausrücken konnte. Und wenn es den Murad tatsächlich erwischt haben sollte, möchte ich mir die Folgen nicht ausmalen. Ich kenne den Öztürk-Clan. Im Prinzip alles anständige Leute. Weder Islamisten, Salafisten noch sonstige Gewaltbereite. Aber sie stammen halt nicht aus unserem Kulturkreis. Rache für ein totes Familienmitglied zu nehmen, ist für die so normal wie nachmittags Tee trinken.«

Lena grinste.

»Du warst früher bestimmt mal ein ziemlich guter Ermittler, oder täusche ich mich?«

Ich ging auf ihre Bemerkung nicht ein. Für Streicheleinheiten war jetzt keine Zeit.

»Parallel hierzu wird der Leiter der Grafensteiner Realschule auf das Übelste gemobbt und die angesehene ehemalige Grundschullehrerin Sophia Berrenrath in aller Öffentlichkeit denunziert. Merkst du eigentlich nichts? Es trifft immer nur Schröders politische Gegner. Gregor Weisz und die beiden Balfelders stehen politisch ziemlich weit links von der Mitte, Miss Sophie aufgrund ihres etwas unorthodoxen Lebenswandels vermutlich auch, und was die Öztürks anbelangt, die hegen schon alleine wegen ihres Migrationshintergrunds keine Sympathien für Schröders rechtsgerichtete Bürgerinitiative. Die Sippe Lenz gehört übrigens politisch eher zu den Grünalternativen.«

Ich holte tief Luft.

»Wenn uns hier bloß nicht bald irgendwas gewaltig um die Ohren fliegt.«

Wir erreichten das Neubauviertel und passierten kurz darauf das Ortseingangsschild von Grafenstein.

»Möchtest du meine ehrliche Meinung hören?« fragte Lena.

Ich nickte.

»Die Tote vom Yachthafen passt irgendwie nicht in das Szenario, und der Arzt aus Dessau gleich gar nicht. Denk mal nach. Eine Touristin aus Belgien mit undurchsichtiger Vergangenheit und ein Mediziner ohne besondere Emphatie für seine damaligen Patientinnen.«

Nachdenklich wiegte sie den Kopf hin und her.

»Ich denke, genau bei diesen beiden sollte man ansetzen. Speziell bei diesem Dr. Kohn. Mit dessen Tod fing vermutlich alles an.«

 

~~~~~~~

 

Stefanie Michels betrat ihr Büro, legte ihren Mantel ab und sank in den Schreibtischsessel. Sie schloss die Augen und rieb sich die Schläfen. Was für eine beschissene Woche! Auf ihrem Schreibtisch stapelten sich die Akten, sie hetzte scheinbar ergebnislos von Termin zu Termin, und kam deshalb im Fall Grafenstein keinen Schritt weiter.

Was hatten sie? Eine knapp sechzigjährige Deutsche mit Wohnsitz in Belgien. Erst verheiratet mit einem deutschen Geschäftsmann, anschließend verwitwet. Allem Anschein nach wohlhabend, aber sehr zurückgezogen und für alle überraschend in eher bescheidenen Verhältnissen lebend. Erschossen mit einer Neunmillimeter Parabellum. Ferner zwei rumänische Prostituierte, die sich illegal in Deutschland aufhielten und inzwischen untergetaucht waren. Zeitgleich mehrten sich in Grafenstein die Vorfälle. Ob allerdings der Wohnungseinbruch, der Überfall auf den tunesischen Ladenbesitzer und der nächtlichen Besuch zweier Vermummter auf dem Weingut Brenner in kausalen Zusammenhang standen, wagte sie nach bisherigem Ermittlungsstand zu bezweifeln.

Stefanie nahm den Telefonhörer in die Hand und wählte den Anschluss der Kriminaltechnik.

»Ist Frau Sartorius da?«

Lydias Mitarbeiter verneinte.

»Tut mir leid, aber die wurde kurzfristig nach Steinfeld beordert. Brand in einer Disco.«

»Steinfeld. Gehört das nicht zur Gemeinde Grafenstein?«

»Das stimmt.«

»Und was hat die KTU damit zu tun?«

»Verdacht auf Brandstiftung. Erst brannte es nämlich ein paar Kilometer entfernt auf einem Bauerhof. Dadurch dauerte es verhältnismäßig lange, ehe die Feuerwehr nach Steinfeld ausrücken konnte. Im übrigen gehört die Disco einem gewissen Öztürk. Da liegt der Verdacht nahe, dass es sich um eine Tat mit ausländerfeindlichem Hintergrund handeln könnte. Der Schwager des Inhabers hatte vergangene Tage eine handfeste Auseinandersetzung mit den Gefolgsleuten von Axel Schröder. Irgendso ein rechtsradikaler Scharfmacher in Grafenstein.«

»Ist bekannt. Ich war selbst Zeuge der Schlägerei. Wer hat Frau Sartorius eigentlich angewiesen, die Ermittlungen vor Ort aufzunehmen.?«

»Das Bundeskriminalamt.«

»Das BKA? Seit wann interessieren die sich denn für Brandstiftung?«

»Tut mir leid, Frau Staatsanwältin, aber das müssen Sie die ermittelnden Beamten selber fragen. Ich weiß nur, dass man eine Soko eingerichtet hat.«

»Verstehe. Aber mal was anderes: Konnten Sie schon etwas über die Kugel in der Hauswand von diesem Brenner herausfinden?«

»Sie meinen, das Projektil aus der 7,65er? Bedaure. Keinerlei Übereinstimmung mit irgendwelchen registrieren Waffen.«

»Können Sie etwas über den Pistolentyp sagen?«

Die Antwort kam im wahrsten Sinne des Wortes wie aus der Pistole geschossen.

»Eine Ceska CZ83, Kaliber 7,65 mm Browning mit Schalldämpfer-Vorsatz.«

»Eine tschechische Pistole mit Schalldämpfer? Wie haben Sie denn das in so kurzer Zeit herausgefunden?«

»Das war kein großes Kunststück. Die gleiche Waffe benutzte seinerzeit auch die Zwickauer Terrorzelle. Diesem Modell wird seitdem bundesweit große Aufmerksamkeit geschenkt. Ballistische Vergleiche haben ergeben, dass in jedem Fall ein Schalldämpfer verwendet wurde. Sowas lässt sich an einschlägigen Abriebspuren am Projektil erkennen.«

»Und ich kann mich darauf verlassen: Die Waffe ist nicht registriert.«

»Wie gesagt, die Knarre ist aus kriminaltechnischer Sicht so clean wie die Heilige Jungfrau.«

»Und was ist mit der Walther von diesem Brenner?«

»Ebenfalls Fehlanzeige. Keine Übereinstimmungen. Weder mit dem Mordfall in Dessau noch mit dem in Grafenstein. Nach meiner Einschätzung wurde das Ding sowieso kaum benutzt. Darauf deuten zahlreiche Spuren von Korrosion am Lauf und an der Mechanik hin. Ein Wunder, dass man mit der Waffe überhaupt noch einen Schuss abfeuern konnte.«

»Wäre auch zu schön gewesen, um wahr zu sein«, seufzte die Staatsanwältin und legte auf.

Dann hatte der Winzer also tatsächlich die Wahrheit gesagt. Zum ersten Mal musste sie der Alten insgeheim Abbitte leisten. Seufzend machte sie sich auf den Weg zu ihrer Vorgesetzten.

 

»Tut mir leid, wenn ich störe, Frau Doktor, aber ich hörte gerade von einem Mitarbeiter der Kriminaltechnik, das BKA habe in der Sache Grafenstein eine Sonderkommission eingerichtet. Wissen Sie was davon?«

»Das ist nicht Ihr Ernst!«

Die Oberstaatsanwältin klang mal wieder so, als käme sie gerade von einer Gesangsstunde in einer verräucherten Nachtbar. Irgendwie hatte Schäfer recht mit seinem Vorstoß beim Personalrat, die Raucherecke hinter der Kantine abzuschaffen. Sie schnüffelte aufdringlich. Hier roch es auch nicht gerade nach Fichtennadeln. Offenbar rauchte die Alte sogar in ihrem Büro.

»Mein voller Ernst. Ich habe es auch erst gerade durch die KTU erfahren. Also hat man Sie auch nicht...«

Weiter kam sie nicht. Dr. Breuer riss den Hörer vom Telefonapparat und drückte auf eine Schnellwahltaste.

»Geben Sie mir Dr. Braun.«

Für einen Moment herrschte Stille. Sabine Breuer rollte mit den Augen und schüttelte wie wild den Kopf.

»Es ist mir gelinde gesagt schnurzegal, wo der gerade steckt. Richten Sie ihm gefälligst aus, Oberstaatsanwältin Dr. Breuer aus Trier möchte ihn sprechen. Und zwar pronto, sonst wende ich mich an den Präsidenten. Und dann raucht's bei euch im Gebälk.«

Mit jedem Satz wurde ihre Stimme schriller. Es dauerte knapp zehn Sekunden, ehe sich eine Männerstimme meldete. Dr. Breuer drückte die Lautsprechertaste.

»Frau Dr. Breuer«, säuselte der Mann am anderen Ende der Leitung. »Wie schön, dass Sie anrufen. Was kann ich für Sie...«

Dr. Breuer ließ ihr Gegenüber nicht ausreden.

»Was habt ihr bei uns in Grafenstein verloren, und dann auch noch ohne mein Wissen? Und wie kommt ihr dazu, unsere Kriminaltechnik in die Ermittlungen einzubeziehen? Was sollen diese Alleingänge?«

Der Mann am anderen Ende der Leitung räusperte sich.

»Der Fall Grafenstein hat völlig neue Dimensionen erreicht. Bei der Waffe, deren Projektil man bei diesem Brenner gefunden hat, handelt es sich mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit um eine Ceska. Jetzt denken Sie einmal nach. Erst wird dieser tunesische Einzelhändler überfallen, und kurz darauf geht auch noch die Disco von einem Türken in Flammen auf. Da schrillen natürlich nicht nur bei uns sämtliche Alarmglocken. Auch der Staatsschutz möchte sich nicht noch einmal den Vorwurf gefallen lassen, bei Übergriffen auf Personen mit Migrationshintergrund gepennt zu haben. Schon gar nicht so kurz vor den Wahlen. Und was die Mordserie anbelangt: Nach übereinstimmender Meinung ist die Angelegenheit sowieso längst länderübergreifend: Betroffen sind Sachsen, Sachsen-Anhalt und jetzt auch noch Rheinland-Pfalz. Das ist jetzt kein Job mehr für Kleinstadtermittler, jetzt müssen Fachleute ran. Ich habe Ihnen einen meiner besten Männer geschickt. Lutz Netterscheid.«

Sabine Breuers Gesicht färbte sich puterrot. Ihre Stimmlage erklomm die obersten Oktaven.

»Sie sind wohl nicht mehr bei Trost! Was denken Sie eigentlich, wen Sie vor sich haben? Irgendeine verschissene Polizeikommandantur in der Pampa? Ich bin leitende Oberstaatsanwältin, und ich bin es nicht gewohnt, von irgendwelchen Schreibtischtätern aus dem BKA übergangen zu werden. Ich sage Ihnen, das hat ein Nachspiel! Und pfeifen Sie gefälligst diesen Netterscheid zurück. Sowas wie in Grafenstein regeln wir selbst.«

Der Mann am anderen Ende der Leitung blieb absolut cool. Anscheinend hatte er mit einer solchen Reaktion gerechnet.

»Und ich bin Kriminaldirektor, Frau Dr. Breuer. Nur zu Ihrer Information: Wir vom BKA sind weisungsgebunden. Falls Sie sich also beschweren wollen, dann wenden Sie sich bitte an das Innenministerium in Berlin.«

Er machte eine kurze Pause.

»Oder sie sprechen mal mit Ihren Kollegen in Karlsruhe.«

Kommentarlos hieb Sabine Breuer auf die Taste zum Beeden des Gesprächs.

»Dämliches Arschloch!« fauchte sie.

 

So aufgebracht hatte Stefanie ihre Chefin lange nicht mehr erlebt. Die Oberstaatsanwältin öffnete die Schreibtischschublade, kramte ihre Zigarillos hervor und zündete sich ein Stäbchen an. Demonstrativ öffnete Stefanie das Fenster.

»Hängt der Verfassungsschutz inzwischen etwa auch mit drin?«

»Wie kommen Sie denn darauf?« grunzte die Alte.

»Na, dieser Braun meinte doch sinngemäß, nochmal wolle sich der Staatsschutz nicht den Vorwurf gefallen lassen, bei Übergriffen auf Leute mit Migrationshintergrund geschlafen zu haben.«

»Der redet viel, wenn der Tag lang ist«, winkte die Oberstaatsanwältin ab. »Was weiß denn ich? Bin ich Jesus? Wächst ein Kornfeld in meiner Hand? Sollten allerdings die Kölner tatsächlich mit drin hängen, dann sind wir tatsächlich raus aus der Nummer.«

Sie nahm einen kräftigen Zug und hustete dabei wie ein Lungenkranker im Endstadium.

»Trommeln Sie Ihre Leute zusammen«, fuhr sie krächzend fort, »und machen Sie sich gefälligst auf den Weg nach Steinfeld. Ich habe keine Lust, dass einer vom BKA dort unkontrolliert herumturnt. Herrje, bin ich die Einzige in dieser gottverdammten Dienststelle, die noch selbständig denken kann?«

Jetzt war Stefanie eingeschnappt.

»Ich verspüre nicht die geringste Lust, der Feuerwehr beim Löschen zuzuschauen. Die Ermittlungen vor Ort sind Polizeiarbeit und nicht der Job einer Staatsanwältin. Wozu haben wir schließlich die Kripo und das BKA? Zweitens war ich heute Morgen bereits in Grafenstein, wie Sie wissen. Inzwischen hocke ich ja mehr am Steuer meines Autos als im Büro.«

»Früh auf den Beinen war ich heute Morgen selber«, konterte ihr Gegenüber und pusselte sich dabei eine Tabakfaser von den Lippen. »Und dabei habe ich Ihnen auch noch gleich den Arsch gerettet, meine Liebe. Sehen Sie also zu, dass Sie nach Grafenstein kommen. Behalten Sie gefälligst diesen Netterscheid im Auge. Der macht nichts, was ich nicht vorher ausdrücklich abgesegnet habe. Habe ich mich deutlich genug ausgedrückt?«

»Yes, Ma'm«, seufzte Stefanie.

Noch während sie die Tür zum Büro der Oberstaatsanwältin hinter sich zuzog, meldete sich ihr Smartphone.

»Stefanie?« meldete sich eine helle Stimme. Es war Lydia Sartorius. »Sie sollten unbedingt nach Steinfeld kommen. Das ist ein kleines Nest kurz vor Grafenstein. Dort ist eine Diskothek abgebrannt. Es gab zwei Tote.«

»Bin schon unterwegs«, seufzte sie ergeben.

 

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Als wir in die Auffahrt zum Yachthafen abbogen, konnte ich bereits von weitem ein dunkelgrünes Unikum ausmachen.

»Was macht denn dein Unimog beim Ballensiefen?« fragte Lena.

Ich zuckte die Schultern.

»Keine Ahnung. Vielleicht war es dem Ding bei uns daheim zu langweilig.«

Mit einem energischen Griff in die Pistolengriffapparatur brachte Lena das Cabrio zum Stehen. Ich blickte mich um. Wir hatten Wochenende, es herrschte relativ gutes Wetter, und da gab es für das Werftteam normalerweise eine Menge zu tun. Doch heute schien der Yachthafen wie ausgestorben. Nur ganz vereinzelt konnte man Leute in Arbeitsmontur entdecken. Genauso wie im Restaurantbereich lief es neuerdings auch im Wassersportsektor nicht mehr richtig rund.

Ich zerrte den Rolli von der Rücksitzbank, klappte ihn auseinander und half Lena hinein. Wie sie das jedesmal ohne fremde Hilfe schaffte, blieb mir ein Rätsel. Sie schien wohl Dauergast im Fitnesscenter zu sein.

An unserem Stammtisch hockte der noch immer nur zur Hälfte ausgewickelte Hohepriester Imhotep. Zum Glück, denn was einem bereits so ins Auge fiel, war nicht gerade für das Vorabendprogramm geeignet. Caddys Gesicht sah immer noch aus, als hätte es Bekanntschaft mit einem Mixer gemacht.

»Seit wann kannst du Unimog fahren?« fuhr ich ihn an und ließ mich gleichzeitig in einen der freien Sessel fallen.

Caddy hob abwehrend die Arme.

»Sch'ab nix kaputtgemacht. Ehrlich, ich schwör'! Sch'ab nur gemerkt, dass die Lenkung kaputt is'.«

»Blödsinn! Das ist ein Oldtimer, du Ignorant! Mit sowas kann halt nur nicht jeder umgehen.«

Ballensiefen stürzte auf unseren Tisch zu zu.

»Herrje, Frau Gräfin! Was ist Ihnen denn zugestoßen?«

»Kleine unbedeutende Unpässlichkeit«, antwortete sie mit aristokratischer Grandesse. »Machen Sie sich mal keine Kopf, lieber Ballensiefen. Bringen Sie uns lieber eine Flasche vom Feinsten. Sie wissen schon, die mit dem orangefarbenen Etikett. Ich denke, heute können wir alle einen guten Schluck gebrauchen.«

Mit glänzenden Augen verschwand Ballensiefen in Richtung Ausschank. Ich schaute mich um. Viel los war hier tatsächlich wenig. Ziemlich weit hinten in einer Ecke saßen zwei jüngere Leute und hatten anscheinend etwas mit einem Bootsmakler zu bereden. An einem anderen Tisch hockte ein Ehepaar mit Dackel. Eindeutig Touristen. Aus dem Ort ließ sich seit den Geschehnissen der vergangenen Tage jedenfalls kaum noch jemand blicken. Da kam die Bestellung einer Flasche Champagner natürlich gerade recht.

»Gibt's was Neues?« fragte ich und zog die Schachtel Moods aus meiner Hemdtasche.

»Hier wird nicht geraucht«, meinte Ballensiefen, der just mit einem Tablett voll hochstieliger Gläser an den Tisch eilte.

»Was du nicht sagst«, erwiderte ich und ließ mein Feuerzeug aufschnappen. »Und bring mir beim nächsten Mal gefälligst einen Aschenbecher mit.«

 

Neben meinem Unimog kam ein japanischer Kleinwagen zum Stehen. Er trug die Aufschrift unseres örtlichen Käseblatts. Sylvia warf die Fahrertür hinter sich ins Schloss und stürmte herein.

»In Steinfeld gab's zwei Tote«, keuchte sie atemlos.

Ich hieb mit der flachen Hand auf die Tischplatte.

»He, mal nicht so heftig«, beschwerte sich Ballensiefen, der gerade dabei war, unsere Gläser mit dem edlen Prickelwasser der Witwe Cliquot zu füllen.

»Dann hat der Öztürk also doch recht gehabt. Sein Schwager und dessen Freundin, stimmt's?«

Sylvia nickte.

»Bis zur Unkenntlichkeit verbrannt. Kelim Öztürk musste sie noch an Ort und Stelle identifizieren. Die Beiden haben anscheinend im Dachgeschoss übernachtet und wurden dort vom Feuer überrascht.«

»Weiß man schon Näheres über die Brandursache?«

Sylvia nickte.

»Als ich den Unglücksort verließ, hieß es von Seiten der Freiwilligen Feuerwehr, der Verdacht auf Brandstiftung würde sich immer mehr erhärten. Jedenfalls hat die KTU Spuren eines Brandbeschleunigers und ein Billighandy entdeckt. Möglich, dass es als Zünder diente. Das muss aber erst noch geprüft werden«

»Die Spusi?« horchte ich auf. »Ist die Lydia etwa auch vor Ort?«

Ich hörte, wie neben mir jemand sehr heftig ausatmete. Lena bemühte sich zwar eisern um Contenance, es gelang ihr jedoch nicht wirklich.

»Nicht nur die«, fuhr die Reporterin vom Grafensteiner Tageblatt fort. »Wie man hört, kümmert sich neuerdings das BKA um den Fall. Irgend so ein Kriminaloberfuzzi aus Meckenheim ist angerückt und will angeblich eine Sonderkommission einrichten.«

»Wird auch langsam Zeit«, meinte Ballensiefen. »Diese beiden Hanseln aus Trier und die junge Staatsanwältin bekommen das doch alles nicht in den Griff. Da muss jetzt endlich mal ein Fachmann ran.«

Ich schaute ihn nachdenklich an.

»Mit Fachleuten wäre ich vorsichtig, mein Lieber. Fachleute finden gerne Dinge heraus, die andere noch lieber im Verborgenen schlummern lassen würden. Denk nur an deine zwei Saftschubsen.«

»Skøl!«, meinte Lena und erhob ihr Glas.

»Worauf trinken wir?« fragte Sylvia.

»Auf das, was wir lieben.«

»Und die Toten von Grafenstein«, ergänzte Ballensiefen. »Friede ihrer Asche.«

Niemand beschwerte sich. Der Witwensprudel schmeckte jedenfalls wie Teufel.

Und wenn man vom Teufel spricht...

 

~~~~~~~

 

Die Tür zu Ballensiefens Restaurant flog auf. Der Typ, der im Eingang auftauchte, sah genauso aus wie Quentin Tarantino in einem seiner wildesten Streifen. Und das ist zweifellos From dusk till dawn mit Harvey Keitel und George Clooney in der zweiten Hauptrolle. Der Typ war schätzungsweise so alt wie ich, trug halblange dunkle Haare, die ihm wirr in die Stirn hingen, einen olivgrünen Anorak, ein schwarzes T-Shirt und hellgraue Jeans. Auf mich machte der Typ den Eindruck eines paranoiden Serienmörders, der gerade aus der geschlossenen Psychatrie getürmt war. Na, bravo! So einer fehlte uns noch.

Der Annorakträger ließ die Tür hinter sich ins Schloss fallen und schaute sich nach beiden Seiten um. Aha, dachte ich bei mir. Der sucht sich jetzt erst mal in aller Ruhe das nächste Opfer aus. Sein mit einem italienischen Wetzstein höllisch scharf geschliffenes Bowiemesser verbarg er bestimmt unter seinem Parka. Oder eine Smith & Wesson 357 Magnum. Vielleicht aber auch einen Sprengstoffgürtel mit zehn Stangen C4. Man gönnt sich ja sonst nichts.

Mit einem Mal waren auch die anderen bei uns am Tisch auf den seltsamen Gast aufmerksam geworden. Jedenfalls wurde es verdächtig still um mich herum. Um nicht zu sagen mucksmäuschenstill. Das Fallen einer Stecknadel hätte wie das Klirren einer Eisenstange auf blank poliertem Marmorboden geklungen. Neben mir schluckte Caddy so heftig, dass man das Knirschen seines Adamsapfels bestimmt bis nebenan hören konnte. Der Typ hakte den linken Daumen in den Gürtel seiner Jeans und stakste lässig auf unseren Tisch zu.

»Netterscheid, Bundeskriminalamt. Darf ich Ihnen ein paar Fragen stellen?«

Er nickte jedem von uns zu. Bei Caddy stutzte er.

»Sie sahen früher aber bestimmt auch mal besser aus.«

Von wegen paranoider Serienmörder. Auf nix ist mehr Verlass.

 

»Tut mir leid, falls ich Sie bei ihrer Unterhaltung stören sollte«, meinte der Typ vom BKA und nippte kurz an seinem Mineralwasser, das ihm Ballensiefen in Windeseile serviert hatte. Gleichzeitig rückte er ein wenig vom Tisch ab und schlug dabei die Beine übereinander. Leider aber auch gleichzeitig von unten gegen die Tischplatte. Unsere Gläser begannen zu tanzen.

»Sorry«, meinte der Bundeskriminale und schaute sich verlegen um.

»Nix passiert«, antwortete Caddy und hielt dabei sein Glas umklammert.

»Ich bin hier, um die Todesfälle aufzuklären.«

»Meinen Sie die Wasserleiche und beiden Brandopfer von heute Morgen?« fragte Ballensiefen überflüssigerweise.

»Hmm«, brummte Netterscheid.

Gleichzeitig versuchte der Anorakträger, die Zitronenscheibe aus seinem Glas zu fischen. Jedesmal, wenn er einen größeren Schluck nahm, legte sich die Scheibe widerspenstigerweise vor seine Lippen. Das war mit der Grund, warum ich beim Ballensiefen eigentlich nur Kaffee oder Wein trank. Okay, Veuve Cliquot natürlich auch. Hauptsache ohne Zitrone.

»Lassen Sie mal hören«, versuchte ich es auf die joviale Tour. »Was ist denn da eigentlich genau passiert? War wohl Brandstiftung, oder?«

Netterscheid schaute mich mit den wässrig glänzenden Augen einer übermüdeten Bulldogge an. So richtig taufrisch schien auch nicht zu sein. Genauso wenig wie die Michels. Mit anderen Worten, total überarbeitet. Quasi kurz vor dem Blackout. Ich dachte an mein Weingut. Ich sollte mich besser auch mal häufiger am eigenen Schreibtisch blicken lassen, statt immer nur Ballensiefens Restaurantkasse aufzufrischen.

»Was hört man denn so?«

»Dass es angeblich Brandstiftung war.«

»Und wer sagt das angeblich?«

Ich deutete auf unsere rasende Reporterin.

»Die da.«

»He, man zeigt nicht mit dem nackten Finger auf eine Dame.«

Ich zog das rechte Augenlid herunter.

»Solange du angezogen bist, kann ich auf dich zeigen, mit was ich Lust habe.«

»Bist du heute wieder charmant.«

»Sie sind die Zeitungsreporterin, stimmt's?« stoppte Netterscheid unseren Disput. »Hatte ich Sie nicht gebeten, über unsere Ermittlungsergebnisse vorerst Stillschweigen zu wahren? Zu dumm, jetzt ist der ganze Überraschungseffekt dahin. Okay, mein Fehler. Ein nächstes Mal wird es für Sie so rasch jedenfalls nicht mehr geben.«

Netterscheids Blick verlor deutlich an Wässrigkeit. Unwillkürlich huschte ein Grinsen über meine Lippen. Ganz schön cool, der Bursche. Wäre mir früher sowas passiert, ich hätte wahrscheinlich anders reagiert. Sylvia presste die Lippen zusammen und schwieg.

Netterscheid blickte erneut in die Runde. Endlich hatte er es geschafft, das Zitronenscheibchen aus dem Glas zu fischen. Er setzte das Glas erneut an, nahm einen kräftigen Schluck ...und verschluckte sich prompt. Unwillkürlich begann er wie ein waidwunder Hirsch zu röhren. Ich klopfte ihm auf den Rücken.

»Nicht so hastig, junger Freund. Es nimmt Ihnen doch keiner was weg.«

Der Typ vom BKA hustete und räusperte sich abwechselnd. Gleichzeitig schossen ihm die Tränen in die Augen.

»He, Tuttifrutti. Jetzt bring dem armen Kerl doch endlich mal was Gescheites zu trinken. Aber tu 'nen Schnaps rein, damit er sich nicht wieder so erschrickt.«

 

»Sie meinten eben, Sie wären hier, um die Todesfälle aufzuklären?« fragte Lena.

»Das ist korrekt«, krächzte Netterscheid. »Als erstes möchte ich wissen, wer von Ihnen alles Kontakt zu den fünf Toten hatte.«

»Fünf?« wunderte sich Lena.

»Also, ich weiß nur was von der Toten im Hafen und den beiden Brandopfern aus der Disco.«

Netterscheid schaute sie schräg von der Seite her an.

»Jetzt enttäuschen Sie mich aber. Spätestens seit heute Morgen dürfte Ihnen eigentlich bekannt sein, dass in Dessau mit der gleichen Waffe auch ein gewisser Dr. Kohn umgebracht worden ist. Und dann steht noch das unerwartete Ableben von Luise Kahlert in Chemnitz im Raum.«

Von wegen übermüdete Bulldogge. Von dessen zweifelhaftem Auftreten sollte man sich besser nicht beirren lassen. Trotzdem oder vielleicht gerade deshalb runzelte Lena die Stirn.

»Wer um alles in der Welt ist Luise Kahlert?«

»Stimmt. Das können Sie tatsächlich nicht wissen, es sei denn, jemand in Trier hätte den Mund nicht halten können. Frau Kahlert ist diejenige, die zunächst im Verdacht stand, diesen Dr. Kohn umgebracht zu haben.«

»Und wer hat diesen Dr. Kohn nun tatsächlich auf dem Gewissen?« fragte Lena.

»Keine Ahnung. Wissen Sie's?«

»Und diese Luise Kahlert ist auch tot? Woran ist sie denn gestorben?«

»Genickbruch. Folge eines Verkehrsunfalls.«

»Schlimm, aber was spielt das in diesem Fall für eine Rolle?«

»Sagen Sie's mir.«

Fünf Tote, nicht die Spur eines Täters und ein neurotischer BKA-Beamter. Na, Mahlzeit!

»Fünf Tote, kein Tatverdächtiger. Hinzu kommen noch die beiden unaufgeklärten Überfälle, die abgefackelte Disco und die beiden verschwundenen Damen aus den Karpaten. Da dachte ich mir, frag doch einfach mal bei den Eingeborenen nach. Vielleicht wissen die ja was.«

»Eingeborene«, grunzte Sylvia und deutete dabei verstohlen auf Caddy. »Klar. Rheinland-Pfalz grenzt ja auch ziemlich dicht ans Magreb.«

»Sie sind erst mal ganz still«, meinte der Mann vom BKA. »Mit Ihnen rede ich erst wieder, wenn Sie die Klappe halten können. Wundern Sie sich also nicht, wenn Sie demnächst genauso wie jeder andere brav auf die offizielle Presseerklärung warten müssen. Bin gespannt, was Ihr Chefredakteur dazu sagt.«

»Ist ja gut«, murmelte sie kleinlaut.

Demonstrativ legte Netterscheid die rechte Hand an seine Ohrmuschel.

»Was meinten Sie?«

»Ich hab's kapiert!« wiederholte sie lauter.

Netterscheid nickte befriedigt.

»Na, also. Geht doch.«

»Möchten Sie noch was trinken?« fragte Ballensiefen.

Netterscheid winkte ab.

»Lassen Sie mal. Ich habe jetzt noch Ihren Sprudel in der Nase. Mal was anderes. Wo kann man hier übernachten?«

Ballensiefen machte ein nachdenkliches Gesicht.

»Am Wochenende? Bei uns in Grafenstein? Ohne Reservierung? Schwierig, schwierig. Also, ich weiß da im Augenblick nichts.«

Er deutet auf mich.

»Was ist mit dir Hagen? Du hast doch ein Gästezimmer.«

»Ist von meinem Onkel belegt.«

»Der ist doch mit dieser Margarete unterwegs.«

»Aber doch nicht ewig. Heute abend trudelt der bestimmt wieder bei uns ein.«

Netterscheid runzelte die Stirn.

»Sie haben einen Onkel? Und wer ist überhaupt diese Margarete?«

»Mein Onkel ist auf der Durchreise und hält sich nur für ein paar Tage bei uns auf. Margarete ist eine Bekannte von Marianne.«

Netterscheids Augenbrauen tanzten förmlich Tango.

»Zu wem gehört jetzt wieder diese Marianne?«

»Zu Lydia«, rutschte mir heraus.

Das war genau der Stoff, aus dem Gerüchte gemacht wurden.

»Sag bloß«, ereiferte sich Ballensiefen. »Deine Marianne hat was mit dieser Kriminalen?«

Netterscheid biss sofort zu.

»Ihre Marianne?«

Nun war ich an der Reihe, langsam die Geduld zu verlieren.

»Das ist doch nicht 'meine Marianne'! So ein Blödsinn. Sie arbeitet halbtags bei mir auf dem Weingut. That's all.«

»Na, ich weiß nicht«, feixte Ballensiefen. »Seid ihr nicht sogar mal als 'Paar des Monats' im Gespräch gewesen?«

Ich erhob mich drohend aus meinem Sessel.

»Willst du Streit, Tuttifrutti?«

»Herr Ballensiefen heißt 'Tuttifrutti'?« wunderte sich Netterscheid.

»Ja!« ertönte es aus vier Kehlen gleichzeitig.

»Aber nur nach Feierabend«, knurrte unser Gastwirt.

Netterscheid wischte sich eine Haarsträhne aus seinem Gesicht.

»Nur fürs Protokoll: Wer ist jetzt wieder diese Lydia?«

»Die Freundin von Marianne«, meinte ich kurz angebunden und deutete dabei nach draußen.

»Da kommt sie gerade. Fragen Sie sie doch selbst.«

Auf dem Parkplatz röhrte der Auspuff des Audi R8 noch einmal kurz auf, ehe der Motor verstummte. Eine aufregende Enddreißigerin in atemberaubendem Kostüm und hochhackigen Pumps kletterte aus dem Sportwagen. Sie schob die Sonnenbrille in ihren Haarschopf zurück und betrat das Restaurant.

»Bei dir wird's heute ja noch richtig lebhaft«, meinte ich zu Ballensiefen. »Pass auf, gleich kommen bestimmt auch noch die anderen Komiker.«

Ich sollte recht behalten.

 

Nach und nach trudelten Schäfer mit Kroppke und ganz zum Schluss die junge Staatsanwältin ein. Eigentlich fehlten nur noch Melanie Balfelder, der Öztürk und unser brauner Zirkusclown, und wir hätten alle üblichen Verdächtigen mit einem Schlag beisammen gehabt.

»Hoffentlich hast du genug auf dem Herd, falls die mit einem Schlag der kleine Hunger packt.«

Ballensiefen wieselte auf einen freien Tisch am Fenster zu und begann Getränke- und Speisekarte zu sortieren. Netterscheid erhob sich.

»War nett mit Ihnen zu plaudern«, meinte er zum Abschied und stiefelte hinüber zu seinen Kollegen.

Lena stieß mich an. Erst jetzt fiel mir auf, dass sie die ganze Zeit mit ihrem Smartphone herumgespielt hatte.

»Der hat es faustdick hinter den Ohren.«

»Wie kommst du darauf?«

»Ausbildung in Köln, anschließend Kommissar in Duisburg und Bonn. Wechsel zum LKA Düsseldorf, inzwischen Hauptkommissar beim BKA. Fachmann für Terrorismusabwehr.«

Ich runzelte die Stirn.

»Wozu brauchen wir denn in Grafenstein einen Terrorismusexperten?«

Lena steckte ihr Smartphone zurück in die Jackentasche.

»In Berlin gibt es allem Anschein nach ein paar Leute, die der Affäre hier vor Ort einige Aufmerksamkeit schenken.«

»Was meinst du damit?«

»Eigentlich ist Grafenstein doch ein verschlafenes Nest. Abgesehen vielleicht von unseren legendären Weinfesten. Urplötzlich geschieht bei uns ein Mord, der mit einem weiteren Tötungsdelikt in einem anderen Bundesland zusammenhängt, und auf einmal häufen sich Straftaten mit ausländerfeindlichem Hintergrund. Kein Wunder, dass sich das BKA einschaltet. Eine weitere Ermittlungspanne wie seinerzeit nach den NSU-Anschlägen wollen die jedenfalls nicht noch einmal riskieren. Das ist die eine Seite der Medaille. Die andere ist, dass Melanie Balfelder gezielt demontiert werden soll. Denk nur mal an die beiden Rumäninnen. Im übrigen stammt sie aus dem Osten. Melanie Balfelder gilt zwar als parteilos, neigt allerdings deutlich dem linken politischen Spektrum zu. Vor der Wende hat sie in der dortigen Justizverwaltung gearbeitet. Und nicht nur sie. Auch deine ehemalige Vorgesetzte bei der Staatsanwaltschaft Bochum stammt bekanntlich aus den Neuen Bundesländern. Dass die damalige Gerichtsbarkeit nach westlichen Maßstäben nicht so ganz koscher war, das muss ich dir ja wohl nicht erklären. Melanie Balfelder und die Oberstaatsanwältin kennen sich zudem privat. Sie sind Mitglied im gleichen Golfklub. Verstehst du jetzt, wieso die Breuer bei dir auf dem Weingut aufgetaucht ist? Du, mein Freund, bist der ziemlich gleichgültig. Die Alte wollte sich vor Ort lediglich ein genaues Bild vom Ermittlungsstand machen und gleichzeitig dafür sorgen, dass die Wellen nicht allzu hoch schlagen. Stell dir vor, die Michels hätte dich an Ort und Stelle verhaften lassen. Die Schlagzeile hätte ich lesen mögen.«

 

Weil die anderen am Tisch inzwischen hellhörig wurden, stand ich auf und schob Lena in ihrem Rollstuhl nach draußen. Allerdings konnte ich nicht verhindern, dass uns Sylvia folgte.

»Kann es sein, dass die beiden für die Stasi gearbeitet haben?«

Lena schüttelte den Kopf.

»Kann ich mir eigentlich nicht vorstellen, sonst wäre die Breuer niemals Oberstaatsanwältin geworden, und Melanie Balfelder hätte sich ihre Kandidatur zur Bürgermeisterin ebenfalls abschminken können. Allerdings waren sie vor der Wende stramme Genossinnen, mit SED-Parteibuch und jeder Menge Auszeichnungen. Die Breuer wurde bei uns auch deshalb erst einmal ziemlich scharf durchleuchtet, wie man hört.«

Sylvia Roth machte sich eifrig Notizen. Ich wusste nicht, ob mir das gefallen sollte.

»Und die Balfelderin?«

»Alles rote Socken in deren Familie. Ihr Opa soll vor Hitlers Machtergreifung führendes Mitglied im Spartakus-Bund gewesen sein. Ist angeblich bei einer Aktion der SA umgekommen.«

»Stimmt. Sophia erwähnte sowas.«

Lena lächelte.

»Ach, interessiert sich die alte Dame neuerdings etwa auch für das Vorleben unserer Bürgermeisterin? Respekt. Was die auf ihre alten Tage daheim vor dem Kamin so alles herausbekommt.«

»Miss Sophie hat's drauf«, nickte Sylvia. »Den Verfassungsschutz packt die jedenfalls locker in die Tasche.«

»Und ausgerechnet Melanie Balfelders Sohn wechselt die Seiten.«

Lena und Sylvia schauten mich verblüfft an. Ich zuckte die Schultern.

»Jedenfalls pflegt er Kontakte zur braunen Szene, wie man hört. Deshalb hat ja auch die Balfelderin so einen Rochus auf den Schröder. Aber was soll sie machen? Sie kann den Buben ja nicht wegsperren.«

»Und was sagt der Ballensiefen dazu?« wollte Sylvia wissen. »Der Max und die Julia sind doch ein Paar.«

Unwillkürlich brach ich in schallendes Gelächter aus.

»Wer hat dir denn diesen Blödsinn erzählt? Da träumt der Max vielleicht von. An dem Abend, als Caddy überfallen wurde, tauchten die beiden gemeinsam in Ballensiefens Restaurant auf. Ich sage dir, der Max war schneller wieder draußen, als der überhaupt 'Ups' sagen konnte.«

»Der Ballensiefen hat den Max rausgeschmissen?«

Ich nickte.

»Aber hallo! Und die Julia hat seitdem Hausarrest. Bis zum Abi. Wenn nicht länger.«

»Wer hat wen rausgeschmissen?« hörte ich hinter mir eine Stimme.

 

Netterscheid hatte sich unbemerkt herangeschlichen. Erstklassige Aktion. Vor zweihundert Jahren hätte der bei den Apatschen bequem als Kundschafter Karriere machen können.

»Niemand. Privatsache.«

Netterscheid zeigte sich von meiner Abfuhr unbeeindruckt.

»Dann beenden Sie bitte Ihre Privataudienz und kommen Sie wieder herein. Ich habe etwas mitzuteilen.«

Kurz darauf ließ er die sprichwörtliche Katze aus dem Sack.

»Wie Sie wissen, hat das BKA wegen der Vorfälle der vergangenen Tage unter meiner Leitung eine Sonderkommission eingerichtet. Wir, das heißt die Kripo Trier, die zuständige Staatsanwaltschaft und ich verspüren allerdings wenig Lust, dass sich die Ermittlungen unnötig in die Länge ziehen. Herr Ballensiefen war so nett, uns seinen Nebenraum zur Verfügung zu stellen. Ich möchte Sie gleich offiziell als Zeugen vernehmen. Des weiteren darf ich Sie bitten, in den kommenden Tagen weder in Urlaub zu fahren noch ihre kranke Tante im Ausland zu besuchen, falls Sie verstehen, was ich damit meine.«

Lena schob sich mit ihrem Rollstuhl heran.

»Heißt das, wir stehen unter Verdacht?«

»Das hat niemand behauptet«, erwiderte er knapp.

»Fein«, fuhr ihm Lena in die Parade. »Mir jedenfalls geht es im Augenblick leider nicht so gut. Im übrigen muss ich mich dringend frisch machen. Hagen, würdest du mich bitte zu meinem Wagen begleiten und mich zur Burg fahren? Ach, ehe ich es vergesse: Herrn Moutussi geht es im Augenblick auch nicht so besonders, wie Sie sich vielleicht vorstellen können. Jedenfalls ist er nicht vernehmungsfähig. Ein ärztliches Attest reicht er Ihnen bei Gelegenheit gerne nach. Sylvia, ich sehe gerade, Sie sind mit dem Auto da. Würden Sie Herrn Moutussi bitte zu seiner Wohnung begleiten? In diesem Zustand kann er sich unmöglich selbst hinters Steuer setzen.«

»Das ist doch wohl nicht Ihr Ernst«, rutschte es Stefanie Michels heraus.

Lena ließ sie ganz kurz die Kerntemperatur einer Gletscherspalte im Nordpolarmeer spüren.

»Wo haben Sie eigentlich Ihr Examen gemacht? Hat man Ihnen nicht beigebracht, dass man Zeugen, abgesehen bei Anwesenheit unmittelbar an einem Tatort, nicht so mirnichts dirnichts einvernehmen kann? Sollten wir allerdings unter Verdacht stehen, dann besorgen Sie sich gefälligst einen entsprechenden Beschluss des zuständigen Ermittlungsrichters. Gefahr im Verzug, Fluchtgefahr oder die Gefahr der Verschleppung von Beweismitteln kommt bei uns ja wohl kaum in Betracht. Muss ich noch deutlicher werden?«

Ich sag's ja. Zickenkrieg, wohin man sieht. Frau Staatsanwältin musste Frau Strafverteidigerin irgendwann einmal ganz gewaltig auf die Designer-Pumps gestiegen sein. Aber wie sagt schon der Bayer: Nix genaues weiß man nicht.

 

Stefanie Michels wollte protestieren, doch Netterscheid fiel ihr überraschend ins Wort.

»Okay, die Runde geht an die Dame im Rollstuhl. Machen wir Schluss für heute.«

Er wandte sich direkt an Lena. Seine Stimme verlor dabei nicht die Spur an Verbindlichkeit.

»Das hier ist kein Spiel, Lady. Hier geht es nicht um einen Fondsmanager, der seine Anleger beschissen hat. Das sind doch gewöhnlich die Fälle, mit denen Sie sich normalerweise herumschlagen, nicht wahr? Da draußen läuft ein Mörder frei herum. Nach allem, was bisher passiert ist, bin ich mir keinesfalls sicher, ob es bei den drei Toten bleibt. Denken Sie an meine Worte.«

Ein Brillenkaiman hätte in diesem Augenblick nicht freundlicher lächeln können.

»Keine Bange, die richterlichen Genehmigungen für weitere Ermittlungsmaßnahmen werde ich mir besorgen. Das ist eine meiner leichtesten Übungen.«

Wortlos drehte er sich auf dem Absatz herum und ging hinaus zu seinem Wagen. Die beiden Hanseln von der Trierer Kripo folgten ihm wortlos.

»Netterscheid hat recht, Sie machen alle einen Riesenfehler«, murmelte Stefanie Michels.

Währenddessen schlüpfte sie in ihren Mantel und stopfte ihr Smartphone in die Außentasche.

»Wenn das in dem Tempo so weitergeht, dann machen Sie uns anschließend gefälligst keine Vorwürfe.«

»Was soll weitergehen?« wollte unsere Lokalreporterin wissen. »Ich finde, bis jetzt war das hier schon Zauber genug.«

»Warten Sie's ab«, erwiderte die Staatsanwältin und verließ ebenfalls das Restaurant.

 

Lydia hingegen schien die Gelassenheit in Person. Die Chefin der Trierer Kriminaltechnik strich sich lasziv durch ihre Haare. Sie sah mal wieder genauso aus wie eine Investmentbankerin, die gerade vom Friseur kam. Ich dachte an Marianne. Reine Verschwendung. Sowas gehörte verboten. Mindestens.

»Ich habe in der Disco Spuren eines Brandbeschleunigers gefunden. Und ein Handy, das eventuell als Zünder gedient haben könnte. Sollte derjenige gewusst haben, dass sich noch zwei Personen in dem Gebäude aufhielten, haben wir es zusätzlich mit einem Doppelmord zu tun. Seit Zwickau ist das BKA nicht mehr sonderlich zimperlich bei seinen Ermittlungsmethoden, sofern es sich um ein Verbrechen mit anscheinend ausländerfeindlichem Hintergrund handelt.«

»Na, also«, trumpfte unsere Lokalreporterin auf. »Dann haben Sie doch die Täter. Schauen Sie sich doch nur mal den Caddy an. Der ist kurz vorher selbst so Typen mit Springerstiefeln in die Hände gefallen. Hagen und mir wollten die auch ans Leder.«

Lydia winkte ab.

»Fehlanzeige. Schröder jedenfalls hat ein bombensicheres Alibi. Er war, wie man hört, mit zwei seiner Leute zur Tatzeit in Frankreich auf einer Veranstaltung des Front National, und den Rest seiner Truppe hatte das SEK nach der Aktion auf dem Rathausplatz bekanntlich in Gewahrsam genommen. Ob das also tatsächlich Leute aus der rechtsradikalen Szene waren, die bei Herrn Moutussi den Laden auseinander genommen haben, darf somit durchaus bezweifelt werden. Sich einen Kapuzenpulli überzustreifen und mit Springerstiefeln durch die Gegen zu laufen, beweist noch gar nichts. Der Brand in der Disco geht jedenfalls nicht auf Schröders Konto. Das Feuer entstand nämlich erst in Morgenstunden. Inzwischen deutet einiges darauf hin, dass man Schröder den Brandanschlag lediglich in die Schuhe schieben will.«

»Auf welcher Seite stehen Sie eigentlich?« beschwerte sich Ballensiefen.

»Auf der Seite der Wahrheit«, entgegnete Lydia und verließ ebenfalls das Restaurant.

Ich schaute Lena an.

»Was hältst du davon?«

Lena brauchte keinen Moment zu überlegen.

»Wie ich bereits vorhin im Wagen andeutete: Das eine hat mit dem anderen nichts zu tun. Bei uns kochen im Augenblick mehrere Leute ihr Süppchen. Die Frage ist nur, wer zuerst den Herd angestellt hat.«

 

Fliegender Wechsel zwischen aufspritzendem Kies. Gleicher Akt, neue Szene. Auftritt Charon mit metallic-silbergrauem Fährboot und zweihundertsechzig Pferden unter dem Kiel. Übrigens ein ziemlich schmutziger Fährmann. Eigentlich sah er aus, als käme er schnurstracks aus dem Kohlenkeller.

»Mensch, knurrt mir vielleicht der Magen! He, Tuttifrutti, was hast du heute auf der Speisekarte?«

»Wie siehst du eigentlich aus?« fragte unser Gastwirt und begann unwillkürlich mit seinem Geschirrtuch an Lanzerath herum zu wienern.

»Hör endlich auf, mich zu begrapschen!« schimpfte unser Totengräber und machte einen Schritt zur Seite. »Ist doch kein Wunder, dass man sich ein bisschen schmutzig macht, wenn man zwei Leichen, oder zumindest das, was davon noch übrig war, praktisch vom Holzkohlengrill abkratzen musste.«

Ballensiefen runzelte die Stirn.

»Vom Holzkohlengrill?«

»Du hättest die Disco mal sehen sollen, nachdem die Freiwillige Feuerwehr den Brandherd freigegeben hatte. Wenn ihr mich fragt, in der Bude müssen über dreihundert Grad geherrscht haben. Eine Feuerbestattung können sich die Hinterbliebenen eigentlich sparen.«

Ich packte ihn am Arm.

»Apropos Hinterbliebene. Wie hat eigentlich der Öztürk reagiert?«

Lanzerath winkte ab.

»Armes Schwein. Der musste noch an Ort und Stelle die beiden Leichen identifizieren. Praktisch dampfwarm. Himmel, damit hätte man doch wenigstens solange warten können, bis das Pärchen halbwegs abgekühlt ist. Angenehm riecht heißes Menschenfleisch nun wirklich nicht. Aber dieser Typ vom BKA ist wohl einer von der hartgesottenen Truppe.«

Lena packte in die Handräder ihres Rollis.

»Ich wollte heute Nacht eigentlich nochmal die Augen zubekommen.«

»Wieso?« fragte er scheinheilig. »Sowas dürfte Ihnen doch eigentlich nicht fremd sein. Auf Ihrer Burg ging es der Geschichtsschreibung zufolge doch auch zuweilen recht mollig warm zur Sache. Ich sage nur: Untergeschoss und glühende Eisenstangen.«

»Aber das ist doch über fünfhundert Jahre her«, beschwerte sich Lena.

»Damit versucht sich die katholische Kirche auch immer noch herauszureden«, schnaubte der Totengräber und folgte Ballensiefen ins Restaurant.

Kelim Öztürks Warnung an der Brandstelle fiel mir ein. Inzwischen konnte man über die geballte Präsenz von BKA, Kripo und Staatsanwaltschaft richtig froh sein. Die Frage war nur, ob die im entscheidenden Moment auch das Richtige taten.

 

~~~~~~~

 

Das Display deutete auf einen unbekannten Anrufer hin. Einen kurzen Augenblick überlegte sie noch, ob sie den Anruf überhaupt engegennehmen sollte, doch dann siegte die Neugier über ihre Vorsicht. Ein Fehler, wie sich anschließend herausstellen sollte.

»Was wollen Sie?«

Der Anrufer meldete sich zunächst nicht. Sie wurde ungeduldig und dadurch sehr scharfzüngig.

»Hören Sie, wenn das wieder einer Ihrer perversen Scherzanrufe sein sollte, dann besorgen Sie sich gefälligst ein paar Pornozeitschriften und holen sich ordentlich einen runter. Aber lassen Sie mich endlich in Frieden. Das ist ja nicht auszuhalten mit euch dämlichen Wichsern.«

»Guten Abend, Frau Major«, meldete sich die andere Seite. Die Stimme war verzerrt. Es konnte sich genauso gut um einen Mann wie eine Frau handeln. Nicht einmal das Alter hätte man abschätzen können. Kein Wunder bei diesem Gequake.

»Wer spricht da?«

Ein kaum unterdrücktes Lachen war die Folge.

»Sie klingen so heiser, meine Liebe. Rauchen Sie etwa immer noch diese entsetzlichen Salem zu Eins sechzig die Packung? Oder sind Sie inzwischen in das kapitalistische Zigarettenlager umgestiegen?«

»Woher...«, rutschte ihr heraus.

»Aber, aber, Genossin. So leicht lassen Sie sich aus der Fassung bringen?«

»Wer sind Sie? Was wollen Sie? Und hören Sie gefälligst mit der dämlichen 'Genossin' auf.«

Die Stimme am anderen Ende der Leitung blieb gelassen.

»Wer ich bin? Ich bin euer schlimmster Albtraum. Was ich will? Euch hinhängen.«

»Stecken Sie etwa hinter dem Mord an der Kosinsky?«

»Ts, ts, Frau Major. Welch ein böses Wort. Nennen wir es späte Gerechtigkeit.«

Erneut folgte ein Lachen.

»Langsam wird es eng für euch. Erst der Kohn und jetzt die Leinfeld. Nicht zu vergessen das unerwartete Ableben von Oberst Lenz. Sie erinnern sich? Ihr damaliger Führungsoffizier in der Hauptverwaltung Aufklärung und später in der Abteilung XIV, Zentrale Gefängnisverwaltung.«

 

Die Andere überlegte fieberhaft. Von Lenz' Tod hatte sie gehört. Das jedoch war Monate her. Todesursache Herzversagen, keinerlei Anzeichen auf Fremdverschulden. Im übrigen war der alte Kerl senil und plapperte zum Schluss ohnehin nur noch nur wirres Zeug vor sich hin. Daher hatte sie diesem Vorfall auch nicht allzu viel Aufmerksamkeit geschenkt. Verdammt, schoss es ihr durch den Kopf. Hatte etwa alles mit Lenz' Tod angefangen?

»Sie sind ja auf einmal so nachdenklich«, meinte die Stimme am Telefon.

Mühsam riss sie sich zusammen.

»Also, was wollen Sie?«

Fieberhaft suchte sie nach nach etwas Trinkbarem. Weil sie auf die Schnelle kein Glas fand, hielt sie sich die Flasche an die Lippen und trank mit gierigen Schlucken. Dabei verschluckte sie sich jedoch und musste anschließend wie ein Lungenkranker husten.

»Immer noch der Wodka aus Polen? Versuchen Sie's doch mal mit Cannabis. Wirkt schneller und macht auch keinen schlechten Atem.«

Ihre Stimme klang wie ein Krächzen.

»Nochmal, wer sind Sie?«

»Ich bin der Geist von Hoheneck. Ihr habt mich zwar nicht gerufen, ihr werdet mich aber trotzdem nicht mehr los. Habe ich mich deutlich genug ausgedrückt?«

»Du dreckiges Schwein!« platzte es aus der Frau, die mit Major angesprochen worden war, heraus. »Du subversives Arschloch! Wenn wir dich erwischen, dann kannst du dich auf was gefasst machen. Waterboarding ist ein müdes Plantschvergnügen gegen das, was wir mit dir anstellen werden.«

»Stimmt«, meinte die Stimme. Nichts schien die Anruferin aus der Ruhe bringen zu können. »Sie meinen das berüchtigte Wasserbecken, nicht wahr? Ach, übrigens: Ich darf Ihre Drohung doch so an die Presse weitergeben, oder?«

Die Andere biss sich auf die Unterlippe. War sie närrisch? Die Gegenseite ließ bestimmt ein Aufnahmegerät mitlaufen, und ihre Stimme klang abgesehen von den gelegentlichen Hustenanfällen jedenfalls nicht verzerrt.

Ihr Gegenüber wurde mit einem Mal unerbittlich.

»Fühlen Sie sich nicht so sicher. Sie könnten die Nächste sein, die Bekanntschaft mit der Neunmillimeter macht.«

Das Klicken in der Leitung hatte etwas Abschließendes.

 

Fassungslos starrte sie auf den Telefonhörer. Wer um alles in der Welt war das? Scheiße, dachte sie bei sich. Das war doch alles solange her. Hörte das denn nie auf? Kopfschüttelnd stolperte sie ins Wohnzimmer und kramte eines ihrer zahlreichen Handys aus der Kommodenschublade. Sie tauschte ihre bisherige Prepaid-Karte gegen eine noch unbenutzte aus und wählte eine Nummer in Köln.

»Laurin lässt grüßen.«

Die Leitung blieb für einen kurzen Augenblick stumm. Anschließend klickte es mehrmals, ihr Anruf wurde, wie zu erwarten, weitergeleitet.

»Sie schon wieder«, meldete sich eine gelangweilte Stimme. »Was haben Sie diesmal auf dem Herzen?«

Mir knappen Worten berichtete sie von dem Gespräch.

»Okay. Was soll ich ihrer Meinung nach tun?«

»Da fragen Sie noch? Ich will, dass der Zirkus aufhört. Habe ich mich klar genug ausgedrückt, oder sind Sie mit der Aufgabe überfordert?«

Die Stimme am anderen Ende der Leitung blieb gelassen. Fast genauso wie die des Anrufers von vorhin.

»Wir müssen vorsichtig sein. Seit den Vorfällen in Grafenstein wird inzwischen in alle möglichen Richtungen ermittelt. Der Einbruch und der nächtliche Besuch bei diesem Brenner waren im Nachhinein nicht gerade hilfreich.«

»Konzentrieren wir uns auf den Neuzugang. Mal sehen, ob der Spuk nicht vielleicht dadurch ein jähes Ende findet. Und passen Sie gefälligst auf, dass Berlin und Wiesbaden nicht noch mehr Unfug anstellen.«

»Wie Sie meinen. Wir haben freie Hand?«

»Spreche ich chinesisch?«

Erneut hatte das Klicken in der Leitung etwas Endgültiges.

 

 

 

 

Kapitel 14

 

 

»Da seid ihr ja endlich!«

Mit der Kochschürze um den Bauch stand mein Onkel am Herd und rührte in drei Töpfen gleichzeitig. Karl schien mal wieder in seinem Element. Jedenfalls lag ein verführerischer Duft von Estragon, Thymian, Knoblauch und Petersilie in der Luft. Margarete hockte am Küchentisch und lächelte ihm zu. Der alte Charmeur! Von Miss Sophie war seit Margaretes Auftauchen bei uns auf dem Weingut jedenfalls keine Rede mehr. Kein Wunder. Margarete war schließlich vierzig Jahre jünger. Die wäre eigentlich mehr was für mich, aber dann hätte man mich vermutlich irgendwo in der Burg eingemauert.

»Wo treibt ihr euch eigentlich die ganze Zeit herum?«

Ich wehrte den irischen Wolfshund ab, konnte jedoch nicht vermeiden, dass mein linkes Hosenbein schon wieder perforiert wurde.

»Robespierre!« schimpfte Karl und pfiff kurz durch die Zähne. »Allez! Place!«

Der wandelnde Bettvorleger warf mir einen verächtlichen Blick zu, trollte sich dann jedoch unter den Tisch zu Margarete, die sofort damit begann, ihm den Nacken zu kraulen. Im Nu verwandelte sich sein kehliges Knurren in ein wohliges Schnaufen. Ich wusste wirklich nicht mehr, ob ich lachen oder weinen sollte.

Auch der inzwischen omnipräsente Totengräber beschlagnahmte sofort einen der freien Sessel. Seit Susanne aushäusig war, schien der überhaupt kein eigenes Zuhause mehr zu haben.

»Hast du eigentlich kein eigenes Zuhause?« meinte ich kopfschüttelnd.

Der Kerl beachtete mich überhaupt nicht.

»Was gibt's denn Leckeres?« Gleichzeitig warf er einen sehnsüchtigen Blick in Richtung Herd.

»Sole à la Gascogne, eine Spezialität aus Südwestfrankreich. Ihr wisst schon, die Region zwischen dem Medoc und der spanischen Grenze. Dazu gibt es Frühlingskartoffeln und Karotten . Eigentlich serviere ich dazu am liebsten Ratatouille, aber der Supermarkt hatte leider schon geschlossen.«

Ich stutzte. Balfelder hatte seinen Laden noch vor Geschäftsschluss dichtgemacht? Andererseits kein Wunder nach dem legendären Auftritt bei Clips4Us. Wahrscheinlich wurde ihm gerade daheim gehörig der Marsch geblasen.

»Fisch?« jaulte Lanzerath entsetzt auf. »Das geht gar nicht. Ich hab 'ne Eiweißallergie.«

»Fein«, freute ich mich. »Dann bleibt endlich auch mal für uns was übrig. Du kannst von mir aus mein Gemüse haben.«

Lanzerath warf mir einen vernichtenden Blick zu. Was ihn allerdings nicht daran hinderte, gleichzeitig den Tisch einzudecken.

»Hast du überhaupt schon mal Seezunge probiert?« fragte Karl. »Sowas kannst du doch nicht mit Rotbarsch oder Heilbutt vergleichen, der bei euch und dann meist auch noch paniert auf dem Teller landet.«

»An unserer lokalen Küche gibt's überhaupt nix zu meckern«, wandte ich ein. »Gerade eben hat's unserem Leichenschänder nämlich noch prächig geschmeckt, nicht wahr?«

Mein Onkel machte ein enttäuschtes Gesicht.

»Ach, ihr habt schon gegessen?«

»Kleiner Snack für zwischendurch«, murmelte Lanzerath. »Nichts, wovon man satt werden könnte.«

Ich brach in schallendes Gelächter aus.

»Ach, was! Zwei volle Portionen Wildschweinbraten mit Preiselbeeren und Kartoffelklößen nennst du einen Snack für zwischendurch?«

Lanzerath winkte ab.

»Beim Tuttifrutti werden die Portionen auch immer kleiner.«

 

Die Klingel am Eingang machte ganz kurz auf sich aufmerksam. Seit vergangener Nacht achtete ich peinlich darauf, dass die Haustür stets verschlossen blieb. Ich warf einen Blick auf meine Armbanduhr. Sieben gerade durch.

»Erwarten wir noch Gäste?«

Margarete nickte.

»Das wird Marianne sein.«

Erst jetzt fiel mir ein, was ich sie schon lange mal fragen wollte.

»Ach, was ich schon immer mal fragen wollte, wo kommst du eigentlich her?«

»Aus Bayern.«

»Geht's vielleicht auch ein bisschen genauer?«

»Ist das hier ein Verhör, oder was?« rief mein Onkel.

Inzwischen begann die Türklingel förmlich zu randalieren. Seufzend drückte ich mich vom Tisch ab.

»Ja, doch! Herr im Himmel, ich komme ja schon. Lasst mir gefälligst den Klingelknopf heil.«

Einen Augenblick später riss ich die Tür auf ...und fuhr zusammen. Marianne war allem Anschein nach nicht alleine gekommen. Lydia Sartorius schaute mich ein wenig verlegen an.

»Tut mir leid, dass ich so unangemeldet hereinplatze, aber Mariannes Wagen steht in der Werkstatt.«

Sie wandte sich an ihre Begleiterin.

»Ich hole dich dann nachher ab.«

Lydia machte Anstalten, zu ihrem Wagen zurückzukehren. Marianne warf mir einen flehenden Blick zu.

»He, warten Sie mal«, rief ich Lydia hinterher. »Mögen Sie Seezunge? Karl hat gekocht, und wie ich ihn kenne, bestimmt mal wieder für eine halbe Kompanie.«

Die Chefin der Trierer KTU wog das Für und Wider eines Aufenthalts bei mir auf dem Weingut ab. Einerseits wollte sie bestimmt noch ein bisschen länger mit ihrer Freundin zusammen sein, andererseits war ich für die Staatsanwaltschaft immer noch so etwas wie ein Quasi-Verdächtiger. Ein vom Dienst suspendierter ehemaliger Ermittler mit einer nicht registrierten Handfeuerwaffe im Haus und nach Ansicht der Staatsanwaltschaft ziemlich lückenhaftem Alibi. Marianne griff nach ihrer Hand. Lydia gab sich einen Ruck.

»Nun ja, falls es Ihnen wirklich nichts ausmacht...«

Ich schüttelte den Kopf.

»Sie meinen wegen heute Vormittag? Hören Sie, sowas nehmen wir hier bei uns von der sportlichen Seite. Dienst ist Dienst, und Schnaps ist Schnaps. Und jetzt ist Schnaps an der Reihe. Treten Sie ein.«

 

Nachdem ich die Haustür hinter mir zugezogen hatte, führte ich das Pärchen in die Küche. Wie auf Kommando stürzte der wandelnde Hirtenteppich auf Mariannes Freundin zu und sprang sie an. Gleichzeitig versuchte er die junge Frau mit seiner riesigen Zunge von oben bis unten abzuschlabbern. E-kel-haft! Lydia ließ ihn lachend gewähren. Sie beugte sich zu ihm hinab, nahm seinen Kopf in beide Hände und kraulte ihn hingebungsvoll.

»Feiner Hund! Ja, fein!«

»Ihr kommt gerade rechtzeitig«, meinte mein Onkel und portionierte dabei mit Hilfe des Totengräbers die Seezungenfilets auf die Teller.

Lanzerath betrachtete den Fisch zwar mit einigem Argwohn und schnüffelte dabei auch ziemlich aufdringlich daran herum, brachte dann aber brav Teller für Teller an seinen Platz. Mir fiel auf, dass Karl seinen linken Arm zuweilen nur sehr zögerlich bewegte. Ich musste wirklich langsam mal mit ihm über eine Behandlung bei uns in der Klinik sprechen.

»Und was soll das?« beschwerte sich der Totengräber, als er den Teller sah, den ihm mein Onkel entgegen reichte. Auf dem lagen nur Kartoffeln und Karotten.

»Ich dachte, du magst keinen Fisch.«

Lanzerath warf ihm einen verständnislosen Blick zu.

»Probieren wird man aber doch wohl mal dürfen, oder?«

Karl grinste breit, nahm die Pfanne und ließ das letzte Stück Seezunge auf Lanzeraths Teller gleiten.

»Bon apetit«, meinte er und hob sein Wasserglas.

Nach einem kurzen Toast langten wir zu. Die nächste Viertelstunde wurde es sehr ruhig an unserem Tisch. Nur das Geräusch der Messer und Gabeln, hin und wieder unterbrochen von einem wohligen Seufzen, unterbrach die Stille. Karl hatte sich wieder einmal selbst übertroffen. Die Seezunge war ein Gedicht. So gut hatte ich nicht mal in Düsseldorf gegessen und die Landeshauptstadt verfügt, was Fischspezialitäten anbelangt, über einige bemerkenswerte Lokale. Hoffentlich blieb Karl noch ein Weilchen. Für den blöden Köter konnte mir Lutz Backhaus ja einen Zwinger bauen.

 

Mein Onkel wandte sich an Lydia.

»Na, meine Liebe? Schmeckt es Ihnen?«

Lydia tupfte sich mit ihrer Serviette die Mundwinkel ab. Eine Lady durch und durch. Pure Verschwendung, brummte ich stumm in mich hinein. Strafrechtlich verbieten. Mindestens.

»Geradezu köstlich, Herr Brenner. Wo haben Sie bloß so gut kochen gelernt?«

»Auf 'ner Ranch in Südfrankreich«, feixte Lanzerath.

Lydia schaute meinen Onkel erstaunt an.

»Sie wollen mich wohl auf den Arm nehmen.«

Karl schüttelte den Kopf.

»Ganz und gar nicht. In der Camargue. Wir züchten dort Rinder.«

Ich merkte, wie er sich kurz auf die Lippe biss. Ob ihm das etwa peinlich war?

»Etwa die Raço di Biou?«

Karl runzelte die Stirn.

»Sie kennen sich mit Rindern aus?«

Lydia schmunzelte.

»Ich war vergangenen Sommer in Südfrankreich. Dabei hatte ich Gelegenheit, der Manade Blatière-Bessac einen Besuch abzustatten. Als was haben Sie gearbeitet? Etwa als Gardien?«

Karl verbarg kurz das Gesicht in den Händen. Als er wieder hochblickte, grinste er breit.

»Sie sind goldig! Mit Fünfundsiebzig? Na ja, bis vor etwa zehn Jahren bin ich tatsächlich noch mit geritten. Doch irgendwann war Schluss mit lustig. Schließlich habe ich angefangen, mich um das leibliche Wohl unserer Leute zu kümmern. Sie können mir glauben, anfangs wäre ich dafür beinahe geteert und gefedert worden. Aber man wächst schließlich mit seinen Aufgaben.«

 

In meiner Hosentasche begann schon wieder mein Handy zu randalieren. Ich warf den anderen am Tisch einen bedauernden Blick zu und verschwand im Büro.

»Hagen, bist du es?«

Ich stutzte. Was Gregor wohl zu so vorgerückter Stunde noch von mir wollte?

»Was gibt's?«

Gregors Stimme klang verlegen.

»Mir ist etwas wirklich Unangenehmes passiert. Als ich vorhin von einer Wanderung zurückkehrte, musste ich feststellen, dass mir jemand das Eingangsschloss mit Sekundenkleber zugekleistert hat. Jetzt stehe ich draußen vor der Tür und komme nicht in mein Haus hinein. Ich habe schon versucht, einen Schlüsseldienst zu erreichen, aber vor morgen früh wird das nichts. Es ist zum Verzweifeln. Kann ich vielleicht die Nacht bei dir verbringen?«

Ich überlegte.

»Natürlich kannst du vorbei kommen, aber warum gehst du nicht in ein Hotel?«

»Meine Brieftasche liegt im Haus.«

»Kann dir denn niemand aus dem Dorf weiterhelfen?«

Gregors Stimme nahm einen verächtlichen Ton an.

»Ich möchte dir gar nicht sagen, was neuerdings quer über meine Hauswand geschmiert worden ist. Ich glaube kaum, dass es Sinn macht, in die Dorfkneipe zu gehen, um dort nach Almosen zu fragen.«

Kein Wunder nach den Ereignissen der vergangenen Tage. Inzwischen waren vermutlich selbst die dämlichsten Dorftrottel auf Gregors Webeintrag bei MyHistory aufmerksam geworden. Irgendwie tat er mir leid.

»Na, dann komm halt vorbei«, meinte ich und legte auf.

»Wer war es denn?« fragte mein Onkel, als ich wieder die Küche betrat.

»Gregor«, seufzte ich. »Er bekommt seine Eingangstür nicht auf. Jemand hat ihm das Schloss zugeklebt. Blöderweise liegt auch noch seine Brieftasche im Haus. Er kommt gleich vorbei.«

»Aha«, meinte mein Onkel.

Im Gegensatz zu Lanzerath und Lydia schien er nicht sonderlich überrascht zu sein. Marianne und Margarete warfen sich verstohlene Blicke zu.

 

»Rein mit dir, du Pechvogel«, begrüßte ich meinen Freund.

Gregor war mit dem Wagen gekommen. Den Autoschlüssel hatte er auf seiner Wanderung zum Glück dabei gehabt. Er trug immer noch sein Wanderoutfit. Safarihut, Anorak, Cargohose und Trecking-Stiefel. Also schien er die Wahrheit gesagt zu haben. Ich stutzte. Warum hätte mich Gregor anlügen sollen?

Ein wenig unsicher blickte er in die Runde. Marianne und Lanzerath kannte er vom Sehen, die anderen waren ihm fremd. Wie es sich gehörte, ging er reihum und wollte jedem die Hand reichen. Mir fiel auf, dass sich mein Onkel vom Tisch erhob, zum Herd ging und ihm von dort aus nur kurz zunickte. Margarete hielt mit der Rechten ihr Glas umklammert, Marianne reichte ihm notgedrungen die Hand. Herrje, was stellten die sich denn auf einmal so an? Gregor hatte doch nicht die Pest!

»Okay, Leute«, versuchte ich das Eis zu brechen. »Das ist also Gregor, mein langjähriger Schachpartner und guter Freund des Hauses. Ohne ihn hätten wir letztens ziemlich dumm aus der Wäsche geschaut. Als man mir nämlich meine Erntehelfer praktisch vor der Nase weggeschnappt hat.«

»Setz dich«, fügte ich hinzu und deutete auf den freien Stuhl neben mir. »Möchtest du was trinken?«

»Am liebsten deinen Blanc de Noir.«

Ich lachte und deutete auf eine der angebrochenen Flaschen.

»Eine ausgezeichnete Wahl.«

 

Dann begann der Schlagabtausch.

»Sie sind aber auch nicht von hier«, meinte mein Onkel und flämmte dabei seine legendäre Crème brûlée mit dem Gasbrenner ab. »Aus den neuen Bundesländern?«

Weisz nickte.

»Von wo genau?«

Weisz schaute meinen Onkel erstaunt an.

»Leipzig. Wieso fragen Sie?«

Karl winkte ab.

»Ach, nur so. Sie sächseln ja überhaupt nicht.«

»Habe ich mir abgewöhnt. Kommt hier in der Gegend nicht so gut an.«

»Nicht nur hier«, murmelte mein Onkel vor sich hin.

»Leipzig kenne ich von früher«, fuhr er kurz darauf fort. »Soll ja inzwischen eine richtig schöne Stadt sein. Vielleicht komme ich ja mal wieder dorthin. Wo haben Sie gewohnt?«

Weisz schaute erst ihn und dann mich an. Sein Blick war ein einziges Fragezeichen.

»Mein Onkel ist von Natur aus neugierig«, lachte ich und klopfte Gregor dabei kameradschaftlich auf die Schulter. »Aber du darfst ruhig antworten. Wir sind ein freies Land, und bei uns wird auch niemand abgehört.«

Gregor nannte Stadtteil und Straße. Mein Onkel tat so, als müsse er für einen Moment überlegen.

»Was Sie nicht sagen. Das Viertel kenne ich. Eine Bekannte von mir wohnte dort.«

»Du hattest Bekannte im Osten?« Das waren ja ganz neue Töne.

Karl nickte.

»Vor der Wende. War eine beschissene Zeit damals. Wir haben uns deshalb auch ziemlich schnell wieder aus den Augen verloren. Wie ich hörte, soll sie sogar im Knast gelandet sein.«

»Mit Sicherheit in Hoheneck«, meldete sich Margarete zum ersten Mal zu Wort.

Weisz runzelte die Stirn.

»Wie kommen Sie denn darauf?«

Nachdenklich drehte Margarete ihr Glas zwischen den Händen.

»Dort sind doch die meisten Frauen gelandet, die der SED nicht passten.«

Ich seufzte, denn ich ahnte bereits, wo das jetzt hinführen würde. Gregor war ein feiner Kerl, aber auf die Zeit vor 1990 ließ er nach wie vor nichts kommen. Irgendwie schien er sich seinerzeit mit dem Regime arrangiert zu haben. Kein Wunder. Anders wäre er auch niemals Lehrer an einer Polytechnischen Oberschule geworden.

»Der Sprache nach zu urteilen, stammen Sie aus dem Westen«, beschwerte sich Weisz. »Was wissen Sie schon über Hoheneck? Waren Sie schon mal da?«

Ich merkte, wie sich die Blicke unwillkürlich auf Mariannes Bekannte richteten. Karl schüttelte den Kopf. Es schien beinahe so, als wollte er sie von etwas abhalten.

»Ich kenne zufällig eine Frau, die mehrere Jahre die Gastfreundschaft des dortigen Personals genießen durfte. Glauben Sie mir, ein Aufenthalt in Guantanamo ist im Vergleich zu den damaligen Verhältnissen in Hoheneck ein fröhliches Sommercamp der Pfadfinder.«

 

Für einen kurzen Augenblick konnte man an unserem Tisch die sprichwörtliche Stecknadel fallen hören. Schließlich war es Karl, der die Situation rettete.

»Wer möchte von der Crème brûlée probieren?«

Lanzerath war der Erste, der den Arm hob. Kein Wunder, dass der noch Hunger hatte. Für ihn war schließlich nur ein Stück Fisch übrig geblieben und die Doppelportion beim Ballensiefen dem Vernehmen nach ja angeblich mehr als spärlich ausgefallen. Aber auch Marianne und und Lydia nickten, offenbar froh darüber, dass jemand das Thema wechselte. Ich schaute Mariannes Bekannte nachdenklich an. Margarete kannte also jemand, der in diesem legendären Frauenknast gesessen hatte. Ehe ich mich weiter in den Gedanken vertiefen konnte, richtete Lydia das Wort an Karl.

»Wir waren vorhin bei Ihrer Zeit in Südfrankreich stehen geblieben. Erzählen Sie doch ein bisschen über die Corrida. Das würde mich brennend interessieren.«

Karl strich sich verlegen durchs Haar.

»Feria, meine Liebe. Corrida heißt der Stierkampf in Spanien. In Südfrankreich geht es auch überwiegend unblutig zu.«

»Sind Sie selbst mal gegen einen Stier angetreten?«

»Wo denken Sie hin? Ich war schon zu Beginn meiner Zeit in Südfrankreich über die Fünfzig. Für den Stierkampf muss man flink und kräftig sein und kein angehender Rentner. Nein, ich habe bei der Aufzucht mitgemacht und anschließend, wie bereits erwähnt, die Gouchos bekocht. Okay, mit Stieren hatte ich natürlich zuweilen schon zu tun.«

Lydia ließ nicht locker. Ich kam aus dem Staunen nicht mehr heraus. Stierkampf war eigentlich überhaupt kein Thema, für das sich Frauen Ende Dreißig normalerweise interessierten.

»Ich stelle mir das herrlich vor. Tausende Leute in der Arena, die schwarzen Kampfstiere, die geschmückten Toreros, pardon, Stierkämpfer...«

Karl winkte ab.

»Da steckt eine Menge Logistik dahinter, meine Liebe. Wie bei jedem Festival. Glauben Sie mir, ich saß seinerzeit mehr hinter dem Lenkrad unserer Viehtransporter, als dass ich den Stierkämpfen folgen konnte. Aber Sie haben natürlich recht, herrlich ist das schon. Besonders die Reis-Feria, das Heimatfest von Arles.«

Gregor räusperte sich.

»Dem kann ich nur beipflichten. Ich war vergangenen Herbst zu Studienzwecken in Arles und habe dem Stierkampf an Ort und Stelle beiwohnen können. Ein unvergessliches Erlebnis.«

»Ich weiß«, murmelte Karl zu sich selbst.

»Tatsächlich?« wunderte sich Gregor. »Hatten wir etwa das Vergnügen?«

Karl zuckte die Schultern.

»Keine Ahnung. Aber als Betreuer der Kampfstiere kommt man bei solchen Festen zwangsläufig mit unzähligen Leuten ins Gespräch. Möglich, dass wir uns gesehen haben. Waren Sie denn mal unten bei den Boxen?«

Gregor schüttelte den Kopf.

»Tut mir leid, ich kann mich beim besten Willen nicht an Sie erinnern.«

Dafür ich aber an dich, knurrte Karl leise in sich hinein. So eine Visage vergisst man sein ganzes Leben nicht.

 

Marianne drehte sich zu meinem Bekannten herum.

»Dann können wir doch eigentlich alle froh sein. Von einem Besuch in Arles hätten Sie vor Neunundachzig nicht mal im Traum zu hoffen gewagt. Also hat die Wende ja doch was Gutes gehabt.«

Ich schaute den Totengräber an und verdrehte die Augen.

»Jetzt geht das wieder los«, flüsterte ich.

»Weißt du, wie die Kids den Weisz inzwischen nennen?« wisperte er genauso leise zurück. »Lenin Zwei-Null.«

»Was hast du neuerdings mit den Grafensteiner Kids zu schaffen? Mach du erst mal selber welche.«

Gleichzeitig versuchte ich wieder dem Gespräch zu folgen. Erwartungsgemäß begann Gregor in epischer Breite über das Leben in der ehemaligen DDR zu referieren.

»... überall hinreisen können. Man musste seinen Reisewunsch halt nur offiziell anmelden.«

»Behaupten Sie etwa, Sie hätten so ohne weiteres die Ausreisegenehmigung für einen Studienbesuch in Südfrankreich erhalten? Das glauben Sie doch wohl selbst nicht.«

»Natürlich hätte man den erhalten. Warum denn nicht?«

»Vielleicht als Stasi-Mitarbeiter oder jemand mit goldenem Parteiabzeichen. Die bekamen ja sowieso alles vorne und hinten hineingeschoben.«

Gregors Augen verzogen sich zu schmalen Schlitzen.

»Behaupten Sie etwa, ich hätte für die Staatssicherheit gearbeitet?«

Margarete winkte ab.

»Und wenn schon. Neuerdings dürfen solche Typen bei uns sogar ins Parlament. Was regen Sie sich also auf? Und überhaupt, war doch damals alles gar nicht so schlecht, nicht wahr?«

»Was hat Ihre Bekannte eigentlich angestellt, dass sie ausgerechnet in Hoheneck gelandet ist?« konterte Weisz.

Margaretes Blick wurde eisig. Ein Bad im Polarmeer hätte sich dagegen wie ein wohliges Schaumbad in einem Wellness-Studio angefühlt.

»Sie äußerte den Wunsch, ihr weiteres Leben gemeinsam mit Ehemann und Tochter in einem Land ihrer Wahl verbringen zu dürfen.«

»Also in der BRD.« Verachtung schwang in seiner Stimme mit.

Margarete nickte.

»Sie stellte die erforderlichen Ausreiseanträge. Kurz darauf verlor sie ihre Arbeit, ein paar Wochen später wurde sie inhaftiert und ihr Mann reichte die Scheidung ein. Anschließend warf man ihr geplante Republikflucht und Entführung Schutzbefohlener vor. Ihr eigener Ehemann hatte sie bei den Behörden denunziert.«

Lydia starrte ihre Sitznachbarin mit großen Augen an.

»Das ist nicht Ihr Ernst!«

Margarete lachte traurig.

»Mein voller Ernst. Bei denen hat doch damals jeder jeden an die Stasi verpfiffen. Das ganze Regime basierte doch bis zum Schluss ausschließlich auf Misstrauen, Bespitzelung und Vorteilsnahme. Der Mann meiner...«

Sie zögerte einen kurzen Augenblick.

»... Bekannten erhielt jedenfalls zum Dank einen Abteilungsleiterposten in seinem Betrieb.«

»Und was geschah mit der Tochter?«

»Die blieb bei ihrem Vater. Der war mit einem Mal verdientes Parteimitglied und machte Karriere. Weiß der Henker, was man dem Mädchen damals für Lügenmärchen erzählt hat. Nach der Wende soll sie den Osten jedoch auf dem schnellsten Weg verlassen haben. Gut möglich, dass sie inzwischen längst im Ausland lebt. Jedenfalls hat nie wieder jemand was von ihr gehört.«

»Merkwürdig«, meinte Lanzerath. »Nach allem, was damals geschehen ist, hätte ich bestimmt Interesse, mehr über die wahren Hintergründe dieser Affäre zu erfahren.«

»Ist halt nicht jeder so neugierig wie du«, ging ich dazwischen. Das Gesprächsthema behagte mir inzwischen überhaupt nicht.

Margarete lehnte sich in ihrem Sessel weit zurück.

»Nach so vielen Jahren? Heute wären die beiden Frauen doch wie Fremde. Möglich, dass das Mädchen ihre Mutter sogar hasst. Ich kenne zahlreiche Fälle, in deren Folge Familien durch eine gelungene Flucht regelrecht auseinandergerissen wurden, die Geflohenen und die Daheimgebliebenen selbst heute noch kein einziges Wort miteinander reden. Flucht galt damals als Verrat, und Verrat verjährt nicht. Daran konnte selbst die Wiedervereinigung nicht ändern.«

»Gut, dass Sie es endlich auf den Punkt bringen«, begehrte Weisz auf. »Republikflucht galt in der DDR als Straftat. Tut mir leid, aber das war halt so. Ob richtig oder falsch, diese Frage ist heute allenfalls noch philosophischer Natur. Während zum Beispiel bei uns kein Mensch mehr ein Wort über Abtreibungen verlor, wurden bei euch die Frauen noch reihenweise vor den Kadi gezerrt, wenn sie eine Schwangerschaft abgebrochen haben.«

Margaretes Augen verzogen sich zu schmalen Schlitzen.

»Sie wollen doch wohl die Familienpolitik der DDR nicht ernsthaft mit der in Westdeutschland vergleichen. In der DDR hat man den Frauen bei einem Schwangerschaftsabbruch nur deshalb keine Steine in den Weg gelegt, weil sie ja sonst für die Produktion ausgefallen wären. Erst recht, wenn sie verheiratet waren.«

Ihre Stimme wurde geradezu schneidend.

»Die Familienpolitik der DDR mit den mittelalterlichen Freiheitsbeschränkungen und den Foltermethoden in den damaligen Zuchthäusern in Zusammenhang zu bringen, ist geradezu grotesk. Bringen Sie sowas etwa Ihren Schülern bei?«

»Folter«, schnaubte Weisz. »Geht's vielleicht noch eine Spur dramatischer?«

 

»In Hoheneck wurde meine Bekannte mit Stöcken geschlagen«, fuhr Margarete unbeirrt fort, »und aus purer Lust am Quälen in Eiswasser gebadet. Und zwar mitten im Winter. Draußen im Freien. Sie wurde wochenlang am Schlafen gehindert, man ließ sie hungern, und weil es trotz allem nicht gelang, ihren Willen zu brechen, drückte man zuweilen sogar Zigaretten auf ihren ihren Handoberflächen aus. Von der Verabreichung von Luminal und Protazin mal ganz zu schweigen. Und das nicht nur einmal. Nein, das war Praxis bei den sogenannten Politischen. Ein verurteilter Mörder galt in DDR-Gefängnissen zehnmal mehr als ein Republikflüchtling, der ansonsten keiner Fliege was zu Leide getan hatte.«

Während sie sprach, ließ sie Weisz für keinen Moment aus den Augen.

»Doch all das hat sie nicht umgebracht. Gestorben ist sie letztlich an Hautkrebs, hervorgerufen durch den Umgang mit hochgiftigen Substanzen ohne jeglichen Schutz bei der Zwangsarbeit für die Elektroindustrie. Hinzu kamen Metastasierungen in den Knochen und in der Leber. Soweit man heute weiß, wurden Häftlinge in Hoheneck zuweilen als billige Versuchskaninchen für die Pharmaindustrie missbraucht. Und zwar ohne ihr Wissen und gegen ihren Willen. Die wurden erst krank gemacht und anschließend mit nicht zugelassenen Mitteln behandelt. Meine Bekannte gehörte mit zu einem dieser Opfer.«

Lanzerath musste natürlich gleich wieder berufliches Interesse zeigen.

»Ist sie tot?«

Margarete nickte.

»Seit vergangenem Jahr.«

 

»Was beweist eigentlich, dass der Krebs tatsächlich auf den Aufenthalt in Hoheneck zurückzuführen ist?« meldete sich Weisz erneut zu Wort. Seine Stimme klang unversöhnlich. »Ich will gar nichts beschönigen. Hautkrebs ist eine schlimme Sache. Aber nach über zwanzig Jahren? Gibt's dafür keine andere plausible Erklärung?«

Margarete musterte ihn, ohne ihn dabei wirklich anzusehen. Es schien, als blicke sie durch ihn hindurch.

»Das sahen die Gutachter der Krankenkasse genauso. Den Hautkrebs hätte sie sich ja sonstwo holen können. Einen kausalen Zusammenhang zwischen ihrem Aufenthalt in Hoheneck und der Krebserkrankung konnte oder wollte man angeblich nicht erkennen. In Wirklichkeit wollte man nur an ihrer Rente sparen.«

»Na, also«, nickte Weisz. »Mir soll doch niemand erzählen, dass die Strafgefangenen bei uns nicht ordentlich behandelt wurden. Alles andere war üble Westpropaganda.«

»Klar«, unterbrach ihn mein Onkel. »Alles nur ein großer Fake des DDR-Regimes. Um von uns blöden Wessis mehr Geld für den Freikauf von Dissidenten herausschlagen zu können. Sagen Sie mal, junger Freund, glauben Sie eigentlich wirklich, was Sie da sagen? Sie sind doch Pädagoge. Angeblich Rektor an einer Realschule.«

Wo hatte ich das schon mal gehört? Richtig, bei Miss Sophie. Die deutete letztens dasselbe an.

»Ich verwahre mich davor, dass man die Geschichte der Deutschen Demokratischen...«

 

Gregors Vortrag wurde durch eine durchdringende Melodie unterbrochen. Marianne zog ihr Smartphone aus der Tasche und warf einen Blick auf das Display. Sie erhob sich und verschwand im Büro. Bereits nach wenigen Augenblicken tauchte sie wieder bei uns auf. Meine Angestellte wirkte ziemlich durcheinander.

»Was ist los?«, wollte Margarete wissen.

Unschlüssig starrte Marianne in die Runde. Schließlich gab sie sich einen Ruck.

»Ich muss dringend nach Mayen.«

»Was ist los?« wollte ich wissen.

»Das war die Polizei. Auf dem Hof meiner Eltern ist angeblich irgendwas passiert. Ich soll da unbedingt mal nach dem Rechten schauen. Dazu brauche ich aber ein Auto. Meins steht ja noch in der Werkstatt.«

Margarete erhob sich von ihrem Platz.

»Dann lass uns fahren. Ich habe sowieso keine Lust mehr hier zu bleiben. Mayen liegt für mich ja praktisch auf dem Heimweg. Zurück musst du dir halt ein Taxi nehmen.«

Margarete drückte mir stumm die Hand und nickte den anderen bis auf Weisz nur kurz zu. Nachdem Marianne und ihre Bekannte verschwunden waren, verabschiedeten sich auch Lydia und Lanzerath. Die Stimmung war sowieso am Nullpunkt, und wer blieb schon gerne zum Aufräumen.

 

~~~~~~~

 

Mein Onkel begann wortlos die Gläser fortzuräumen. Ich zuckte die Schultern.

»Schade, an diese Margarete hätte man sich glatt gewöhnen können. Einen gewissen Sinn für Dramatik hat sie ja.«

»Das ist doch alles Unsinn, was die da erzählt!« schnaubte Weisz. »Genauso wie das Märchen von den Milliarden Reichsmark, die von der Regierung kurz vor der Währungsumstellung angeblich noch rasch ins Ausland verschoben sein sollen.«

Karl wischte ein letztes Mal über den Herd.

»Natürlich stimmt das. Wie anders hätten denn sonst all die Bonzen aus dem SED-Regime ihre Datschen, Villen und Ferienresidenzen finanzieren sollen? Etwa von den paar Kröten, die man seinerzeit in der Parteiführung oder in einer Unternehmensleitung verdiente? Träumen Sie weiter, junger Freund, und wachen Sie endlich in der Wirklichkeit auf.«

Weisz ließ sich nicht beirren.

»Was wissen Sie denn? Wir in der Deutschen Demokratischen Republik haben nach dem Krieg unser Land praktisch aus dem Nichts wieder aufgebaut. Uns hat man keine Unsummen hinten und vorne hineingeschoben, damit wir politisch, wirtschaftlich und kulturell nur ja auf der Linie der Westalliierten blieben. Uns ging es vielleicht nicht so gut wie euch in der BRD, aber man hatte sein Auskommen. Und als es soweit war, dass auch wir von der Weltöffentlichkeit als Staat anerkannt wurden, da habt ihr bei uns die Leute aufgestachelt. Ohne eure Einflussnahme und eure West-Mark hätten die paar Dissidenten in Berlin und Leipzig doch überhaupt keine Chance gehabt, einen Staatsputsch vorzubereiten. Ihr habt eiskalt die Struktur eines souveränen Staates untergraben, und es war nur dem Mut und der vorausschauenden Einsicht unseres damaligen Politbüromitglieds Günter Schabowski zu verdanken, dass es am 9. November zu keinem offenen Bürgerkrieg kam. Die Folgen wären für beide Seiten unabsehbar gewesen.«

Karls Augen wurden schmal.

»Was habt ihr denn aufgebaut? Eine menschenverachtende Diktatur im Stile Josip Stalins, die ausschließlich von der Furcht der Menschen vor dem allgegenwärtigen Regime profitierte. Margarete hat schon recht. Zuletzt hat bei euch doch jeder jeden bespitzelt, um nur ja in den Genuss irgendwelcher staatlicher Vergünstigungen zu kommen. Gab es bei der Stasi etwa kein Punktesystem? Wer am meisten denunziert, erhält als Erster seinen Trabi? Ein Plastikauto gegen die körperliche und seelische Unversehrtheit seiner Mitmenschen.«

Weisz sprang auf. Seine Augen funkelten.

»Wer hat Ihnen denn diesen Quatsch erzählt?«

Anschließend wandte er sich an mich.

»Verstehst du jetzt, warum ich Geschichtslehrer geworden bin? Wenn solche Typen wie der da weiter ungestraft Lügen verbreiten dürfen, dann müssen wir uns nicht wundern, wenn die Jugend im Westen auch heute noch verächtlich auf uns Ossis herabschaut. So jedenfalls wird das mit der deutschen Einheit nie was.«

»Genauso haben die Nazis nach 1948 auch argumentiert. Getreu dem Motto: Lasst ihr uns gefälligst in Ruhe, dafür helfen wir euch beim Wiederaufbau.«

»Sie werden die DDR doch hoffentlich nicht mit dem Dritten Reich vergleichen!« brüllte Weisz außer sich vor Zorn. »Wir haben schließlich keinen Weltkrieg angefangen.«

Mein Onkel ließ sich überhaupt nicht aus dem Konzept bringen. Irgendwie bewunderte ich ihn um seine an den Tag gelegte Bierruhe.

»Aber ihr habt es geduldet, dass SS-20-Atomraketen auf uns gerichtet wurden. Auf Deutsche wie ihr.«

»Jetzt werden Sie mal nicht pathetisch! Und eure Pershings? In welche Richtung zeigten die denn?«

Ich erhob mich und hob beschwichtigend die Arme.

»Leute, so kommen wir nicht weiter. Das sollte eigentlich ein gemütliches Abendessen werden und kein Treffen der Anonymen Ideologen. Meine anderen Gäste habt ihr schon vergrault.«

»Ich habe nicht damit angefangen«, beschwerte sich Weisz. »Gemütliches Abendessen. Dass ich nicht lache. Inquisition nenne ich sowas.«

Mich wunderte, dass Robespierre bei dieser inzwischen lautstark geführten Auseinandersetzung vollkommen ruhig blieb. Vielleicht lag es aber auch nur daran, dass mein Onkel den struppigen Kopf seines vierbeinigen Begleiters unentwegt kraulte.

 

»Na, schön«, meinte Karl nach einer Weile. »Lassen wir mal die große Weltpolitik beiseite. Bleiben wir bei Einzelschicksalen.«

Er wandte sich an mich.

»Und reden wir endlich mal Tacheles. Wusstest du eigentlich, dass dein Freund Gregor informeller Mitarbeiter der Staatssicherheit war? Sein Deckname lautete Schreiber. In meinen Augen ist er nichts anderes als ein dreckiger Denunziant.«

»Karl!« rief ich und sprang ebenfalls auf. »Du bist zwar mein Onkel, aber pass auf, was du da sagst.«

Mein Onkel legte seine Hand auf meinen Unterarm.

»Frag doch mal deinen Freund, warum er mich und meine Lebensgefährtin seinerzeit an die Staatssicherheit verraten hat.«

Fassungslos sank ich in meinen Sessel zurück. Weisz beugte sich weit über den Tisch. Seine Stimme lang drohend.

»Wie kommen Sie zu dieser infamen...«

Karl lachte kurz und dröhnend auf.

»Infam, sagen Sie? Dann möchte ich Ihrem Gedächtnis mal auf die Sprünge helfen. Sie haben doch in der Leipziger Südstadt gewohnt, nicht wahr? Ihre Nachbarin war Sekretärin in einer Firma für Elektroteile. Zuweilen wurde sie wegen ihrer Fremdsprachenkenntnisse als Messe-Hostess eingesetzt. Erinnern Sie sich noch an den 20. Dezember 1983? Wir trafen uns zufällig im Treppenhaus. Sie faselten irgendwas von einem Waschmittel, das Sie ihr noch unbedingt vorbeibringen wollten. Karin lehnte jedoch ab. Kein Wunder, sie verbrachte nämlich die Nacht gemeinsam mit mir im gerade neu errichteten Hotel Aparion. Waren es nicht Sie, der anschließend die Staatssicherheit über meinen Besuch informiert hat? Und waren es nicht Sie, der denen anschließend gesteckt hat, dass wir vier Tage später an Heiligabend über den Grenzübergang Bornholmer Straße türmen wollten? Was haben Sie eigentlich die ganze Zeit in Leipzig getrieben? Immer nur an fremder Leute Wohnungstüren gelauscht? Bisschen pervers, was?«

Zum wiederholten Mal in dieser Woche hatte ich das Gefühl, im völlig falschen Film zu sitzen.

 

Trotz all die Jahre, die inzwischen vergangen waren, erinnerte sich Weisz immer noch gut an jenen 20. Dezember. Und an Karin Balow, seine Nachbarin. Die Frau, die er damals geradezu abgöttisch liebte, die seine Liebe jedoch nicht erwidern wollte. Langsam begann es ihm zu dämmern. Vor ihm stand der Kerl, der damals gemeinsam mit seiner Nachbarin aus deren Wohnung gekommen und ihm als ihr Vetter vorgestellt worden war. Das Gespräch mit Lubitsch, seinem Führungsoffizier, fiel ihm wieder ein. Lubitsch hatte ihn aufgefordert, Augen und Ohren offen zu halten, was er dann auch tat. Und die Stasi hatte natürlich alles wortwörtlich protokolliert und schriftlich für die Nachwelt festgehalten. Mit Sicherheit hatte der Kerl inzwischen bei der Gauck-Behörde Einblick in die einschlägigen Akten genommen. Himmel, das war doch alles eine Ewigkeit her. Hörte das denn nie auf?

»Woher?« rutschte ihm heraus.

Ein Wort zuviel. Mit diesem einzigen Wort gab er unwillkürlich zu, dass er die beiden gekannt und an die Stasi verraten hatte. Nach geltendem DDR-Recht war er hierzu sowieso verpflichtet gewesen. Hätte er geschwiegen, hätte er sich selbst strafbar gemacht, denn Republikflucht war ein Straftatbestand, und wer sowas nicht meldete, machte sich automatisch der Beihilfe schuldig. Nach westdeutschen Maßstäben galt er hingegen als Denunziant.

»Woher ich das weiß, möchten Sie wissen? Kann ich Ihnen sagen. Nach der Wende nahm ich Einblick in meine Stasi-Akte. Und in die meiner Freundin. Immer wieder tauchte der Name 'IM Schreiber' auf. Ein informeller Mitarbeiter des Staatssicherheitsdienstes. Pech für Sie, dass Sie in Leipzig nicht nur uns bespitzelt haben, sondern auch noch zahlreiche andere Leute aus der Nachbarschaft. So stieß ich irgendwann auf Ihre wahre Identität. Und wie der Zufall es wollte, liefen Sie mir zig Jahre später ausgerechnet in Arles über den Weg. Ich folgte Ihnen zu Ihrem Wagen und merkte mir das Kennzeichen. In Zeiten des Internet war der Rest ein Kinderspiel.«

 

Ich ging zum Barschrank, zog die halbvolle Flasche Trester aus dem Fach und goss mir drei Finger breit ein. Das Zeug brannte zwar wie Teufel, aber genau das brauchte ich jetzt. Etwas, das diesen Irrsinn wegbrannte. Irgendwann hatte ich meine aus dem Ruder gelaufenen Gedanken wieder halbwegs beisammen.

»Du hattest eine Freundin in Leipzig? Davon hast du mir ja nie etwas erzählt.«

Karl nickte traurig.

»Bei uns daheim wusste das auch niemand. Und zwar aus gutem Grund. Die Stasi hatte ihre Spitzel schließlich überall. Sogar bei mir im Büro. Karin war nicht einfach nur meine Freundin. Sie war schwanger.«

»Schwanger?« keuchte ich. »Von dir?«

Mein Onkel zuckte die Schultern.

»Hat sie jedenfalls behauptet. Keine Ahnung, ob Karin das Kind überhaupt bekommen hat oder ob man es hat wegmachen lassen. Aus den Unterlagen geht jedenfalls nichts hervor. Die entscheidenden Stellen sind in den Akten geschwärzt.«

»Wie, du hast keine Ahnung?«

»Junge, ich war selbst vier Jahre in Bautzen inhaftiert, ehe mich die Bundesrepublik endlich freikaufen konnte.«

Ich atmete tief durch.

»Du hast bei denen im Knast gesessen? Weshalb?«

»Na, weshalb wohl? Beihilfe zur Republikflucht.«

Er warf einen verächtlichen Blick auf Weisz, der wie angewurzelt in seinem Sessel hockte.

»Habe ich dem da zu verdanken. Republikflucht galt in der DDR als Kapitalverbrechen. Sowas kam noch vor Mord und Totschlag.«

Wie gesagt, hätte mir mein Onkel Anfang der Woche bei unserer ersten Aussprache die ganze Wahrheit gebeichtet, ich bin sicher, ich wäre jetzt längst irgendwo in der Südsee. Die Pointe wollte ich trotzdem noch erfahren.

»Und wie ging es anschließend weiter?«

 

»Im Westen haben sie mich gleich wieder eingebuchtet. Nach den Vorstellungen unserer Leute hatte ich angeblich selbst spioniert. Nun, ich arbeitete damals als Referent im Wirtschaftsministerium und war in gewisser Weise so etwas wie ein Geheimnisträger. Meine privaten Reisen in den Osten habe ich wohlweislich verschwiegen, denn von meiner Dienststelle hätte ich nach der Vorgeschichte mit Karin niemals mehr die Genehmigung für die Einreise in die DDR erhalten. Somit lag der Spionageverdacht nahe, zumal die Stasi dem Verfassungsschutz quasi als verspätetes Abschiedsgeschenk eine Menge kompromittierender Unterlagen zuspielte. Weiß der Henker, wie die das zusammenkonstruiert haben. Aber 1983 befand sich der Kalte Krieg auf seinem Höhepunkt. Vier Jahre später war die Situation nicht wesentlich entspannter. Auf unserer Seite war man damals genauso paranoid wie im Osten.«

»Wie lange hast du bei uns gesessen?«

»Knapp zwei Jahre. Kurz vor der Wende war ich wieder auf freiem Fuß.«

»Und danach?«

Mein Onkel lachte, aber sein Lachen klang zynisch.

»Ich glaube, nach jenem legendären 9. November gehörte ich den wenigen Leuten, die freiwillig die Reise von West nach Ost antraten. Mein erster Weg führte mich nach Hoheneck. Dort jedoch schien noch niemand an sowas wie die Wende zu glauben. Die Menschen in der Region schotteten sich komplett ab. Ich habe in Stollberg und Umgebung nicht mal ein freies Pensionszimmer bekommen. Geschweige denn hatte ich eine Chance, mit dem Gefängnispersonal zu sprechen.«

Er nahm einen Schluck Mineralwasser.

»Nach der Wiedervereinigung machte ich mich dann nochmal auf die Suche nach meiner Freundin. Auf dem Standesamt in Stollberg deutete man an, Karin hätte sich wenige Tage vor dem Mauerfall das Leben genommen. Ihre Akte würde jedoch irgendwo in Karl-Marx-Stadt geführt. Dort war sie jedoch unauffindbar. Von einer Schwangerschaft beziehungsweise einem Kind wusste man angeblich nichts. Ich glaubte natürlich kein Wort, und habe Monate später nochmal beim Einwohnermeldeamt Berlin nachgefragt. Dort konnte oder wollte man mir aber auch nicht weiterhelfen. Und jetzt rate mal, wer sowohl auf dem Standesamt Stollberg als auch später im Einwohnermeldeamt Berlin am Schreibtisch hockte. Niemand anderes als eure verehrte Bürgermeisterin. Ich habe sie auf dem Rathausplatz sofort wiedererkannt. Sie hat sich ja kaum verändert in den vergangenen zwanzig Jahren.«

Von Triumph war im Gesicht meines Onkels nicht der Hauch einer Spur zu erkennen.

»Anschließend habe ich erneut versucht, mit Wärterinnen, Ärzten und auch ehemaligen Strafgefangenen Kontakt aufzunehmen, jedoch zunächst ohne Erfolg. Erst später kam ich in Kontakt mit einem Mitarbeiter des medizinischen Personals. Der behauptete, Karin hätte kurz nach der Entlassung einer ihrer Zellengenossinnen Unmengen vorher gesammelter Medikamente geschluckt. Ob sie den Selbstmordversuch letztlich überlebt hat und, wie es hinter vorgehaltener Hand hieß, auf Grund dessen in eine psychiatrische Klinik verlegt worden sei, konnte er nicht mit Gewissheit sagen. Ich habe jedenfalls unzählige Krankenhäuser und einschlägige Kliniken abgeklappert, jedoch ohne Erfolg. Allerdings muss ich zugeben, dass es zu dieser Zeit weder eine gut funktionierende Kommunikationsstruktur geschweige denn Internet oder Email-Verkehr gab. Im übrigen war ich mangels Geld zuweilen mit dem Fahrrad oder sogar zu Fuß unterwegs. Und die im Osten waren auf der Hut. Kein Wunder. Wenn man fünfzig Jahre lang nur von allen Seiten bespitzelt wurde, ging man mit Informationen gegenüber Fremden natürlich erst einmal ziemlich sparsam um.«

 

Er wandte sich noch einmal Weisz zu.

»Ob Sie seinerzeit formaljuristisch im Recht waren oder nicht, das interessiert mich heute einen Scheißdreck, mein Lieber. Wäre ich zwanzig Jahre jünger und noch fit, ich würde Sie hier und jetzt verdreschen, bis Ihnen Hören und Sehen verginge.«

Karl wirkte absolut cool. Von Wut oder Hass keine Spur. Aber ich war mir sicher, dass es in seinem Innersten brodelte.

»Und dann bist du nach Südfrankreich abgehauen?«

Karl griff erneut nach der Mineralwasserflasche. Zum ersten Mal, seit er bei uns aufgekreuzt war, fiel mir auf, dass er bisher weder ein Glas Bier, einen Wein oder gar Schnaps angerührt hatte. Man sah ihn eigentlich immer nur mit einer Flasche Sprudel unter dem Arm.

»Die fortwährenden Rückschläge bei meiner Suche nach Karin begannen mich zu zermürben, und irgendwann fing ich mit dem Trinken an. Das wurde allerdings so schlimm, dass ich sogar einen Entzug machen musste. In meinen alten Job konnte ich nicht mehr zurück. Schließlich hatte man mich wegen meiner Vorstrafe aus dem Beamtenverhältnis entlassen. Zu deinen Eltern hatte ich, wie du weißt, auch keinen Kontakt mehr. Weil inzwischen mein Erspartes restlos aufgebraucht war und ich auch keine feste Bleibe mehr besaß, schnappte ich mir mein Bündel und verschwand in den Süden.«

Plötzlich zog sich ein mildes Lächeln über sein faltiges Gesicht.

»Was soll's? Ich bekam die Chance, dort zu leben, wo andere Leute allenfalls mal vierzehn Tage im Jahr Urlaub machen. Glaube mir, all die Sesselfurzer in meinem Büro hätten an ein solches Leben nicht einmal im Traum gedacht. Wäre das damals alles nicht passiert, säße ich heute vermutlich in irgend einem verschissenen Seniorenheim und würde meinen Rollator ölen. Und ob ich mit Karin, die schließlich fünfzehn Jahre jünger war als ich, heute noch zusammen wäre, könnte auch niemand mit Gewissheit sagen.«

 

»Und was war mit Bautzen?« wandte ich ein.

Mein Onkel warf Weisz einen scharfen Blick zu.

»Bautzen war jedenfalls nicht eingeplant. Margarete hat recht, die Gefängnisse in der ehemaligen DDR waren zumindest für Republikflüchtlingen oder uns Fluchthelfer durchaus mit Haftanstalten wie Guantanamo vergleichbar. Junge, ich war damals in deinem Alter und bis über beide Ohren verliebt. Über die Folgen, falls das Unternehmen auffliegen sollte, habe ich gar nicht nachgedacht. Es war einfach ein Katz-und-Maus-Spiel, und ich hatte den Ehrgeiz zu gewinnen. Dass es allerdings so schlimm endete, das hatte ich nicht einkalkuliert. Erst recht nicht, dass unsere Flucht überhaupt verraten werden könnte. Denk mal nach: Karin hatte einen perfekt gefälschten Pass. Sogar die Passnummer stimmte mit dem der Frau überein, in deren Rolle sie für die paar Minuten während des Grenzübertritts schlüpfen sollte. Im Nachhinein kann ich nur sagen: Ich war damals grenzenlos naiv.«

Seine Mundwinkel formten sich zu einem spöttischen Grinsen.

»Die im Osten waren doch alles arme Würstchen. Zum Schluss war bei denen doch bloß jeder froh, dass er nach zwölf Jahren endlich seinen Trabi bekam und am Plattensee Urlaub machen durfte. Sagen wir mal grob geschätzt, zwei Prozent der Bevölkerung waren ernsthaft Andersdenkende. Nach der Wende wollten aber auf einmal alle zu der Gruppe der paar echten Dissidenten gehört haben. Krass, nicht wahr? Nach 1945 war es im Prinzip nicht anders.«

Karl goss mir einen Schluck Trester nach. Weisz ignorierte er vollkommen. Es schien, als sei mein Freund für ihn überhaupt nicht mehr vorhanden.

»Nach seiner Wahl zum Präsidenten hatte Gorbatschow die DDR zumindestb volkswirtschaftlich eiskalt fallen lassen, was das Regime besonders im Inneren empfindlich schwächte. Dann kam die Amnestie 1987 anlässlich des Honecker-Besuchs, was die verfahrene Situation in der ohnehin ineffektiven Produktion noch mehr verschärfte. Zwei Jahre später bot sich sechzehn Millionen Menschen urplötzlich die ungeahnte Chance, an Bananen und Nylonstrümpfe heranzukommen. Westprodukte waren ja schon immer der größte Traum der Leute im Osten. Sonst wäre es in Wirklichkeit nie zu den Massenprotesten gekommen. Demokratiewandel war den Ostdeutschen Ende der Achtziger genauso fremd wie den Amis der Sozialismus. Aber der Kohl wollte unbedingt einen Platz im Geschichtsbuch. Nur deshalb kam es letzlich zur Einheit, und zwar koste, was es wolle. Anschließend haben sich dann alle verwundert die Augen gerieben, als drüben im Osten nach und nach die Lichter ausgingen.«

»Jetzt klingst du aber sehr verbittert« meinte ich.

»Verbittert? Überhaupt nicht. Letztlich hat sich doch alles prächtig entwickelt. Aber das ist einzig und allein der jungen Generation zu verdanken. Die kennen das alte System zum Glück ja nur noch vom Hörensagen. Dennoch muss sich noch viel ändern. Mir ist beispielsweise völlig unbegreiflich, dass selbst heute noch ganze Landstriche dort drüben geradezu felsenfest in kommunistischer Hand sind. Wenn man sich alleine die Stimmergebnisse der vergangenen Landtagswahl im Nordosten der Republik ansieht, kann einem schlecht werden. Wen wundert's also, dass dort kaum jemand investieren will. Abgesehen vielleicht von der Solarproduktion, die inzwischen aber auch längst heruntergewirtschaftet ist.«

Er schüttelte den Kopf.

»Mich regen vielmehr die vielen Wendehälse auf, die erst ganz empört auf den Westen geschimpft, sich dann aber außerordentlich entzückt zeigten angesichts der Tatsache, wie leicht man auf einmal an einen Mercedes oder einen Fernseher herankam. Und so Typen wie der hier. Stramme Apparatschiks mit goldenem Parteiabzeichen. Die nur über ihr Scheiß-Parteibuch was geworden sind. Die Unbelehrbaren. Schau dir deinen Freund doch an. Obwohl er dem kapitalistischen System eine hochdotierte Rektorenstelle zu verdanken hat, hängt er immer noch einem imaginären Stalinismus nach.«

Er beugte sich ganz kurz zu Weisz hinüber.

»Habe ich nicht recht, IM Schreiber?«

Weisz erhob sich und verließ wortlos die Küche. Draußen auf dem Hof heulte ein Motor auf. Ich wusste in diesem Augenblick nicht, ob mir Gregor leid tun sollte, oder nicht. Zuviel war die letzten anderthalb Stunden auf mich eingeprasselt. Doch sollte auch nur ein Bruchteil dessen stimmen, was Margarete und mein Onkel behaupteten, dann hatten wir in Grafenstein vermutlich noch eine weitaus problematischere Baustelle.

 

»Ist das der einzige Grund, warum du nach Grafenstein zurückgekehrt bist?« wollte ich anschließend wissen. »Abrechnung mit der Vergangenheit?«

Karl strich seinem Hund, der die ganze Zeit über mucksmäuschenstill unter dem Tisch verharrt hatte, erneut über den struppigen Kopf. Ein Lächeln huschte über sein faltiges Gesicht.

»Ja und nein. Es stimmt, dass ich unbedingt den Typ ausfindig machen wollte, der mich und Karin seinerzeit verraten hat. Weißt du, die Geschehnisse von damals waren für mich jahrzehntelang eine eigentlich längst verheilt geglaubte Wunde, die jedoch mit dem unerwarteten Auftauchen deines Freundes in Arles schlagartig wieder aufriss. Ich wollte aber auch meinen Neffen noch einmal wiedersehen. Ich bin ein alter Mann, mein Leben neigt sich langsam aber sicher dem Ende zu.«

»Was soll das heißen?«

Karl schaute mich nachdenklich an.

»Du hast doch sicher gemerkt, dass ich nicht mehr so ganz toppfit bin. Seit etwa einem Jahr kann ich mein linkes Bein und meinen linken Arm nicht mehr richtig bewegen. Hirntumor. Die Leute meinen, ich sollte besser Schluss machen mit der Arbeit auf der Ranch, schließlich sei ich ja wirklich nicht mehr der Jüngste. Vielleicht steckt auch bloß die allgemeine Wirtschaftskrise in Frankreich dahinter.«

»Du kannst natürlich bleiben, solange du willst«, antwortete ich hastig.

Karl winkte ab.

»Dein Familiensinn in allen Ehren, aber ich möchte niemandem zur Last fallen. Der Arzt in Marseille meinte, in spätestens sechs Monaten wäre ich vermutlich sowieso ein Pflegefall. Kannst du so jemanden auf deinem Weingut gebrauchen? Bestimmt nicht. Ich denke da ganz pragmatisch. Du hast schließlich noch dein halbes Leben vor dir. Ich komme schon alleine zurecht.«

Robespierre legte seine Schnauze auf das Knie meines Onkels und jaulte leise.

»Nur um den hier muss sich anschließend jemand kümmern«, fügte er mit tonloser Stimme hinzu.

Ich atmete tief durch.

»Soweit sind wir noch lange nicht. Am Montag bringe ich dich jedenfalls erst mal in die Klinik.«

Karl schüttelte energisch den Kopf.

»Nur über meine Leiche. Ich verspüre absolut keine Lust, mit dem Schicksal Roulette zu spielen.«

Er deutete auf den Köter, der sich vor seinen Füßen zusammengerollt hatte, mich dabei jedoch für keinen Moment aus den Augen ließ.

»Vielleicht kann Robespierre ja bei dir auf dem Weingut bleiben. Er ist ein guter Wachhund.«

Ich atmete tief durch.

»Das ist nicht dein Ernst! Ich kann mir doch nicht alle paar Tage neue Klamotten kaufen.«

Karl lächelte.

»Was glaubst du, wie viele Bisswunden ich seinerzeit davon getragen habe. Er braucht halt seine Zeit, um sich an Fremde zu gewöhnen. Ich denke, ihr passt ganz gut zusammen.«

Kopfschüttelnd beugte ich mich zu dem irischen Bettvorleger hinab. Robespierre fletschte demonstrativ die Zähne und knurrte drohend. Mein Kommentar fiel entsprechend skeptisch aus.

»Robie ist da anscheinend ganz anderer Meinung.«

 

 

 

 

 

Kapitel 15

 

Sonntag

 

Das Telefon auf dem Nachttisch begann zu summen. Netterscheid wälzte sich von einer Seite zur anderen und versuchte das Geräusch zu ignorieren. Es gelang ihm nicht. Seufzend tastete er nach dem Störenfried. Noch mit geschlossenen Augen hielt er den Hörer an sein Ohr.

»Was ist denn?« brummte er ungnädig.

»Herr Netterscheid?«

Die Stimme war weiblich und klang unsicher. Er wurde das Gefühl nicht los, dass er die Stimme in den vergangenen Tagen schon mal gehört hatte.

»Ja, zum Henker.«

Gleichzeitig warf er einen Blick auf die Anzeige des Radioweckers.

»Wissen Sie eigentlich, wie spät es ist? Was wollen Sie von mir zu nachtschlafender Zeit?«

»Entschuldigen Sie die Störung, Herr Hauptkommissar. In der Nähe von Grafenstein hat sich ein schwerer Verkehrsunfall ereignet. Sie sollten...«

»Bin ich etwa die Verkehrspolizei, oder was?« schnaufte Netterscheid in den Telefonhörer.

Mist! Jetzt war er wach. Wäre auch zu schön gewesen, mal ein bisschen länger als drei, vier Stunden schlafen zu können. Am vergangenen Abend war er noch schnell ins Büro gefahren, hatte einen ersten Bericht verfasst und seinem Chef zur Kenntnis vorgelegt. Viel hatten seine Ermittlungen in Grafenstein bisher noch nicht ergeben. Hinzu kam, dass sich die Kollegen in Trier wenig kooperativ zeigten. Die junge Staatsanwältin ging ja noch, obwohl sie sich ziemlich dicht an der Grenze zum Burnout bewegte. Sie tat ihm fast ein wenig leid. Aber dieser Schäfer und sein Mitarbeiter waren jedenfalls sowas von dilettantisch. Mit diesen Typen konnte man doch solch einen komplexen Fall wie in Grafenstein nicht lösen. Wenigstens schien man sich auf die Leiterin der Trierer Spurensicherung verlassen zu können.

»Herr Kriminalhauptkommissar?«

Netterscheid seufzte.

»Was denn noch? Wer sind Sie überhaupt?«

»Lydia Sartorius, Kriminaltechnische Untersuchung Trier.«

Netterscheid richtete sich auf. Neben ihm brummte eine Stimme. Vorsorglich deckte er den Sprechschlitz des Telefonhörers ab.

»Was ist denn los?«

»Dienstlich, mein Schatz. Schlaf weiter.«

»Wir haben Wochenende«, beschwerte sich die Frau in der anderen Betthälfte. »Denk bitte dran, wir wollen heute mit den Kindern einen Ausflug machen.«

»Weiß ich doch, Helen.«

»Moment«, knurrte er anschließend ins Telefon.

 

Netterscheid sprang aus dem Bett und verschwand im Wohnzimmer. In Bruchteilen von Sekunden schaltete Ehemann Lutz auf Kriminalhauptkommissar Netterscheid um. Eine seltene Gabe, um die ihn nicht nur seine Kollegen in Meckenheim beneideten. Die ihm aber auch bereits eine Scheidung eingebracht hatte. Für Simone ging damals einzig und allein die Familie vor, für ihn hingegen der Job. Beides schaffte er jedoch nicht unter einen Hut zu bringen. In seiner neuen Beziehung war es im Prinzip nicht anders. Langsam fragte er sich, warum er überhaupt noch einmal geheiratet hatte. Manche Männer wurde aber auch nie klug.

»So, da bin ich wieder. Also, was gibt's?«

Gleichzeitig schlüpfte er in seine Jeans und streifte T-Shirt und Pulli über.

»Kurz vor Mitternacht kam es auf der Landstraße zwischen Grafenstein und der Anschlussstelle zur A1 zu einem folgenschweren Verkehrsunfall. Eigentlich nichts Ungewöhnliches, denn die Strecke hat an manchen Stellen so ihre Tücken. Ein PKW geriet von der Fahrbahn ab und prallte gegen einen Baum.»

Seine Gesprächspartnerin verhaspelte sich ein paar Mal.

»Die Fahrerin wurde schwer verletzt, die Beifahrerin starb noch an der Unfallstelle. Nun der eigentliche Grund meines Anrufs: Ein Zeuge behauptet, der Wagen sei auf von der Fahrbahn abgedrängt worden.«

»Idioten gibt es überall«, entgegnete Netterscheid. »Okay, wir haben einen Verkehrsunfall auf einer Landstraße mit Todesfolge. Tragisch, aber nicht zu ändern. Was haben Sie überhaupt mit der Geschichte zu tun?«

»Die näheren Begleitumstände. Der Unfallverursacher ist flüchtig.«

»Konnte der Zeuge nähere Hinweise machen?«

»Nur soviel, dass es sich angeblich um einen dunklen Geländewagen gehandelt haben soll. Kennzeichen und Marke unbekannt. Ach ja, der Zeuge ist sich sicher, dass der Geländewagen einen Rammschutzbügel vor der Motorhaube besaß.«

»War Alkohol im Spiel?«

Die Leitung blieb für einen kurzen Moment stumm.

»Bei der Fahrerin? Keinesfalls. Da bin ich mir sicher.«

Netterscheid überlegte.

»Noch mal: Was geht mich das an? Ich bin Ermittlungsbeamter beim BKA, und der Unfall hat, so wie Sie ihn schildern, wohl kaum etwas mit den Geschehnissen in Grafenstein zu tun. Ich sehe absolut keinen Grund, warum ich mich da einschalten sollte.«

Erneut dauerte es einen Augenblick, ehe die Anruferin antwortete. Es kam ihm so vor, als würde sie sich jedes Wort genau überlegen.

»Bei der Toten handelt es sich um Marianne Schäfer, in deren Wohnung letztens eingebrochen wurde. Fahrerin des Unfallwagens war Margarete Sandhoff, eine Bekannte von Marianne. Unmittelbar vor dem Unglück hielten sich beide Frauen auf dem Weingut von Hagen Brenner auf. Ist das nicht seltsam? Erst bricht man bei Marianne Schäfer ein, kurz darauf wird Hagen Brenner überfallen, und heute Nacht stirbt Marianne an den Folgen eines Verkehrsunfalls mit Fahrerflucht.«

Netterscheid wurde hellhörig.

»Woher wissen Sie, dass die beiden Frauen auf dem Weingut vom Brenner waren?«

»Ich war selbst dort zu Gast.«

»Was hatten Sie dort überhaupt verloren? Schließlich ist der Kerl in einen Mordfall verwickelt.«

Lydia zögerte.

»Marianne bat mich, sie zu dem Treffen zu begleiten. Marianne ist ... war meine Freundin.«

Netterscheid überlegte keine Sekunde.

»Und diese Margarete... wie hieß sie noch?«

»Sandhoff.«

»Diese Margarete Sandhoff hat den Unfall überlebt?«

»Ja. Frau Sandhoff wurde zwar verletzt, aber anscheinend nicht lebensbedrohlich. Sie befindet sich im Marienhospital.«

»Ist sie vernehmungsfähig?«

»Im Augenblick nicht. Sie wird zur Stunde operiert.«

»Wer ist diese Margarete Sandhoff? Wohnt die auch in Grafenstein?«

»Eine Internetbekanntschaft von Marianne. Sie war nur für ein paar Tage auf Besuch.«

»Eine Internetbekanntschaft«, murmelte Netterscheid. »Aha. Wie alt ist die Dame?«

»Etwa in meinem Alter.«

»Ach, nee. Und das haben Sie so einfach hingenommen?«

Lydia Sartorius ging auf seine Bemerkung nicht ein. Netterscheid beschloss, dieses Thema nicht weiter zu vertiefen.

»Wo ist die Tote? Ich will sie sehen.«

»In Grafenstein. Genauer gesagt bei Lothar Lanzerath, dem örtlichen Bestattungsunternehmer. Lanzerath wird sie gleich morgen früh in die Rechtsmedizin bringen.«

»Wo stecken Sie?«

»Ebenfalls bei Herrn Lanzerath.«

»Okay, ich bin schon unterwegs. Achten Sie darauf, dass sich niemand an der Leiche zu schaffen macht.«

 

Anschließend wählte er eine Nummer in Meckenheim.

»Grüß dich, Klaus. Schön, dass du noch im Büro bist.«

Die Stimme am anderen Ende der Leitung lachte.

»Noch ist gut.«

»Pass auf, ich habe was für dich. Ich brauche Personenschutz für eine gewisse Margarete Sandhoff, derzeit Marienhospital Trier, vermutlich Intensivstation oder Chirurgie. Eingeliefert nach einem Verkehrsunfall mit Fahrerflucht. Ihre Beifahrerin, eine Marianne Schäfer, verstarb noch an der Unfallstelle. Frau Sandhoff ist Zeugin im Fall Grafenstein, und ich werde das dumpfe Gefühl nicht los, dass man die beiden Frauen aus irgendeinem unerfindlichen Grund aus dem Weg räumen wollte. Ich schaue mir jetzt erstmal die tote Beifahrerin an.«

»Ist das alles?«

»Natürlich nicht. Ich will alles über diese Margarete Sandhoff erfahren. Woher sie stammt, was sie treibt und ob sie mit der Toten aus dem Yachthafen, dem Tunesier und insbesondere dem Türken aus der Disco in irgendeiner Weise in Verbindung steht. Und finde heraus, ob sie eine Waffe besitzt. Vornehmlich eine Neunmillimeter Parabellum oder eine Ceska. Ich finde das langsam alles ein bisschen seltsam. Urplötzlich tauchen zwei wildfremde Frauen in Grafenstein auf. Kurz darauf liegt die eine erschossen im Yachthafen, und die andere entgeht offenbar nur knapp einem Mordanschlag. Das sind doch alles keine Zufälle mehr.«

Er überlegte einen kurzen Augenblick.

»Habt ihr eigentlich endlich was über den Verbleib der beiden Nutten herausbekommen?«

»Im Augenblick noch nicht, aber die Breitner ist an der Sache dran.«

Netterscheid brummte befriedigt. Wenn Doro sich der Sache angenommen hatte, dann konnte er beruhigt sein. Doro Breitner war eine der besten Forensikerinnen des BKA. Unwillkürlich musste er schmunzeln. Und scharf war die Kleine. Geradezu rattenscharf. Jedenfalls durfte Helen nie etwas von der letzten Observierung erfahren. Während einer verdeckten Ermittlung mussten sie sich in einem Hotel als Ehepaar ausgegeben, und Doro spielte die Rolle der Ehefrau nach seinem Geschmack ein bisschen zu gut. Aber diese Scharade war Teil ihrer Ermittlungsarbeit gewesen. Sie wusste das, und er wusste das auch. Außerdem war sie mit einem jungen Türken liiert, und mit dessen Sippschaft hätte er sich nicht im Traum anlegen mögen. Völlig egal, ob Doro nun sein Typ hätte sein können oder auch nicht.

 

~~~~~~~

 

Der Anblick, der sich den Beteiligten bot, war zumindest nichts für Leute mit schwachen Magennerven. Mariannes Kopf war nur noch ein blutiger Klumpen, der Brustkorb eingedrückt, der rechte Oberarm vom Rumpf abgetrennt.

»Sieht wirklich nicht appetitlich aus«, meinte Netterscheid, nachdem er das Unfallopfer in Augenschein genommen hatte.

»Da haben Sie recht«, pflichtete ihm Lanzerath bei. »Die Beifahrerseite des Unfallwagens wurde beim Aufprall regelrecht zerschmettert. Mein Mitarbeiter und ich hatten einige Mühe, Mariannes sterbliche Überreste aus dem Fahrzeug zu bergen.«

»Sie kannten die Tote?«

Lanzerath räusperte sich. Normalerweise verlor er nämlich kein Wort über seine Kundschaft.

»Wir alle kannten Marianne. Eine liebenswerte und warmherzige Person. Sie war Angestellte auf dem Weingut von Hagen Brenner. Ihre Eltern betreiben meines Wissens eine Landwirtschaft in der Nähe von Mayen. Ehe ich's vergesse: Die letzten Tage hatte sie Besuch von einer Bekannten.«

»Die Fahrerin, stimmt's? Diese Margarete Sandhoff.«

Lanzerath nickte.

»Was hat die überhaupt nach Grafenstein verschlagen?«

»Keinen blassen Schimmer. Das müssen Sie sie schon selbst fragen, jetzt wo Marianne tot ist.«

Netterscheid machte sich ein paar Notizen.

»Haben Sie eine Ahnung, wann genau diese Margarete Sandhoff in Grafenstein aufgetaucht ist?«

Lanzerath überlegte für einen kurzen Augenblick.

»Soweit ich weiß, Anfang der Woche. Ich selbst habe sie allerdings erst vor zwei Tagen kennengelernt. Anlässlich eines Abendessens oben auf dem Weingut. Hagens Onkel ist ein begnadeter Koch, müssen Sie wissen.«

»Also war sie zur Tatzeit in Grafenstein«, murmelte der Kriminalhauptkommissar gedankenverloren vor sich hin.

 

»Welche Tatzeit?« wollte Lydia wissen.

Die Chefin der Trierer Kriminaltechnik hatte sich in einem Nebenraum frisch gemacht und trat näher. Lydia Sartorius war wohl die einzige Kriminaltechnikerin in ganz Deutschland, die im Designerkostüm zur Arbeit erschien.

»Der Todeszeitpunkt von Erna Leinfeld.«

»Was soll denn Frau Sandhoff mit der Toten aus dem Yachthafen zu tun gehabt haben?«

»Sagen Sie's mir«, entgegnete der Kriminalbeamte. »Kommen wir nochmal auf dieses ominöse Treffen gestern Abend auf dem Brenner’schen Weingut zurück. Sie waren doch dabei. Gab es irgendwas Besonderes? Streit etwa?«

Lydia nickte.

»Frau Sandhoff hatte eine Auseinandersetzung mit Gregor Weisz, einem Freund von Hagen.«

Netterscheid hob die Augenbrauen.

»Worum ging es in dem Streit?«

»Um die Zeit vor der Wende. Gregor Weisz stammt aus dem Osten. Nun ja, seine Einstellung zu den damaligen Verhältnissen ist, gelinde gesprochen, etwas gewöhnungsbedürftig.«

»Haben sich die Beiden gezofft?«

»So könnte man es ausdrücken.«

»War die Tote auch in den Streit involviert?«

Lydia schüttelte den Kopf.

»Nein, Marianne hat an dem Abend überhaupt nur wenig gesagt.«

Netterscheid überlegte.

»Wann war die Party zu Ende?«

Lydia schaute den Leichenbestatter an.

»So gegen zehn Uhr etwa«, antwortete Lanzerath. »Ich erinnere mich deshalb so genau, weil Marianne um diese Zeit ein Telefongespräch erhielt. Anschließend sind dann auch Frau Sartorius und ich aufgebrochen. Die Stimmung war wegen des Streits sowieso dahin. Wann Gregor Weisz das Weingut verlassen hat, entzieht sich meiner Kenntnis. Das müssen Sie ihn oder Hagen Brenner fragen.«

»Worum ging es in dem Telefonat?« wollte Netterscheid wissen.

Lydia zuckte die Schultern.

»Marianne meinte lediglich, sie müsse dringend nach Mayen. Auf dem Hof ihrer Eltern sei irgendwas passiert. Worum es dabei genau ging, hat sie mir nicht gesagt.«

»Mitten in der Nacht? Seltsam. Wo wohnt eigentlich dieser Weisz? Besitzt der einen Geländewagen?«

»Soweit ich weiß, fährt er eine ganz normale Mittelklasse-Limousine. Allerdings wohnt er in der Nähe des Unfallorts. Genauer gesagt in Salmfeld, einem Nest oben an der A1. Wo dort genau, weiß ich allerdings nicht.«

Netterscheid wandte sich wieder an Lydia und deutete auf die Leiche.

»Nehmen Sie bitte eine Haarprobe von der Toten und lassen Sie vom Labor einen Genabgleich vornehmen.«

Lydias Gesicht wurde zu einem einzigen Fragezeichen.

»Ein Gentest? Wozu denn das?«

»Lassen Sie das mal meine Sorgen sein«, meinte er nur.

 

Als Netterscheid das Bestattungsunternehmen verließ, begann es zu dämmern. Er gähnte herzhaft, zog sein Mobiltelefon hervor und drückte eine der Schnellwahltasten.

»Ja, Chef?«

Wenigstens war auf seine Leute Verlass.

»Ich gebe dir jetzt ein paar Namen durch. Doro soll die für mich mal gründlich checken. Du weißt schon, das volle Programm. Und dann lass dir vom zuständigen Untersuchungsrichter eine Genehmigung für einen Massengentest geben.«

Der Mann am anderen Ende der Leitung pfiff leise durch die Zähne.

»Sie gehen aber ran, Chef.«

Netterscheid grunzte verächtlich.

»Was bleibt mir anderes übrig? Die Leute in Grafenstein sind verstockter als bayrische Almbauern, und die Kripo kannst du in der Pfeife rauchen.«

»Was meint die Staatsanwaltschaft dazu?«

Netterscheid kickte mit der Stiefelspitze einen Stein beiseite.

»Gar nichts. Was geht mich überhaupt die Staatsanwaltschaft an?«

 

Er legte auf und wählte eine andere Nummer.

»Schäfer? Wo stecken Sie?«

Netterscheid verzog das Gesicht.

»Ach, hören Sie schon auf. Wochenende ist was für Warmduscher. Machen Sie sich gefälligst nach Salmfeld auf und vernehmen Sie dort einen gewissen Gregor Weisz. Wo der genau wohnt, weiß ich allerdings nicht. Aber eine Spürnase wie Sie wird das ja wohl in Nullkommanichts herauszufinden, oder?«

»Sie meinen den Rektor der Realschule Grafenstein? Klar, weiß ich wo der wohnt. Was wollen wir denn von dem?«

»Realschulrektor ist der? Sieh mal einer an. Prüfen Sie als erstes nach, ob der eine auffällige Beschädigung an seinem Wagen hat. Und fragen Sie ihn, ob er gelegentlich einen Geländewagen fährt. Und zwar einen mit Rammschutzbügel vor der Motorhaube.«

Schäfer verstand kein Wort. Was hatte denn auf einmal ein von seinen Schülern gemobbter Realschulrektor mit den Mordfällen in Grafenstein zu tun?

»Einen Geländewagen?«

»Spreche ich so undeutlich? Mit so einer Karre ist heute Nacht eine Bekannte von ihm umgebracht worden. Und falls sich der Weisz daheim nicht aufhalten sollte, lassen Sie ihn gleich zur Fahndung ausschreiben.«

»Jetzt sofort?«

»Nein, vorgestern!« knurrte Netterscheid und drückte das Gespräch weg.

 

~~~~~~~

 

Schon als ich die Treppe hinunter stolperte, waberte mir der Duft von frischem Toast, Spiegeleiern mit Speck, gebratenen Würstchen, Tomaten und Champignons entgegen. Auch eine Spur von Baked Beans und Räucherhering lag in der Luft. Karl bereitete offenbar zur Feier des Tages ein Full English Breakfast zu. Unwillkürlich lief mir das Wasser im Mund zusammen. Hirntumor hin oder her, der Alte musste unbedingt noch ein paar Tage bleiben. Notfalls wurde sein Köter halt in der Mosel versenkt. Kein einziger Dackel würde nach ihm bellen.

Ich betrat die Küche. Und wen sah ich als erstes? Den Lanzerath. Sein Gesicht trug passend zum Beruf die sprichwörtliche Leichenbittermiene.

»Hast du eigentlich immer noch kein eigenes Zuhause?« brummte ich.

Lanzerath deutete stumm auf meinen Onkel. Was war denn heute los? Nicht mal der Köter hing mir am Hosenbein. Den Tag sollte ich mir aber ganz dick im Kalender anstreichen.

»He, was ist passiert? Was macht ihr für bedröppelte Gesichter?«

Mein Onkel, der bis dahin wortlos in einer Pfanne herum gerührt hatte, drehte sich zu mir um. Seine Augen wirkten müde. Hier stimmte tatsächlich was nicht!

»Marianne ist tot.«

Für mich kam das im Augenblick so herüber, als sei ich versehentlich zum neuen Bischof von Rom gewählt worden. Habemus Hagen.

»Marianne? Das ist doch wohl nicht euer Ernst.«

Lanzerath holte tief Luft.

»Autounfall. Ganz schlimm. Zum Glück hat wenigstens Margarete überlebt. Sie liegt im Marienhospital. Aber jetzt kommt's: Ein Zeuge behauptet, die beiden seien von der Fahrbahn abgedrängt worden.«

Ich zog mir einen Sessel heran..

»Abgedrängt?«

»Von irgendeinem schwarzen Geländewagen. Angeblich mit einem Rammschutzbügel vor der Motorhaube. Ich verstehe das nicht. Gestern hockten wir noch zusammen, haben gegessen, getrunken, gelacht, und jetzt ist sie tot.«

Ich schaute ihn nachdenklich an.

»Na ja, soviel gelacht haben wir gestern nun auch wieder nicht. Wo ist sie jetzt?«

»In der Rechtsmedizin.«

»Hat sich die Kripo bereits eingeschaltet?«

Lanzerath schüttelte den Kopf.

»Nur der Typ vom BKA. Und natürlich Lydia.«

Die Anwesenheit der Spurensicherung konnte ich mir ja zur Not noch erklären.

»Netterscheid? Ich dachte, der soll sich um die Toten in Grafenstein kümmern.«

»Tut er ja«, erwiderte Lanzerath. »Nach seiner Auffassung gehört Marianne inzwischen mit zu diesem erlauchten Kreis.«

Mein Handy begann in der Hosentasche zu randalieren. Ich warf einen Blick auf das Display. Eigentlich hätte ich damit rechnen müssen.

»Was habt ihr denn jetzt schon wieder angestellt?« schimpfte die alte Dame. »Kann man euch nicht mal für fünf Minuten aus den Augen lassen?«

»Wir haben überhaupt nichts angestellt«, versuchte ich mich zu verteidigen. »Was können wir denn dafür...«

»Papperlapapp«, unterbrach mich Sophia. »Ihr kommt jetzt gefälligst bei mir vorbei. Wir müssen reden.«

»Wen meinst du alles mit 'ihr'?«

»Du und von mir aus auch Lothar. Ich will wissen, was sich da vergangene Nacht bei euch abgespielt hat.«

 

~~~~~~~

 

Kurz darauf fuhr mal wieder ein Leichenwagen durch das Neubauviertel. Außenstehende hätten langsam den Eindruck gewinnen können, dass es bei uns neuerdings genauso geruhsam zuging wie in Chicago zu Zeiten der Prohibition. Zwischen all den Doppelhaushälften, Mittelklassewagen und Carports herrschte geradezu gespenstische Stille. Dafür war Nora umso munterer.

»Ja, wos wuilt's 'n ihr, Bursch'n? Gemma, gemma.«

Unsere Vorstadt-Stripperin stellte sich Lanzerath unmissverständlich in den Weg und warf ihm gleichzeitig einen unwilligen Blick zu. Ich schob sie beiseite.

»Hobt's ahn Termin, Bursch'n?« feixte sie.

»Hör mit dem Quatsch auf und lass uns endlich durch.«

Nora ging voran. Hinter mir hörte ich den Totengräber tief durchatmen. Nora zeigte sich heute mal wieder von ihrer begehrenswerten Seite. Transparentes Nylon-Shirt im Wet-Look, Minirock vom Format breiter Gürtel und Stilettos, für die man andernorts mit Sicherheit einen Waffenschein brauchte. Wenn die so auf die Straße trat, dann gingen hier im Neubauviertel aber die Gaslaternen an. Und zwar am hellichten Tag. Kein Wunder, dass sich die halbe Nachbarschaft inzwischen über einen latenten Sittenverfall beklagte.

Am Ende des Flurs hielt Nora an und klopfte.

»Gnä' Frau?« rief sie durch die geschlossene Tür.

»Was denn?« kam es ziemlich ungehalten zurück.

»Do san wer.«

»Wer?«

»Geh, wisst scho. Gäste.«

»Was für Gäste? Durchsuch sie nach Geld und schmeiß sie raus! Ich bin beschäftigt.«

Nora drehte sich zu uns um.

»Habt's gehört, Freinderl. Geld her, und verschwind's. Aber zackig!«

 

Im gleichen Augenblick flog die Tür auf. Miss Sophie deutete mit dem gebogenen Zeigefinger unmissverständlich an, endlich hereinzukommen. Ich kam mir vor wie bei Hänsel und Gretel.

»Nun kommt schon rein, oder braucht ihr eine Extraeinladung?«

Kurzerhand schob ich Lanzerath hinein in das Pfefferkuchen-Wohnzimmer, in dem es im Augenblick jedoch nach was ganz anderem roch. Nach verbotenen Pflanzenextrakten aus dem Vorderen Orient.

Sophia richtete ihre Fernbedienung auf den Fernseher. Sofort erlosch der Bildschirms. Ich konnte noch so eben ein ausgebreitetes Blatt auf einem virtuellen Pokertisch erkennen. Full House. Vermutlich war der Rest der Runde heilfroh, dass Miss Sophie in diesem Augenblick ausstieg. Hinter uns fiel sachte die Tür ins Schloss. Man konnte über Nora denken, was man wollte, aber diskret war sie. Typisch Wien. Na ja.

»Setzt euch. Was möchtet ihr trinken?«

»Danke, im Augenblick nichts«, winkte Lanzerath ab.

»Du wolltest uns sprechen?« Besser mal nicht gleich mit der Tür ins Haus fallen.

Sophias Mundwinkel hoben sich für einen kurzen Moment.

»Habt ihr schon von dem Familiendrama bei uns in der Siedlung gehört? Die Balfelderin hat ihren Mann aus dem Haus geschmissen. Aber achtkantig. Herrgott, kann die vielleicht fluchen. Dagegen ist Nora ein Weihnachtsengelchen.«

Danach wurde sie aber gleich wieder ernst.

»Der junge Öztürk und seine Freundin sind bei dem Brand ums Leben gekommen, stimmt's? Der Schwager von unserem Disco-Besitzer und die Friseuse mit dem Lippenpiercing, das sich ständig entzündete. Schrecklich. Wie konnte sowas nur passieren?«

Mit knappen Worten klärte ich Sophia darüber auf, was sich in Steinfeld zugetragen hatte. Danach kam ich auf den Wohnungseinbruch bei Marianne zu sprechen.

»Eingebrochen?« schüttelte sie den Kopf. »Herrje, wieso das denn?«

»Keine Ahnung«, antwortete ich. »Viel schlimmer finde ich den Verkehrsunfall. Auch noch mit Fahrerflucht. Man glaubt es nicht!«

Jetzt war Lanzerath an der Reihe zu berichten. Mit blumigen Worten schilderte er die Auseinandersetzung zwischen Margarete und Gregor Weisz und dass Marianne einen Anruf der Polizei erhalten habe. Anschließend hätten die beiden Frauen das Weingut Hals über Kopf verlassen, um nach Mayen zu fahren, weil angeblich auf dem Hof ihrer Eltern irgendwas passiert sein sollte. Dabei kam es kurz vor der Autobahnauffahrt zu dem folgenschweren Verkehrsunfall. Ich hingegen hielt mich mit meinem Mitteilungsdrang zurück. In jedem Fall verschwieg ich, was bei dem Sechs-Augen-Gespräch zwischen mir, Karl und Gregor so alles herausgekommen war. Das ging Außenstehende nun wirklich nichts an.

Sophia runzelte die Stirn.

»Ein Telefonanruf von der Polizei, sagst du?«

Gleichzeitig nahm sie ihr Tablet zur Hand und strich ein paar Mal über die Oberfläche. Anschließend zückte sie ihr Smartphone und wählte eine Nummer.

»Herr Schäfer? Frau Berrenrath am Apparat. Ich war eine Bekannte Ihrer Tochter. Mein aufrichtiges Beileid.«

Sophia hörte der Gegenseite eine Weile zu. Ihr Gesicht verzog sich dabei nicht die Spur. Schließlich legte die alte Dame wieder auf.

»Die sind völlig aufgelöst, aber bei denen auf dem Hof scheint seltsamerweise alles in Ordnung zu sein. Wenn ihr mich fragt, diente der Telefonanruf nur dazu, Marianne aus Grafenstein wegzulocken. Weiß man Näheres über den Unfallverursacher?«

Lanzerath schüttelte den Kopf.

»Wie ich bereits sagte, der Kerl hat sich aus dem Staub gemacht.«

»Gregor?« fragte Sophia.

Ich winkte ab.

»Margarete und er hatten vergangene Nacht zwar eine heftige Auseinandersetzung. Aber Margarete und Marianne verließen uns lange bevor Gregor aufbrach. Es ging um unterschiedliche Weltanschauungen. Deswegen bringt man doch niemanden um. Im übrigen soll es sich bei dem Unfallverursacher um einen schweren Geländewagen gehandelt haben. Gregor fährt einen Audi A6.«

»Was ist eigentlich mit dieser Margarete?«

»Die hat man nach Trier in die Klinik gebracht«, sagte Lanzerath. »Zum Glück ist sie nicht lebensgefährlich verletzt.«

»Trotzdem« murmelte Sophia. »Das war niemals ein gewöhnlicher Verkehrsunfall. Da steckt mehr dahinter.«

Ich erhob mich und ging zum Wohnzimmerfenster. Dort blieb ich für eine Weile stehen und schaute hinaus in den Garten. Nora goss in der Nähe des Gewächshauses Blumen und Sträucher. Eigentlich hätte nur ein Mann mittleren Alters und ein Kleinkind gefehlt, um die Idylle perfekt zu machen. Aber sowas gab es nur bei Rosamunde Pilcher. Ich drehte mich herum.

»Wer um alles in der Welt sollte ein Interesse haben, Marianne etwas anzutun?«

 

Miss Sophie zuckte die Schultern.

»Da fragst du noch? Denk mal nach. Aus buchstäblich heiterem Himmel tauchen bei uns zwei wildfremde Frauen auf. Die eine wird kurz darauf erschossen am Moselufer aufgefunden, die andere entgeht nur knapp einem Anschlag. Ist doch seltsam, oder? Marianne erhält einen Anruf, die beiden Frauen brechen auf und kurz darauf geschieht der Unfall mit Fahrerflucht. Im übrigen ist gar nicht erwiesen, dass der Anschlag überhaupt Marianne galt. Es war schließlich Margaretes Wagen.«

Sophia lehnte sich auf ihrem Kanapee weit zurück.

»Nach den Geschehnissen der vergangenen Tage habe ich mich mal ein bisschen über die Tote aus dem Yachthafen erkundigt. Senile Bettflucht, ihr wisst schon. Nachts kann ich höchstens noch zwei, drei Stunden schlafen, und ständig mit Amateuren pokern, ist auf die Dauer auch langweilig. Jedenfalls habe ich herausgefunden, dass zur gleichen Zeit, als in Hoheneck Oberleutnant des Staatssicherheitsdienstes Erna Kosinsky, die spätere Frau Leinfeld, gemeinsam mit Dr. Jochen Kohn ihr Unwesen trieb, dort auch eine gewisse Margarete Sandhoff einsaß. Angeblich wegen geplanter Republikflucht. Für mich sind das jedenfalls keine Zufälle mehr.«

Lanzerath und ich schauten uns verblüfft an. Insgeheim zählte ich an meinen zehn Fingern die vergangenen Jahre ab.

»Margarete soll Häftling in Hoheneck gewesen sein? Das kann nicht sein. Margarete ist um die Vierzig. Zu der Zeit wäre sie ein Schulkind gewesen, und Kinder galten selbst in der DDR als nicht strafmündig.«

»Völlig richtig. Man merkt, dass du bei mir im Unterricht aufmerksam gewesen bist. Auch wenn du in Mathematik immer ein bisschen geschwächelt hast, konnte ich dir wenigstens logisches Denken beibringen. Die Margarete Sandhoff, von der ich spreche, müsste heute etwa Mitte Sechzig sein. Die Teilnehmer im Hoheneck-Forum berichten übereinstimmend, dass Erna Kosinsky und Dr. Kohn der Strafgefangenen Margarete Sandhoff zeitweise das Leben regelrecht zur Hölle gemacht haben. Da sollen Dinge passiert sein, über die ich gar nicht weiter nachdenken möchte. Sonst bekomme ich demnächst überhaupt kein Auge mehr zu.«

»Ja, verdammt nochmal, wer ist denn dann Mariannes Internetbekanntschaft?«

Sophia zuckte die Schultern.

»Keine Ahnung. Vielleicht ein weiblicher Robin Hood auf der Suche nach später Gerechtigkeit.«

»Weiß man, ob die richtige Margarete Sandhoff noch lebt und wo sie sich eventuell aufhält?«

Sophia schüttelte den Kopf.

»Im Augenblick nicht. Die Dame scheint seit ihrer Haftentlassung wie vom Erdboden verschluckt.«

»Wir leben in Zeiten des Internet«, winkte Lanzerath ab. »Heutzutage kann doch niemand mehr verschütt' gehen. Die Frau muss doch in irgendeinem Melderegister stehen, bei einer Telefongesellschaft Kunde sein oder wenigstens bei irgendeiner Bank ein Konto haben.«

»Es sei denn, sie lebt auf der Straße«, gab ich zu bedenken. »Oder sie hat sich nach ihrer Haftentlassung ins Ausland abgesetzt. Wäre kein Wunder nach alldem, was sie offenbar durchgemacht hat.«

 

»Wartet mal ab, was ich sonst noch herausgefunden habe«, fuhr Sophia fort. »Im Forum taucht immer wieder der Name einer gewissen Luise Kahlert auf, eine rechtskräftig verurteilten Mörderin aus Karl-Marx-Stadt, dem heutigen Chemnitz. Die Kahlert war in Hoheneck so etwas wie ein Kalfaktor. Eigentlich eine gewöhnliche Strafgefangene, die aber eng mit der Staatssicherheit zusammenarbeitete, um dadurch gewisse Vorteile für sich herauszuschinden. Im Prinzip sollte sie ihre Mitgefangenen bespitzeln.«

Ich schaute Miss Sophie verblüfft an. Die war ja besser als der Verfassungsschutz. Von der Existenz einer Luise Kahlert hatte ich erst gestern durch die Staatsanwältin erfahren.

»Luise Kahlert ist tot.«

Sophia nickte.

»Richtig. Nun denkt mal nach. Drehen wir die Zeit einfach mal ein paar Wochen zurück. Erst wird in Dessau ein gewisser Dr. Jochen Kohn erschossen. Niemand weiß warum. Kurze Zeit später stirbt Luise Kahlert, die Dr. Kohn nachweislich kannte, durch einen Verkehrsunfall. Der Verursacher konnte nicht ermittelt werden. Dann taucht urplötzlich eine Frau namens Margarete Sandhoff bei uns auf, und wenige Tage später wird die Touristin Erna Leinfeld, geborene Kosinsky, tot im Yachthafen aufgefunden. Erschossen. Und zwar mit derselben Waffe, mit der auch Dr. Kohn umgebracht wurde. Kurz darauf wird bei Marianne eingebrochen, und einen Tag später stirbt sie bei einem Verkehrsunfall mit Fahrerflucht. Wie gesagt, für mich sind das keine Zufälle mehr.«

»Und was hältst du von dem Überfall auf Caddy, meiner Begegnung der dritten Art mit den beiden Vermummten und der abgefackelten Disco?«

Sophia griff in ihr legendäres Holzkistchen und zündete sich ein Stäbchen an. Als schließlich der Duft von frischem Cannabis zu uns hinüber waberte, öffnete Lanzerath demonstrativ die Terrassentür.

»Du bringst uns nochmal alle in Teufels Küche.«

Sophia winkte wie gewöhnlich ab.

»Auf alles kann ich mir natürlich auch keinen Reim machen. So leuchtet mir beim besten Willen nicht ein, welche Rolle Abdelkader Moutussi und der Öztürk mit seiner Freundin in diesem Reigen spielen sollen. Bei dem Einbruch in die Wohnung von Marianne und bei deinem nächtlichen Besuch sieht das schon anders aus. Vielleicht hängt ihr ohne euer Wissen mit in der Affäre drin. Marianne hat schließlich für dich gearbeitet, und ihre Bekannte war auch mehrmals bei dir zu Besuch.«

»Aber weshalb sollte man denn bei Marianne einbrechen?«

»Vielleicht war sie im Besitz von Unterlagen, die Erna Leinfeld und den beiden anderen Leute kompromittieren. Oder diese Margarete. Die übernachtete ja schließlich bei ihr.«

Ich lehnte mich in meinem Sessel zurück und schloss kurz die Augen.

»Nur, dass ich das alles richtig verstehe. Du behauptest also ernsthaft, Marianne und Margarete könnten irgendwas mit den Todesfällen hier bei uns, in Dessau und vielleicht sogar in Chemnitz zu tun haben?«

»Fragen wir mal anders: Wo hielten sich die beiden Frauen zum Todeszeitpunkt von Dr. Kohn und Luise Kahlert auf? War Marianne vielleicht unlängst für ein paar Tage verreist, und wo steckte sie eigentlich, als Erna Leinfeld umgebracht wurde?«

 

Was die alte Dame da an Zweifeln erhob, war geradezu ungeheuerlich. Doch dann stutzte ich. Vor etwa drei Wochen hatte sich Marianne überraschend für ein paar Tage frei genommen, um für den elterlichen Betrieb die Steuererklärung abzugeben. Ich hatte das nie hinterfragt. Wieso auch? Ich bezahlte sie schließlich nach Stundenzettel. Da war es im Prinzip egal, wann sie bei mir im Büro hockte und wann nicht. Hätte sie vielleicht während dieser Zeit...?

Ich erhob mich und ging ein paarmal auf und ab. Dabei versuchte ich mich krampfhaft zu konzentrieren. Es gelang mir nicht wirklich.

»Es gibt noch eine weitere Ungereimtheit«, fuhr Sophia fort, wobei ihre Augen förmlich aufblitzen. »Karl ist ungefähr zur gleichen Zeit wie Erna Leinfeld und ebenso überraschend bei uns aufgetaucht. Was führte den eigentlich hierher? Lediglich ein Höflichkeitsbesuch? Knall auf Fall und das nach dreißig Jahren? Tut mir leid, Bub, aber das nehme ich deinem Onkel inzwischen nicht mehr ab. Was hat der eigentlich fast zwei Tage lang gemeinsam mit Mariannes Bekannter getrieben?«

Ich starrte die alte Dame entgeistert an.

»Du verdächtigst Karl? Das ist doch Unfug.«

Doch dann fiel mir wieder die Auseinandersetzung zwischen meinem Onkel und Gregor Weisz am vergangenen Abend ein. Mit mir hatte sein überraschendes Auftauchen in Grafenstein anscheinend wirklich nur am Rande zu tun. Es ging ihm in erster Linie um Gregor, den er nach all den Jahren endlich zur Rede stellen wollte. Wegen eines Verrats, den dieser vor dreißig Jahren begangen hatte. Zwischen ihm, seiner damaligen Freundin, der Frau, die sich als Margarete Sandhoff ausgab, und der Toten aus dem Yachthafen gab es eigentlich nur eine Schnittstelle: der berüchtigte Frauenknast in Stollberg. Ich überlegte für einen kurzen Augenblick, ob ich mit der Sprache herausrücken sollte, ließ es dann aber.

Als wir wenig später aufbrachen, war ich mir sicher, dass auch Miss Sophie wohl kaum zur Tagesordnung übergehen würde.

 

~~~~~~~

 

»Das ist nicht dein Ernst!«

Helen war zu recht aufgebracht. Auch er hatte sich auf den Ausflug mit den Kindern gefreut. Heute wollten sie eigentlich gemeinsam ins Phantasialand fahren. Viel zu oft hatte er in letzter Zeit seine Familie vertröstet.

»Ich habe da einen komplexen Mordfall an der Backe« versuchte sich Netterscheid herauszureden. »Was soll ich dem Chef sagen? Tut mir leid, alter Junge, ich habe erst noch meine Kinder zu bespielen?«

Die Augen seiner Frau verzogen sich zu schmalen Schlitzen.

»Du hast es versprochen!«

Netterscheid seufzte.

»Das bestreitet ja niemand, aber das war vor zwei Wochen. Damals konnte ich nicht ahnen...«

»Papperlapapp! Du findest doch immer eine Ausrede. Vorgestern waren es die Salafisten in Bonn, gestern irgendwelche Rechtsextremisten im Ruhrgebiet und heute ist es der Fall Grafenstein. Gib endlich zu, dass dir dein Job wichtiger ist als deine Familie.«

Netterscheid bewegte seinen Kopf mehrmals hin und her. Seine Nackenwirbel schmerzten. Das taten sie meistens, wenn er angespannt war. Die Vorwürfe seiner Frau kamen da gerade recht.

»Was soll ich deiner Ansicht nach tun? Alles hinschmeißen und mich nach einem anderen Beruf umsehen? Kein Problem. Bist du dann in der Zwischenzeit so lieb, einen Job anzunehmen, um mich und die Kinder über Wasser zu halten? Ich glaube kaum, dass es in deinem Interesse ist, wenn wir demnächst von Hartz IV leben.«

Helen wurde wütend.

»Immer dasselbe Totschlag-Argument. Als wenn es nur ums Geld ginge.«

»Worum geht's denn dann? Wer wollte, dass ich so rasch wie möglich Karriere beim BKA mache, damit wir uns das Haus hier kaufen konnten? Du doch wohl. Ich war mit unserer Wohnung in Bonn zufrieden. Aber nein, es musste ja unbedingt eine Riesenhütte mit fünfhundert Quadratmetern Garten sein. Nun sei endlich mit dem zufrieden, was wir aufgebaut haben, und lass mich meinen Job tun. Von nichts kommt nichts.«

Aus gutem Grund hatte er darauf hingewiesen, dass sie beide und nicht er alleine das alles erreicht hatten. Doch Helen ließ nicht locker. Mit weit ausgestreckten Armen stapfte sie durch das Wohnzimmer.

»Einen nur. Einen einzigen verschissenen Sonntag gemeinsam mit dir und den Kindern. Ist das wirklich zuviel verlangt? Wozu hast du mich eigentlich geheiratet? Eine Putzfrau hättest du billiger haben können.«

Netterscheid schüttelte den Kopf, als gälte es, ein lästiges Insekt abzuschütteln.

»Jetzt hör aber mal auf! Glaubst du, ich ginge mit meiner Putzfrau ins Bett?«

Völlig falsche Argumentation. Erwartungsgemäß wechselte Helens Tonlage aus dem Stand heraus von einem rinforzando in ein rasselndes crescendo. Terrassendynamik feinster Mannheimer Schule. Dynamik pur, nur leider wenig melodisch.

»Das wird ja immer schöner! Hast du mich etwa nur geheiratet, bloß um eine fürs Bett zu haben? Das wird ja immer schöner. Wie gesagt, wenn du heute tatsächlich...«

Die Tür zum Wohnzimmer schwang auf, und ein Sechsjähriger mit Kuschelbär unter dem Arm erschien im Türrahmen.

»Was'n los? Streitet ihr?«

»Ja«, murmelte seine Mutter

»Nein«, versuchte Netterscheid zu beschwichtigen. »Mama und Papa haben im Augenblick nur was zu bereden.«

Helen nahm ihren Sohn in den Arm.

»Papa kann nicht mir zum Ausflug.«

Die Augen des Jungen füllten sich mit Tränen. Er riss sich los und stürmte zurück in sein Zimmer.

 

»Na, bravo«, knurrte Netterscheid. »War das nötig? Herrje, der Junge ist sechs Jahre alt. Der kann doch gar nicht abschätzen, was im Augenblick Vorrang hat, und was nicht.«

Helen baute sich drohend vor ihm auf.

»Was im Augenblick Vorrang hat? Das will ich dir sagen, mein Lieber. Im Augenblick geht verdammt nochmal deine Familie vor. Die Kinder haben dich das letzte Mal vor Karneval ein ganzes Wochenende für sich gehabt. Von mir mal ganz zu schweigen. Wenn du abends aus dem Büro kommst, dann willst du doch nur noch essen, deine Mails checken und anschließend fernsehen. Wann hatten wir eigentlich das letzte Mal Sex? Moment, ich muss rasch nachrechnen. Ich glaube, voriges Jahr. Irgendwann vor Weihnachten. Ganz auf die Schnelle.«

Sie verdrehte bühnenreif die Augen.

»Wenn ich mich recht erinnere, zwei Minuten auf dem Küchentisch. Na, bravo! So stellt man sich eine glückliche Beziehung vor.«

Netterscheid wich einen Schritt zurück. Bisher hatte er sich, so gut es ging, zusammengerissen, aber inzwischen stieg auch bei ihm der Blutdruck.

»Jetzt hör mir mal gut zu. Ich schufte von früh bis spät, damit wir uns das Haus, den SUV und mindestens zwei Urlaube im Jahr leisten können. Und nicht etwa Schwarzwald oder Mallorca. Nein, natürlich Südtirol und Karibik. Man gönnt sich ja sonst nichts.«

Er dachte an die Warnungen seiner Therapeutin und begann instinktiv von Hundert an rückwärts zu zählen. Bloß nicht ausrasten. Du weißt, wohin das führt. Die letzte Scheidung hat dich ein Vermögen gekostet. Eigentlich war es nur Papa und Mama zu verdanken, dass du überhaupt finanziell mit halbwegs heiler Haut aus der Nummer herausgekommen bist. Bloß das Ganze nicht nochmal!

»Ach, hör doch auf!« schimpfte seine Frau unverdrossen weiter. »Dummes Geschwafel. Andere Männer bekommen Job und Familie doch auch unter einen Hut. Wieso sollte sowas ausgerechnet bei uns nicht klappen? Ich kann dir sagen wieso: Weil dir deine Familie nämlich sonst wo vorbei geht. Job, Job. Immer höre ich bloß den blöden Job. Kannst du nicht einmal an was anderes denken?«

Netterscheid war mit seiner dämlichen Rückwärtszählerei bei Fünfundsiebzig angekommen. Sein Blut kochte wie Milch auf der vergessenen Herdplatte.

»Mein Job«, kam es gepresst über seine Lippen, »ermöglicht uns zumindest ein sorgenfreies Leben. Ein paar meiner Kollegen würden es sogar bescheidenen Wohlstand nennen. Also, was willst du? Dass ich mir einen Posten in der Verwaltung suche? Sorry, aber dafür bin ich nicht geeignet. Und, sorry, das hast du auch lange vor unserer Ehe gewusst. Also hör jetzt gefälligst auf, hier herumzukrakelen.«

Helens Atem begann erneut zu rasseln.

»Was tue ich? Krakelen? Sag mal, geht's noch? Wer bist du denn? Ein kleiner Kripobeamter im gehobenen Dienst, der tagein tagaus nur baggert und baggert und dann doch kein gescheites Loch zustande kriegt. Mann, bis du armselig.«

Sechsundfünfzig, fünfundfünfzig, vierundfünfzig...

 

Erneut erschien der Sechsjährige im Türrahmen. Diesmal jedoch befand sich seine zwei Jahre jüngere Schwester in seinem Gefolge. Beide machten einen verstörten Eindruck. Jedenfalls waren ihre Augen verweint.

»Wann fahren wir?« fragte der Kleine.

»Überhaupt nicht!« brüllte Helen. »Und jetzt seht zu, dass ihr nach oben kommt. Papa und ich sind noch nicht fertig.«

Das Geschwisterpaar verschwand. Netterscheid hörte ihr leises Schluchzen. Es tat ihm in der Seele weh, doch gleichzeitig dachte er an den Mordfall Grafenstein. Helen ließ immer noch nicht locker.

»Unsere Ehe habe ich mir, ehrlich gesagt, ein bisschen anders vorgestellt. Auf einen Typen, der höchstens alle paar Wochen mal Zeit für seine Familie hat, kann ich ehrlich gesagt verzichten.«

Siebenundvierzig, sechsundvierzig...

»Dann lass dich doch von mir aus scheiden«, platzte es gegen seinen Willen aus ihm heraus.

Die beiden Ohrfeigen, die er sich dafür einhandelte, verbuchte er um des lieben Friedens Willen unter der Rubrik Kollateralschaden. Schweigend verließ er das Haus und machte sich auf den Weg an die Mosel.

 

 

 

 

Kapitel 16

 

 

Das Summen wurde immer aufdringlicher. Missmutig wälzte sie sich von einer Bettseite zur anderen und versuchte den Störenfried zu ignorieren. Es gelang ihr nicht. Das Summen war einfach zu penetrant. Stöhnend griff sie zum Hörer.

»Verdammt, nochmal, wissen Sie eigentlich, wie spät es ist?«

Der Anrufer zeigte sich gänzlich unbeeindruckt.

»Schauen Sie mal auf Ihre Uhr.«

Sie kannte die Stimme. Mit einem Mal war sie hellwach. Der Anruf kam aus Karlsruhe.

»Herr Oberst?« rutschte ihr unwillkürlich heraus.

»Wer sonst. Und nennen Sie mich gefälligst nicht Oberst. Die Zeiten sind vorbei. Leider. Aber mal was anderes. Was ist denn da bei Ihnen los? Und was hat Sie veranlasst, ausgerechnet Steiner einzuschalten?«

Sie sprang aus dem Bett und schlüpfte in ihren Morgenmantel.

»Wir haben hier ein echtes Problem. Jemand muss sich darum kümmern. Einer, auf den Verlass ist.«

Immer noch schlaftrunken stolperte sie ins Wohnzimmer und kramte ihre Sachen zusammen.

»Was um alles in der Welt wollte eigentlich die Kosinsky bei euch?« wollte der Anrufer wissen.

»Keine Ahnung. Vielleicht hat sie die Nerven verloren.«

Der Anrufer wieherte förmlich vor Vergnügen.

»Machen Sie sich nicht lächerlich. Die Kosinsky und die Nerven verlieren. Das glauben Sie doch nicht wirklich.«

»Was weiß denn ich, was plötzlich in die gefahren ist. Ich wäre jedenfalls auch nervös geworden, wenn plötzlich irgendwelche wildfremden Leute anfangen, in meiner Vergangenheit herumzustochern.«

»Ich dachte, die Sache wäre längst erledigt.«

»Offenbar nicht. Da sind wohl noch ein paar Rechnungen offen.«

Der Anrufer schnaubte verächtlich.

»Jetzt habe ich aber die Faxen dicke! Mit dieser Scheiße muss Schluss sein. Ein für allemal.«

Sie nickte.

»Meine Worte. Damit muss Schluss sein. Ein für alle Mal. Genau deshalb habe ich ja den Steiner eingeschaltet.«

Lautlos fluchte sie vor sich hin. Irgendwo hatte der Oberst recht. Warum gaben diese Idioten nicht endlich Ruhe? Nach Fünfundvierzig ging bei denen im Westen doch auch alles geräuschlos über die Bühne. Kaum, dass Adenauer sein Grundgesetz hatte verabschieden lassen, hockten die alten Nazis anderntags wieder genauso an den entsprechenden Schaltstellen wie vor Fünfundvierzig. Und kein Hahn hat je danach gekräht. Adenauer und seine Christdemokraten am allerwenigsten. Wieso klappte das diesmal nicht? Mehr als zwanzig Jahre nach dieser verdammten Wiedervereinigung. Warum rührte immer wieder jemand die alte Soße durch?

Der Anrufer räusperte sich.

»Außerdem haben wir jetzt auch noch das BKA am Hals.«

»Sie meinen den Netterscheid? Arme Socke. Geschieden, wiederverheiratet, zwei Kinder. Riesenhaus, Schulden bis zum Abwinken und seit zwei Monaten in Therapie. Mit dem werden wir auch so fertig.«

Ihr Anrufer zeigte sich skeptisch.

»Sind Sie sicher? Wie ich erfahren habe, will der Kerl das ganz große Fass aufmachen. Das BKA hat heute Morgen einen Massengentest beantragt. Ich konnte mit dem zuständigen Ermittlungsrichter zum Glück einen Deal aushandeln. Passen Sie nur ja auf, dass ihnen die Sache nicht über den Kopf wächst.«

»Gentest?« keuchte sie unwillkürlich. »Ist der irre? Davon weiß ich ja gar nichts.«

»Dann wissen Sie es jetzt. Und stehen Sie demnächst gefälligst früher auf. Sie sind in letzter Zeit nicht mehr richtig auf dem Laufenden, und ich bin nicht Ihr privater Nachrichtendienst.«

»Und Sie halten jetzt gefälligst mal die Luft an. Sitzt da in Karlsruhe auf seinem fetten Arsch, macht einen auf gefeierten Kulturmäzen und lässt sich nebenbei die Moneten hinten und vorne hineinschieben. Wer hat denn all die Jahre aufgepasst, dass alles glatt lief? Nun veranstalten Sie hier mal keinen Terror. Ich erledige das schon. Auf meine Weise.«

»Genau davor graut mir.«

»Nicht mal Goethe kann er richtig zitieren.«

Das anschließende Klicken in der Leitung hatte etwas Endgültiges.

 

~~~~~~~

 

Bis auf einen Haufen Spam befand sich nichts Interessantes in ihrem Postfach. Nicht mal auf ihrem Anrufbeantworter befand sich eine Nachricht. Kopfschüttelnd schloss Stefanie Michels ihren Email-Account, als das Telefon klingelte.

»Rechtsmedizin Trier, Stein am Apparat. Haben Sie schon gehört? Vergangene Nacht gab es in der Nähe von Grafenstein einen schweren Verkehrsunfall.«

»Bedauerlich, aber was geht mich das an? Ich bin nicht für Verkehrsstrafsachen zuständig.«

»Dabei ist eine junge Frau ums Leben gekommen«, fuhr der Anrufer unbeirrt fort. »Eine Mitarbeiterin dieses Hagen Brenner. Außerdem war sie gestern Abend bei ihm zu Besuch.«

»Woher wollen Sie das wissen?«

»Von dem Bestattungsunternehmer aus Grafenstein, der die Leiche nach Trier überführt hat. Dieser Lanzerath.«

»Auf wessen Anordnung?« wollte sie wissen.

»Auf Weisung des BKA. Der ermittelnde Beamte hegt den Verdacht, dass der Verkehrsunfall in Zusammenhang mit den Geschehnissen in Grafenstein stehen könnte.«

Stefanie seufzte. Langsam begann sie die Oberstaatsanwältin zu begreifen. In diesem Job musste man zwangsläufig irgendwann mit dem Saufen anfangen.

»Wo steckt eigentlich Ihr Chef?«

Der Mann am anderen Ende der Leitung brach in schallendes Gelächter aus.

»Ich bitte Sie! Glauben Sie, der Herr Professor hockt sonntags in der Rechtsmedizin? Der sitzt daheim am PC und koordiniert seine Vortragstermine. Von irgendwas muss der arme Kerl schließlich leben.«

Für Mitarbeiterscherze hatte sie im Augenblick keinen Nerv.

»Sie rufen mich doch bestimmt nicht an, um mich über die Auslastung Ihrer Seziertische zu informieren.«

»Natürlich nicht. Auf Anweisung des Ermittlungsbeamten habe ich von der Toten Material für einen Genabgleich genommen. Ich dachte, das würde Sie vielleicht interessieren.«

Stefanie Michels lehnte sich zurück und schloss die Augen. Sie hatte von Anfang an geahnt, das der Kerl bloß Ärger machen würde.

»Wozu das denn?«

»Soweit ich in Erfahrung bringen konnte, liegt dem zuständigen Ermittlungsrichter der Antrag auf Genehmigung für einen Massentest vor.«

»Hat der sie nicht mehr alle?« platze es aus ihr heraus.

Stein blieb genauso ruhig wie die Patienten in seinen zahlreichen Schubfächern.

»Ich würde vorschlagen, Sie kommen einfach mal vorbei. Es gibt nämlich bereits interessante Ergebnisse.«

 

Stefanie hatte ihren Wagen kaum gestartet, als sich ihr Smartphone meldete. Erwartungsvoll stopfte sie sich den Bluetooth-Clip ins Ohr. Im nächsten Augenblick sank ihre Stimmung.

»Wieso hat das BKA einen Massengentest angeordnet, und ich erfahre nichts davon? Und was hat überhaupt dieser Verkehrsunfall mit dem Mordfall Grafenstein zu tun?«

»Ich bin gerade auf dem Weg in die Rechtsmedizin, falls es Sie beruhigt«, antwortete Stefanie. »Die Rechtsmedizin hat anscheinend schon etwas herausgefunden.«

»Was soll mich daran beruhigen?« schnaufte ihr Gegenüber.

»Sobald ich mehr weiß, werde ich Sie unverzüglich in Kenntnis setzen. Man sieht sich, Frau Oberstaatsanwältin.«

Hoffentlich hatte sie mit dem abrupten Abbruch des Gesprächs keinen fatalen Fehler begangen, dachte sie bei sich. Die Alte konnte mitunter ziemlich nachtragend sein.

 

Ehe sie die schwere Metallklinke hinunterdrückte, atmete die junge Staatsanwältin noch einmal tief durch. Sie hasste den hell gekachelten Raum mit den bläulich schimmernden Neonröhren an der Decke. Erst recht hasste sie die Edelstahltische und die technischen Apparaturen, die ausschließlich dazu dienten, menschliche Körper zu demontieren, um den Zustand ihrer Einzelteile zu analysieren. Aber sowas gehörte halt mit zu ihrem Job, ob es ihr nun gefiel, oder nicht. Seufzend betrat sie die Rechtsmedizin. Sie ging an Dr. Steins bescheidener Kemenate vorbei und passierte die beiden Kammern mit den berüchtigten Kühlschubfächern, in denen Leichen bei knapp null Grad solange aufbewahrt wurden, bis sie zur Bestattung freigegeben wurden. Nach fünf weiteren Schritten erreichte sie eine Glasschiebetür, zog sie beiseite und betrat den dahinter liegenden Raum. Dr. Stein beugte er sich gerade über eine Leiche. Beziehungsweise über das, was davon noch übrig war. Stefanie Michels schluckte rau. Kein Zweifel, das Unfallopfer.

»Ah, da sind Sie ja endlich«, rief ihr der Rechtsmediziner betont aufgeräumt zu. »Treten Sie näher. Das wird Sie interessieren.«

Ich wüsste nicht, was mich daran interessieren sollte, knurrte sie leise vor sich hin. Ihr Job war es, Tatverdächtige vor Gericht zu bringen. Was ging sie die Arbeit in der rechtsmedizin an?

Stefanie Michels versuchte krampfhaft, die Tote auf dem Edelstahltisch zu ignorieren. Bereits ein flüchtiger Seitenblick hätte vermutlich gereicht, ihre ohnehin rebellierenden Magennerven erst richtig in Schwingung zu versetzen. Stein streifte sich die Latexhandschuhe ab und reichte ihr die Hand. Mit der anderen zeigte er nach hinten.

»Frau Sartorius ist übrigens auch schon da.«

 

Lydia stand vor einem Edelstahlbecken und wusch sich die Hände. Die Chefin der Trierer KTU wirkte wieder einmal wie aus dem Modekatalog. Hellblaues Kostüm, weiße Bluse, hochhackige Pumps aus feinstem Leder. Modisch betrachtet alles perfekt aufeinander abgestimmt. Nur etwas stimmte nicht. Lydias Gesicht wirkte eigentümlich starr, beinahe maskenhaft. Zudem waren ihre ansonsten stets makellos geschminkten Augen deutlich gerötet. Stefanie ging auf sie zu und drückte ihr die Hand.

»Geht es Ihnen nicht gut? Sie sehen blass aus.«

»Mir geht es bestens«, wischte die Chefin der Spurensicherung ihren Einwand beiseite. »Aber ich habe eine lange Nacht hinter mir und bin, ehrlich gesagt, ein bisschen erschossen.«

Stein trat an die beiden Frauen heran.

»Wie bereits erwähnt, habe ich Genmaterial der Toten entnommen und ein Screening durchgeführt.«

Über sein Gesicht huschte ein flüchtiges Lächeln.

»Sie erinnern sich an die Tote aus dem Yachthafen in Grafenstein? In unserem Bericht steht, dass die Frau fremde Hautpartikel unter den Fingernägeln hatte. Bingo! Hundert Prozent Übereinstimmung. Unser Verkehrsunfallopfer und die Ermordete müssen irgendwann einmal aneinander geraten sein. Anders lassen sich die Hautpartikel unter ihren Fingernägeln jedenfalls nicht erklären.«

Seine Stimme klang mit einem Mal amüsiert.

»Es sei denn, die Damen wären sich in heftigem Liebesrausch näher gekommen. Angesichts des Altersunterschieds erscheint mir das allerdings eher zweifelhaft.«

 

Stein drehte sich auf dem Absatz um und ging zurück zum Seziertisch. Gleichzeitig deutete er den beiden Frauen an, ihm zu folgen. Stefanie seufzte. Sie ahnte, was ihr bevorstand. Nur mit Mühe unterdrückte sie einen Würgereiz. Was sie schließlich zu sehen bekam, war wirklich nicht für das Vorabendprogramm geeignet. Nicht mal für die Late-Night-Show. Hier handelte es sich eher um rechtsmedizinische Hardcore. Das Unfallopfer hatte ein völlig zerschmettertes Gesicht. Unzählige mit grobem Garn vernähte Wundränder deuteten darauf hin, dass die Leichenöffnung bereits stattgefunden hatte. Am Schlimmsten war der Blick auf die durch den heftigen Aufprall aufgerissene rechte Körperhälfte. Der rechte Arm lag neben dem Leichnam, aus dem Schultergelenk ragte nur noch ein zerfetzter Knochenstumpf heraus. Auffällig war ein ungewöhnliches Muttermal in Form einer Schildkröte auf dem Unterarm der Toten. Es sah beinahe so aus wie ein professionell gestochenes Tattoo.

Stein nahm den abgetrennten Arm und legte ihn auf den Nachbartisch. Gleichzeitig packte er eine Starklichtlampe am Handgriff und zog sie nach unten.

»Sehen Sie hier diese beiden Kratzer?« meinte er und deutete auf den Armstumpf. Die Stelle lag kurz oberhalb des Handgelenks. An der Hand fehlten Daumen und Zeigefinger.

»Das ist es, worauf...«

Ein heftiges Würgen unterbrach seinen Vortrag. Stefanie rannte zu dem Edelstahlbecken, an dem sich Lydia kurz vorher die Hände gewaschen hatte, und übergab sich keuchend.

»Tut mir leid« stammelte Stein und beeilte sich, die Leiche wieder zuzudecken. »Ich konnte doch nicht ahnen...«

Stefanie wischte sich mit einem Papiertaschentuch über den Mund.

»Lassen Sie mal stecken. Nicht Ihre Schuld. Das nächste Mal schicke ich unseren verdammten Kriminalhauptkommissar. Weiß der Henker, wo der sich wieder herumtreibt.«

Sie wandte sich an die Chefin der Spurensicherung. Lydia wirkte wie versteinert.

»Herrje, was ist mit Ihnen los? So kenne ich sie gar nicht.«

»Marianne war meine Freundin. Wussten Sie das nicht?«

Stefanie schüttelte den Kopf.

»Sorry, keine Ahnung. Wissen Sie was, wir gehen jetzt erst mal gemeinsam einen Kaffee trinken. Ich muss hier jedenfalls raus.«

 

Kurz darauf nahmen die beiden Frauen vor einem Cafė am Hauptmarkt Platz. Stefanie bestellte zwei Espressi.

»Heraus mit der Sprache. Was war zwischen Ihnen und Marianne?«

»Sie war meine Freundin«, antwortete Lydia knapp.

Stefanie Michels überlegte kurz.

»Das sagten Sie bereits. Wenn ich mich recht erinnere, hat die junge Dame auf dem Weingut von Hagen Brenner gearbeitet hat, nicht wahr? Seit wann kannten Sie sich überhaupt?«

»Seit ein paar Wochen. Wir haben uns durch Zufall im Treff kennengelernt. Ich wollte endlich mal auf andere...«

Stefanie runzelte die Stirn.

»Das Treff? Das ist doch eine Schwulenbar. Sagen Sie, haben Sie sowas nötig? Sie, die Chefin der Trierer Spusi. Taff bis in die Haarspitzen, bildhübsch, mit Eigentumswohnung und einem Rennsportwagen, von dem Typen wie Hasso Schäfer nicht mal zu Traum zu denken wagen. Verstehe ich nicht.«

Lydia schaute ihre Begleiterin nachdenklich an.

»Frauen in meinem Alter und in meiner Position können sich nicht einfach im Internet nach einer Partnerin umsehen. Haben Sie eine Ahnung, was sich da mitunter für Spinner herumtummeln? Tut mir leid, aber in dieser Hinsicht bin ich ziemlich konservativ. Bevor ich jemanden mit nach Hause nehme, möchte ich mit dem Mädel vorher wenigstens ein paar Sätze geredet haben. Und zwar von Angesicht zu Angesicht und nicht in einem anonymen Chatroom.«

Stefanie starrte sie entgeistert an.

»Sie sind... Das hätte ich ja im Leben nicht vermutet.«

Lydia verzog keine Miene.

»Dass ich auf Frauen stehe? Wieso, haben Sie ein Problem damit? Keine Panik, Sie sind bestimmt nicht mein Typ.«

»Nein, nein«, stotterte die Staatsanwältin. Irgendwas im Leben lief offenbar ständig an ihr vorbei. »So habe ich das nicht gemeint...«

Lydia schaute die Staatsanwältin nachdenklich an.

»Zwei Frauen. Eine um die Dreißig, die andere knapp zehn Jahre älter. Sowas können Sie sich vermutlich nicht vorstellen, nicht wahr?«

Da hast du recht, mein Schatz, brummte Stefanie stumm in sich hinein. In dieser Hinsicht kann ich mir überhaupt nichts mehr vorstellen. Noch nicht einmal, wie das mit einer Frau und einem Mann in diesem Alter wäre. Wann hattest du eigentlich das letzte Mal Sex? Ernsthaft? Geschenkt!

»Ihre Freundin und diese Margarete, wie haben die sich eigentlich kennengelernt? Margarete stammt nicht von hier, oder?«

Lydia nickte.

»Über das Internet. Aber nicht etwa so, wie Sie vielleicht denken. Bei denen ging es um was anderes.«

»Und um was?« wollte Stefanie wissen.

»Die Schäfers sind nicht Mariannes leibliche Eltern. Sie hat es erst unlängst durch ein Blutgruppenscreening erfahren. Herr und Frau Schäfer mussten schließlich zähneknirschend eingestehen, dass sie Marianne kurz nach der Geburt adoptiert haben. In der ehemaligen DDR kamen die Kinder von ledigen Republikflüchtlingen normalerweise in ein Heim, es sei denn, verdiente und linientreue Genossen erklärten sich bereit, solche Kinder bei sich aufzunehmen. Besonders Säuglinge waren bei kinderlosen Paaren heißbegehrt. Denen musste man anschließend nicht viel erklären.«

»Marianne stammt aus Ostdeutschland?«

»Ja. Sie zog mit ihren Eltern kurz nach der Wende nach Mayen.«

»Und wie kommt jetzt diese Margarete ins Spiel?«

Lydia überlegte. Sie hatte Marianne hoch und heilig versprechen müssen, nie ein Wort über die Angelegenheit zu verlieren. Doch jetzt war sie tot, vermutlich sogar einem Mordanschlag zum Opfer gefallen. Was nutzte es da noch, Geheimnisse für sich zu behalten? Trotzdem, versprochen blieb versprochen. Andererseits, sie arbeitete für den Staat und war dadurch in gewisser Weise selbst Teil des Ermittlungsapparats. Verschwieg sie in einem Fall wichtige Hinweise, machte sie sich nicht nur strafbar. Sie machte sich vielmehr verdächtig. Als Freundin eines Mordopfers sowieso. Erst recht, weil sie für den Tatzeitpunkt selbst kein wasserdichtes Alibi besaß. Schließlich war sie ohne Begleitung nach Hause gefahren.

 

»Marianne hat, da die Einwohnermelderegister hüben wie drüben logischerweise nicht viel über ihre wahre Identität hergaben, in einschlägigen Internetforen Nachforschungen angestellt. Im Verlaufe dieser Recherchen stieß sie irgendwann auf Margarete. Die berichtete ihr von einer Bekannten, die vor etwa dreißig Jahren in einem DDR-Gefängnis einsaß. Und zwar in Hoheneck, wo seinerzeit die Politischen eingesperrt waren. Diese Bekannte erwähnte angeblich des öfteren eine Leidensgenossin, die in Hoheneck entbunden und der man das Kind kurz nach der Geburt weggenommen hatte.«

Stefanie runzelte die Stirn.

»Schöne Geschichte, aber wo bleibt die Pointe? Sowas kann sich doch jeder ausdenken.«

Lydia nickte.

»Im Prinzip schon. Aber Margarete wusste, obwohl sich beide Frauen bis dahin noch nie persönlich begegnet waren, von dem ungewöhnlichen Muttermal auf ihrem rechten Arm.«

Stefanie blieb skeptisch.

»Vielleicht fand das Muttermal irgendwann mal in einem anderen Zusammenhang Erwähnung. In einem anderen Forum, auf Urlaubsbildern, die ins Netz gestellt worden sind oder bei einem öffentlichen Auftritt. Was weiß ich?«

»Marianne hasste dieses Muttermal wie die Pest. Angeblich hatte sie schon mehrfach Anlauf genommen, es sich wegoperieren zu lassen. Jedenfalls hätte sie es niemals freiwillig zur Schau getragen, geschweige denn es gegenüber Wildfremden auch nur mit einer Silbe erwähnt.«

Sie unterbrach sich. Ein mildes Lächeln huschte über ihre Lippen.

»Ich hingegen fand das Muttermal hübsch. Jedenfalls war es ein Teil von ihr.«

Stefanie nippte an ihrem Espresso. Er war inzwischen kalt geworden. Sie stellte fest, dass Lydia ihre Tasse ebenfalls nicht angerührt hatte.

»Zumindest weiß ich jetzt, worüber ich mich mit der Dame mal intensiv unterhalten werde, bevor die aus der Klinik entlassen wird. Das ist doch alles mehr als seltsam.«

Unwillkürlich runzelte sie die Stirn.

»Wie ich erfahren habe, wohnte diese Margarete während ihres Aufenthalts in Grafenstein bei Ihrer Freundin, nicht wahr? Hat Sie das eigentlich nicht eifersüchtig gemacht?«

Lydia verzog keine Miene.

»Margarete ist keine von uns.«

Stefanie nickte.

»Dachte ich mir beinahe. Aber weiter im Text. Kurze Zeit später trifft Ihre Freundin auf Erna Leinfeld. Das beweisen zumindest die Hautpartikel unter deren Fingernägeln. Erna Leinfeld wird, nachdem man sie erschossen hat, in die Mosel geworfen. Wer steckt dahinter? Etwa Marianne? Oder Margarete? Vielleicht sogar beide Frauen? Anschließend werden Moutussi und Brenner überfallen, die Disco des Türken geht in Flammen auf und es kommt zu einem verheerenden Verkehrunfall mit einer weiteren Toten. Wieviel Leichen sind das inzwischen? Vier? Hinzu kommen noch Dr. Kohn und Luise Kahlert. Soll ich Ihnen was sagen? Inzwischen verstehe ich, warum sich das BKA eingeschaltet hat.«

 

Für einen kurzen Augenblick hingen die beiden Frauen ihren Gedanken nach. Etwas jedoch ließ Stefanie keine Ruhe.

»Was wissen wir eigentlich über die Frau, die seinerzeit in Hoheneck entbunden hat?«

Lydia zuckte die Schultern.

»Eigentlich nur soviel, dass sie im Winter 1983 aus der ehemaligen DDR fliehen wollte. Der Fluchtversuch misslang jedoch, und sie landete in Stollberg. Das Baby wurde ihr, wie zu dieser Zeit üblich, kurz nach der Geburt weggenommen. Anschließend kam sie in eine Gemeinschaftszelle und lernte dort irgendwann Margaretes Bekannte näher kennen.«

»Weshalb saß die Bekannte dieser Margarete eigentlich ein?«

»Sie hatte ein paar Ausreiseanträge zuviel gestellt. Das kam bei der Obrigkeit damals überhaupt nicht gut an.«

»Wo sind die beiden Frauen nach der Wende abgeblieben?«

»Soweit ich weiß, wurde Margaretes Bekannte 1987 im Zuge der Amnestie anlässlich des Honecker-Besuchs entlassen«, antwortete Lydia. »Was sie anschließend gemacht hat, entzieht sich meiner Kenntnis. Margarete und ich haben bisher nicht viel miteinander geredet. Anscheinend bin ich ihr nicht sonderlich sympathisch. Vielleicht ist sie auch lediglich ein bisschen homophob. Ich hörte nur irgendwann mal ganz am Rande, dass die andere Frau tot sei. Angeblich soll sie sich, Ironie des Schicksals, nur wenige Tage vor dem Mauerfall das Leben genommen haben. Doch Marianne und Margarete erschien das eher zweifelhaft, zumal die Haftzeit der Frau im Frühjahr 1990 sowieso regulär hätte enden sollen. Da bringt man sich doch nicht kurz vorher um. Schon alleine deshalb nicht, da sich die Bedingungen in den Haftanstalten Ende der Neunzigerjahre ohnehin gebessert haben sollen.«

»Mal was anderes. Zu einem Baby gehören immer noch zwei. Was weiß man eigentlich über den leiblichen Vater des Kindes.«

»Nur soviel, dass er angeblich ebenfalls verhaftet worden war. Aber das hat nicht viel zu bedeuten. Zahlreiche Fluchtversuche wurden von der Staatssicherheit seinerzeit auch einfach bloß inszeniert, um missliebige Bürger auf elegante Weise loszuwerden. Haft war die eine Möglichkeit, aber ich möchte nicht wissen, wie viele Unschuldige alleine in den Todesstreifen umgekommen sind, weil irgendwelche Gutmenschen ihnen weiß machen konnten, an einer bestimmten Stelle wäre der Grenzübertritt angeblich sicher.«

»Das reicht mir nicht. Hören Sie, Lydia, Ihre Leute sollten mal in alten Gerichtsakten und Stasi-Unterlagen stöbern, um herauszubekommen, wo und wann es Ende 1983 überall zu gescheiterten Fluchtversuchen gekommen ist und wer daran beteiligt war. So penibel, wie die damals im Osten alles aufgezeichnet haben, werden wir mit Sicherheit irgendwo auf das entsprechende Gerichtsurteil stoßen. Ich könnte mir gut vorstellen, dass in den Akten auch der Name des Vaters auftaucht. Ob nun schuldig oder nicht.«

Sie überlegte einen kurzen Moment.

»Jetzt würde mich eigentlich nur noch interessieren, ob eventuell auch unsere Erna Leinfeld in ihrer Vergangenheit etwas mit dem Frauengefängnis in Stollberg zu tun gehabt hat.«

Lydia zückte ihr Smartphone und tippte ein paarmal auf dem Display herum.

»Ich bin's. Habt ihr inzwischen etwas über diese Erna Leinfeld herausgefunden? Was ist mir ihrem Handy? Irgendwelche verwertbare Spuren?«

Lydia hörte eine Weile zu. Dann unterbrach sie ihren Mitarbeiter.

»Warte mal, ich stelle auf Lautsprecher. Die Staatsanwältin sitzt neben mir.«

»...mit mehren Leuten gesprochen. Wir haben versucht, die Rufnummern zurückzuverfolgen, bisher allerdings ohne Ergebnis. Alles Anschlüsse von unregistrierten Prepaid-Anschlüssen.«

»Papiere? Sonstige Unterlagen?«

»Sie hatte sämtliche Ausweispapiere dabei. Sogar den Fahrzeugschein ihres Autos. Ach ja, noch etwas: Den Fahrzeugschlüssel haben wir zwar in ihrem Hotelzimmer gefunden, vom Wohnungsschlüssel fehlt allerdings jede Spur.«

»Verschwunden? Wissen die belgischen Kollegen Bescheid?«

»Natürlich. In Spa ist angeblich alles versiegelt. Die warten inzwischen brav ab, was wir herausbekommen. Viel Lust am Ermitteln haben die da anscheinend wenig.«

»Habt ihr inzwischen etwas mehr über die Vergangenheit der Dame herausbekommen? Hat die vielleicht früher mal in Stollberg gearbeitet?«

»In diesem berüchtigten Frauenknast? Nichts bekannt. Allerdings ist ihre Stasi-Akte auch nur noch in Fragmenten vorhanden. Sie oder jemand anderes hat da in der Vergangenheit ganze Arbeit geleistet. Aber warten Sie mal. Im Zusammenhang mit der ballistischen Untersuchung im Mordfall Grafenstein hatte ich mich wegen des Projektilabgleichs an die KTU in Dessau gewandt. In diesem Zusammenhang taucht erstmals der Geburtsname der Toten auf. Erna Leinfeld hieß vor ihrer Ehe Kosinsky. Vielleicht hilft das der Kripo weiter.«

»Bestimmt«, meinte Lydia und legte auf.

»Sie haben Ihre Leute aber im Griff«, meinte Stefanie und blies dabei die Backen auf. »Und das sogar an einem Sonntag. Ich wäre froh, wenn Schäfer und Kroppke alleine an Werktagen nur ansatzweise so spuren würden.«

»Alles eine Frage der Motivation.«

Eine Melodie ertönte. Lydia hatte das Smartphone noch nicht aus der Hand gelegt und konnte das Gespräch deshalb sofort annehmen. Am anderen Ende der Leitung meldete sich eine männliche Stimme.

»Kommen Sie nach Grafenstein und bringen Sie Ihren Koffer mit. In der Turnhalle der Realschule hängt eine Leiche an der Reckstange. Ich sag's ja immer: Sport ist Mord.«

 

~~~~~~~

 

Das Yachthafen-Restaurant wirkte immer noch so ausgestorben wie an den vergangenen Tagen. Nicht einmal die Tische mit direktem Blick auf die Mosel trugen ein Reserviert-Schildchen. Wo man noch unlängst ausschließlich mit Voranmeldung einen Platz ergattern konnte, herrschte inzwischen gähnende Leere. Hinzu kam, dass Ballensiefen herumlief wie ein waidwunder Hirsch. Genauso röhrend klang auch seine Stimme.

»Die Marianne ist tödlich verunglückt? Ja, wo gibt's denn sowas! Wo soll das alles noch hinführen? Erst die Leiche bei mir im Yachthafen, dann der Öztürk mit seiner Freundin und jetzt auch noch Marianne. Wäre Julia nicht so schlecht in der Schule, ich glaube, ich würde sie noch heute zu meinen Eltern schicken. Das ist doch alles ein Wahnsinn hier.«

Nach dem Treffen bei Miss Sophie waren Lanzerath und ich schnurstracks zu Ballensiefen gefahren. Am Wochenende gehörte sowas ohnehin zum festen Ritual. Doch Caddy pflegte immer noch seine ramponierten Gesichtszüge, und Sophia wollte unbedingt daheim bleiben. Unsere zerrupfte Thekenmannschaft ergänzte im Augenblick nur die Reporterin des Grafensteiner Tageblatts.

»Wie konnte das eigentlich passieren? Hatte diese Margarete vielleicht was getrunken?«

Das kam wie ein Stichwort. Vorwurfsvoll deutete Lanzerath auf sein leeres Glas. Ballensiefen warf ihm einen ungnädigen Blick zu, füllte es aber widerspruchslos auf. Es war Usus, dass am Wochenende Ballensiefen die Zeche übernahm.

»Allenfalls ein Glas Wein. Angeblich sind sie von einem Geländewagen abgedrängt worden. Mehr weiß ich auch nicht. Das muss ein Horrorcrash gewesen sein, so wie Marianne aussah. Wenigstens hat Margarete überlebt. Sie liegt in Trier im Marienhospital.«

»War es wirklich so schlimm?« stocherte Sylvia nach und zückte vorsorglich ihren Notizblock.

Lanzerath genoss es sichtlich, mal wieder im Epizentrum der allgemeinen Neugierde zu stehen.

»Jedenfalls nichts für die Sesamstraße, kann ich dir sagen. Zertrümmerter Schädel, aufgerissener Oberkörper, abgetrennte Gliedmaßen. Kein Wunder, wenn man mit voller Wucht gegen einen Baum prallt.«

»Was ist mit dem Unfallgegner?«

Lanzerath zuckte die Schultern.

»Was soll dem schon passiert sein? Nichts. Irgendso ein Arschloch in einem SUV mit Rammschutzbügel vor der Motorhaube. Vermutlich voll wie tausend Russen. Sowas kennt man ja.«

»Und der ist einfach abgehauen?«

Lanzerath nickte.

»Du hättest mir ruhig Bescheid sagen können«, meinte Sylvia mit gepresster Stimme. »Dann hätte ich wenigstens was für die Montagsausgabe gehabt.«

Lanzerath winkte ab.

»Du glaubst doch nicht im Ernst, dass dich der Netterscheid auch nur ansatzweise in die Nähe der Leiche gelassen hätte.«

»Hat eigentlich jemand eine Ahnung, wo diese Margarete wohnt?« warf ich in die Runde. »Ich denke, man sollte wenigstens mal bei ihr daheim Bescheid geben, damit sich jemand um sie kümmert.«

Ratloses Schulterzucken beantwortete meine Frage nicht wirklich.

»Das müsstest du doch eigentlich am besten wissen«, meinte Ballensiefen. »Schließlich ist die Dame bei dir ein und aus gegangen.«

»Ein und aus gegangen«, grunzte ich. »Sie war gerade zweimal bei uns zu Gast. Lass mich überlegen. Margarete erwähnte beiläufig einen Ort im Allgäu. Ob sie allerdings von dort stammt oder dort lebt, keine Ahnung. Bayrisch spricht sie jedenfalls nicht.«

»Hast du nicht wenigstens mal auf das Nummernschild geschaut?«

»Natürlich. Münchner Kennzeichen. Sei jedoch ein Leihwagen, hat sie behauptet.«

 

Sylvias Mobilfunktelefon begann aufdringlich zu summen. Sie erhob sich und ging ans Fenster, um ungestört reden zu können. Als sie kurz darauf an unseren Tisch zurückkam, glühte ihr Gesicht förmlich vor Eifer.

»Es gibt schon wieder eine Leiche! Und jetzt haltet euch fest! Es ist angeblich der Weisz.«

Ich dachte zuerst an einen Scherz.

»Zum Spaßen bin ich im Augenblick überhaupt nicht aufgelegt. Also hör gefälligst mit dem Quatsch auf.«

Sylvia schnappte sich ihre Jacke, die über der Sessellehne hing.

»Aber wenn ich es dir doch sage. Die Damengruppe, die sich jeden Sonntagvormittag zum Zumba-Dance trifft, hat ihn in der Turnhalle der Realschule gefunden. Mausetot.«

Ich wollte es immer noch nicht glauben.

»Woran soll der denn gestorben sein? An Schweißgeruch?«

Sylvia hatte die Eingangstür bereits erreicht.

»Mehr wusste mein Chef auch nicht. Aber jetzt hab ich's eilig. Man sieht sich.«

Und weg war die Maus.

»Das glaube ich jetzt nicht«, meinte ich, obwohl sich meine anfängliche Bierruhe genauso schnell auflöste wie der Schaum in meinem Glas.

Der nächste Klingelton kam aus dem Smartphone des Totengräbers.

»Okay, bin schon unterwegs«, meinte er nach kurzem Zögern. Gleichzeitig warf er Ballensiefen einen bedauernden Blick zu.

»Tut mir leid wegen des Kalbsrückenbratens. Stell ihn von mir aus warm, oder mach mir ein Doggy Bag. Die Sylvia hatte recht. Ich muss weg. Kundschaft.«

Kurz vor dem Eingang drehte er sich noch einmal herum.

»Das wird wieder eine schöne Fahrerei. Langsam denke ich ernsthaft über einen Shuttle-Service zur Trierer Rechtsmedizin nach.«

»Rechtsmedizin?« riefen Ballensiefen und ich beinahe gleichzeitig.

»Klar. Was würdet ihr denn mit einer Leiche machen, die sonntagmorgens am Reck hängt. Und zwar mit einem Seil um den Hals.«

»Selbstmord?«

»Weiß man's?« feixte er schulterzuckend.

Nachdem auch Lanzerath verschwunden war, überlegte ich ernsthaft, wo sich wohl Karl in der vergangenen Nacht herumgetrieben hatte.

 

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Stefanie hatte auf ihren Passat bestanden, weil sie keine Lust verspürte, die Strecke von Trier bis Grafenstein mit dem Metallkoffer der Spusi auf dem Schoß zu verbringen. In den Kofferraum des R8 passte ja höchstens eine Laptoptasche. Das Blaulicht der örtlichen Streifenwagen funkelte quer über den Lehrerparkplatz. Der Eingangsbereich zur Turnhalle war bereits mit rotweißem Flatterband abgesperrt. Außer den Streifenpolizisten hatte sich auch der Beamte vom BKA bereits am Tatort eingefunden. Stefanie hielt an und blickte sich um. Schäfer glänzte mal wieder durch Abwesenheit. Sie wählte dessen Mobilfunkrufnummer.

»Wo stecken Sie?«

»In Salmfeld. Vor dem Haus von diesem Weisz«

Stefanie war perplex.

»Was treiben Sie denn dort?«

»Netterscheid wollte unbedingt, dass ich dem Typ einen Besuch abstatte. Er will ihn wohl wegen des Verkehrsunfalls von vergangener Nacht vernehmen. Weisz ist aber nicht daheim. Die Nachbarn wissen auch nicht, wo er stecken könnte.«

»Kein Wunder. Der Weisz ist tot.«

»Tot?« rief die Hauptkommissar. »Und dann lässt mich dieses Arschloch extra bis nach Salmfeld fahren? Der hat sie doch wohl nicht mehr...«

»Kommen Sie mal runter. Inzwischen scheinen sich hier die Dinge zu überschlagen. Setzen Sie sich in ihren Wagen und kommen Sie nach Grafenstein in die Realschule. Das wird die alte Kiste doch wohl noch schaffen, oder?«

»Ich gebe Ihnen gleich alte...«

Stefanie Michels drückte das Gespräch weg.

»Männer!« meinte sie verächtlich.

Lydia schnappte sich ihren Metallkoffer.

»Folgen Sie mir. Wie ich diesen Netterscheid einschätze, ist der bestimmt schon ganz zappelig.«

 

Das traf zu. Der Mann vom BKA winkte den beiden Frauen schon von weitem ungeduldig zu.

»Wart ihr erst noch beim Friseur, oder warum hat das so lange gedauert?«

Gleichzeitig öffnete er die Tür zur Turnhalle. In dem riesigen Raum roch es wie gewöhnlich nach Bohnerwachs, Gummi und Männerschweiß. Stefanie rümpfte die Nase. Sport hatte sie in der Schule gehasst. Besonders Geräteturnen. Von ihren verkorksten Übungen am Stufenbarren träumte sie manchmal heute noch. Lydia schien da aus ganz anderem Holz geschnitzt. Mit dem schweren Alukoffer in der rechten Hand ging sie mehrmals in die Knie und sprang dann ein Stück hoch. Dabei hallten die Absätze ihrer Pumps wie Gewehrschüsse in der riesigen Halle.

»Linodur vier Millimeter Stärke auf Birkensperrholz. Junge, Junge, die Gemeinde Grafenstein scheint's ja zu haben. So ein Bodenbelag kostet ein Vermögen. Kommt normalerweise nur in Profi-Hallen zum Einsatz.«

Innen sah die Turnhalle genauso aus wie Tausend andere. Die beiden Stirnseiten fensterlos mit Korbballnetzen am unverputzten Mauerwerk, rechte Seite mit Oberlichtern, linke Seite mit drei Zugängen: zwei für die Umkleiden und die dritte für den Geräteraum. Die stand offen. Offenbar hatte jemand mitten in der Nacht Lust auf Geräteturnen bekommen. Im vorderen Viertel der Halle war das Reck aufgebaut. Die Stange hing gut zweieinhalb Meter über dem Boden. Dadurch blieb Platz genug, dass selbst ein Ungeübter mit einem kurzen Strick die Widerstandskraft seines Kehlkopfes prüfen konnte. Und zwar ohne die Möglichkeit, es sich womöglich hinterher vielleicht doch noch anders zu überlegen. Wer erst einmal den Schemel unter den Füßen weggekickt hatte, der blieb dort auch hängen. Da konnte man anschließend strampeln, soviel man wollte. Gregor Weisz konnte jedenfalls keinem mehr verraten, ob er den Schemel selbst in die Ecke getreten hatte oder jemand anderes. Dafür wirkte er ein bisschen zu schweigsam.

 

Lydia schlüpfte in ihren Plastikoverall mit Kapuze, kletterte mit einer Leiter nach oben, überprüfte die Reckstange und löste den Knoten. Netterscheid packte die Beine des Toten und achtete darauf, dass dessen Oberkörper ordentlich auf der ausgebreiteten Plastikplane zum Liegen kam. Danach kletterte sie wieder herunter, beugte sich über den Toten und führte ihre Untersuchungen fort.

»Tod durch Erhängen?« fragte Netterscheid knapp.

»Augenblick«, kam es ebenso kurz angebunden zurück.

»Fremdverschulden?«

»Hören Sie nicht? Moment!«

Während Lydia weiterhin die Leiche des Mannes inspizierte, zog Stefanie den BKA-Beamten am Ärmel.

»Können Sie mir sagen, wer den Toten gefunden hat?«

Netterscheid nickte.

»Die Sporttanzgruppe, die jeden Sonntagmorgen für gewöhnlich in der Turnhalle zum Zimba-Zamba-Zumba die Hüften schwingt. Die Sportlehrerin war wenigstens so geistesgegenwärtig, noch in der Eingangstür umzukehren und die Damen heimzuschicken. Die hätten uns sonst noch alle Spuren kaputt gemacht.«

In diesem Moment richtete sich Lydia auf und streifte ihre Latexhandschuhe ab.

»Da gibt's nicht viel kaputt zu machen. Es gibt praktisch keine Spuren. Jedenfalls keine von dem Toten.«

»Was wollen Sie damit sagen?«

»Der Tote hätte schon Flügel haben müssen, um sich dermaßen spurlos vom Acker zu machen.«

Sie deutete nach oben.

»Sehen Sie, wenn sich jemand das Leben nehmen will, dann achtet er vor seinem Tod bestimmt nicht auf Fingerabdrücke, die er dabei hinterlässt. Die Reckstange ist jedoch so clean wie frisch aus der Fabrik. Ich denke, da hat jemand nachgeholfen, aber derjenige scheint im Fernsehen ein paar Krimis zuviel geschaut zu haben. Beachten Sie mal die Lage des Schemels. Der liegt viel zu weit von der Leiche entfernt. Okay, wenn man sich aufhängen will, dann stößt man ihn beiseite, aber man kickt ihn bestimmt nicht wie Beckham quer durch die halbe Turnhalle.«

»Also Mord«, meinten Stefanie und Netterscheid beinahe gleichzeitig.

»Das behaupten Sie. Lassen Sie uns erstmal den Bericht der Rechtsmedizin abwarten. Nur eines kann ich mit Fug und Recht behaupten: Selbst aufgeknüpft hat der sich mit Sicherheit nicht. Sehen Sie hier.«

Sie deutete auf den Mund des Toten.

»Normalerweise müsste seine Zunge heraushängen, der Kehlkopf deformiert und sein Gesicht blau angelaufen sein. Nichts von alledem ist erkennbar. Meiner Einschätzung nach wurde der Mann zunächst betäubt, anschließend in die Halle gebracht und danach aufgehängt. Aber, wie gesagt, alles weitere nach der Obduktion.«

»Wie ist der eigentlich hierher gekommen?« wollte Netterscheid wissen.

»Vermutlich mit dem eigenen Wagen«, antwortete Lydia. »Mit dem ist er ja schließlich gestern Abend auch oben beim Brenner gewesen.«

»Richtig«, nickte Stefanie. »Der Wagen vom Weisz steht draußen auf dem Lehrerparkplatz. Langsam drängt sich mir ein Verdacht auf. Sie sagten doch, er hätte nicht in sein eigenes Haus gekonnt, weil die Türschlösser mit Sekundenkleber zugeschmiert waren. In ein Hotel konnte er nicht gehen, weil seine Brieftasche noch im Haus lag. Was macht er also? Er setzt sich ins Auto und fährt in die Schule. Dort gibt es Matten, vielleicht auch Decken, und er konnte hier bequem die Nacht verbringen. Mit Sicherheit besaß der Tote einen Passepartout für sämtliche Türschlösser. Somit auch für die Turnhalle.«

»Und wer bringt ihn dann um?« fragte Netterscheid. »Der Hausmeister?«

»Jedenfalls der Letzte, der ihn lebend gesehen hat.« schmunzelte sie.

»Ihn umzubringen, könnte unter Umständen ein Leichtes gewesen sein«, fügte Lydia hinzu. »Das Opfer hatte vor seinem Tod reichlich Alkohol zu sich genommen. Eigentlich hätte er sich in diesem Zustand gar nicht mehr hinters Lenkrad setzen dürfen. Durchaus möglich, dass jemand seine Trunkenheit ausgenutzt hat.«

Lydia griff in die Hosentasche des Toten und zog einen Schlüsselbund hervor.

»Ehe wir hier weiter herum philosophieren«, brummte der BKA-Beamte, »werfen wir doch erst einmal einen Blick in seinen Wagen.«

 

Die Untersuchung des Fahrzeuginneren hätten sie sich jedoch auch sparen können. Alles, was Lydia entdeckte, war eine angebrochene Weinflasche, die im Beifahrerfußraum lag. Sie ließ die Flasche in einen verschließbaren Kunststoffbeutel gleiten.

»Ich lasse den Inhalt sicherheitshalber in der KTU untersuchen.«

Netterscheid trat einen Schritt näher.

»Von wem stammt eigentlich der Wein?«

Lydia drehte das Etikett nach vorne.

»Weingut Brenner.«

»Ach nee!«

»Nun mal langsam«, winkte Lydia ab. »Von diesem Wein landen jährlich weit über tausend Flaschen im Handel. Den kann der Tote auch sonst wo gekauft haben. In letzter Konsequenz wird uns sowieso nur die Rechtsmedizin Aufschluss darüber geben, ob er etwas was von dem Wein getrunken hat.«

Netterscheid nahm die Staatsanwältin beiseite.

»Langsam kriege ich hier die Krise. Vor ein paar Tagen taucht diese Margarete Sandhoff auf. Vergangene Nacht gerät sie mit Gregor Weisz in einen heftigen Streit. Kurz darauf stirbt Marianne Schäfer bei einem Verkehrsunfall. Margarete Sandhoff wird dabei schwer verletzt. Vermutlich sollte sie den Unfall ebenfalls nicht überleben. Und beinahe zeitgleich stirbt Gregor Weisz in der Turnhalle seiner Schule, wobei alles darauf hindeutet, dass sein Selbstmord nur vorgetäuscht wurde.«

»Woher wissen Sie eigentlich von dem Streit zwischen Margarete Sandhoff und Gregor Weisz?«

Netterscheid ging auf die Frage nicht ein.

»Fällt Ihnen nichts auf? Alle Beteiligten waren Bekannte von Hagen Brenner. Ich bin sicher, dort oben auf dem Weingut laufen sämtliche Fäden zusammen.«

»Könnte auch Zufall sein. Brenner ist ein angesehener Winzer. Einer der wenigen, die professionellen Bio-Weinanbau betreiben. Er hat in Grafenstein viele Freunde. Zudem war Marianne Schäfer Brenners Angestellte und Gregor Weisz ein Freund des Hauses. Das weiß ich seit der Affäre mit den Bildern, die auf dem Server der Realschule Grafenstein gelandet sind. Was soll eigentlich so ungewöhnlich daran sein, wenn zwei Leute mal miteinander in Streit geraten? Schließlich sind sie ja nicht mit Holzknüppeln aufeinander losgegangen.«

»Aber es ist doch eher ungewöhnlich, wenn einer der beiden Streithähne kurz darauf an einer Reckstange hängt, seine Kontrahentin noch in derselben Nacht in einen schweren Verkehrsunfall verwickelt wird, wobei die Dritte im Bunde sogar an den Folgen stirbt.«

Missmutig wandte er sich ab und kickte einen Stein unter den Wagen des Toten. Stefanie nahm Lydia beiseite.

»Was ist jetzt mit der genauen Todesursache? Hat da nun jemand nachgeholfen oder nicht? Sie wissen sowas doch sonst auch auf den ersten Blick.«

Lydia warf der Staatsanwältin einen nachdenklichen Blick zu.

»Fremdeinwirkung trifft mit Sicherheit zu, sonst hätte ich mich zum ersten Mal in meinem Karriere wirklich grandios getäuscht. Aber wie man den Weisz letztlich ins Jenseits befördert hat, das kann uns tatsächlich nur die Rechtsmedizin sagen. Warten wir einfach deren Bericht ab, danach sehen wir weiter.«

 

Ein paar Meter entfernt kam ein Porsche zum Stehen, und ein stocksaurer Kriminalhauptkommissar schlängelte sich mit hochrotem Kopf hinter dem Lenkrad hervor. Die beiden Frauen bedachte er nur mit einem knappen Blick. Dafür nahm er mit weit ausladenden Schritten Kurs auf den BKA-Beamten. Stefanie ahnte, was jetzt zwangsläufig passieren würde. Imponiergehabe, Revierverteidigung, Schwanzvergleich. Egal, ob graue Vorzeit oder Atomzeitalter. Seit zwanzigtausend Jahren hatte sich an diesem Ritual nichts geändert.

»Hören Sie mal, Sie Komiker«, bellte Schäfer erwartungsgemäß drauflos. »Was scheuchen Sie mich eigentlich in der Gegend herum, wenn der Typ längst tot ist? Verarschen kann ich mich selbst. Ich hätte große Lust...«

Netterscheid blieb völlig cool.

»Halten Sie mal die Luft an und suchen Sie hier im Ort lieber nach geeigneten Räumlichkeiten für eine Vernehmung im großen Stil. Am liebsten wäre mir der Sitzungssaal im Rathaus. Trommeln Sie alle zusammen, die in letzter Zeit Kontakt zu Erna Leinfeld, den beiden Verkehrsunfallopfern, Gregor Weisz und dem Türken mit seiner Freundin hatten. Schnappen Sie sich von mir aus den Breitenbach zu Ihrer Unterstützung. Der kennt sich im Ort aus, und hier stört der Typ im Augenblick sowieso nur. Ach ja, der Kroppke soll mal die Frauen von dieser Bauchtanzgruppe als Zeugen vernehmen. Ich kann mich schließlich nicht um alles kümmern.«

»Aber sonst geht's Ihnen gut, was?«

»Nicht lange quatschen, oder sind Sie taub?«

Schäfer merkte, dass er im Augenblick gegen Netterscheid keine Chance hatte. Wortlos drehte er sich auf dem Absatz herum. Dabei kreuzte sich sein Blick mit dem der Staatsanwältin. Es hätte nicht mehr viel gefehlt, und Hasso Schäfer wäre hochgegangen wie eine Tellermine.

»Zumindest wissen wir jetzt, wer hier das Alphamännchen ist«, stellte Lydia trocken fest.

 

~~~~~~~

 

»Das war's dann wohl mit dem gemütlichen Beisammensein«, meinte Ballensiefen und begann die Gläser wegzuräumen. »Das schöne Essen.«

»Vergiss den Schweinebraten. Gregor ist tot. Er mag bei näherem Hinsehen tatsächlich ein Arschloch gewesen sein, aber sowas musste doch nun wirklich nicht sein.«

»Ist überhaupt bewiesen, dass der Selbstmord begangen hat?« meinte Ballensiefen ungerührt, »Wer im Leben soviel Scheiße gebaut hat wie der Weisz, der muss sich wirklich nicht wundern, wenn ihm irgendwann jemand das Licht ausbläst. Was weißt du denn, wem der vielleicht sonst noch alles auf die Füße getreten ist? Hör mal, der Kerl hat reihenweise seine Mitmenschen denunziert. Ohne Not, einfach so. Eigentlich nur, um unter dem Regime Karriere zu machen. Wegen dem sind reihenweise Leute im Knast gelandet. Kannst du dir nicht vorstellen, dass da vielleicht noch ein paar Rechnungen offen sind?«

»Nach so langer Zeit?«

Ballensiefen zuckte die Schultern.

»Wieso nicht? Anfang der Neunziger gab es schließlich noch kein Internet. Heute ist es doch eine Kleinigkeit, solche Typen ausfindig zu machen. Bis vor zehn Jahren konnten die sich vielleicht noch hinter ihrer Anonymität verstecken, heute hinterlässt aber jeder zwangsläufig irgendwo Spuren. Denk nur an die Webseite bei MyHistory. Da brauchte nur einer an der richtigen Stelle den Hebel anzusetzen.«

»Aber Gregor steckte doch gar nicht hinter seinem angeblichen Webauftritt.«

Ballensiefen lachte. Sein Lachen klang kalt.

»Jedenfalls wird das all den anderen Lumpen von damals eine gehörige Warnung sein. Ich sage dir, wahrscheinlich geht dem einen oder anderen inzwischen ganz schön der Arsch auf Grundeis. Und das ist auch gut so.«

Die Eingangstür schwang auf. Im Türrahmen erschien unser Dorfsheriff. Dessen Polizeiwagen hatte ich gar nicht ankommen hören.

»Schön, dass ich Sie hier antreffe. Sie sollen ins Rathaus kommen. Anweisung vom BKA.«

»Ins Rathaus?« wunderte sich Ballensiefen. »Am Wochenende? Weshalb?«

»Zeugenbefragung mit anschließender Speichelprobe. Also, machen Sie schon, oder muss ich deutlicher werden.«

Zur Unterstreichung seiner Aufforderung baute er sich breitbeinig vor uns auf und hakte dabei demonstrativ seine beiden Daumen in den Hosengürtel. Sah das affig aus. Machte der hier auf einmal auf Eugene Tackleberry aus Police Academy? Eigentlich hätte nur noch die dunkel getönte Pilotenbrille und ein 45er Colt Magnum gefehlt.

Ich ließ mich nicht beirren.

»Zeugenbefragung? In welcher Angelegenheit? Und wieso ausgerechnet Ballensiefen und ich?«

»Fragen Sie das den zuständigen Ermittlungsbeamten. Ich führe nur Anweisungen aus.«

Ballensiefen streifte sich die Schürze ab und seufzte tief.

»Lass gut sein, Hagen. Hier ist im Augenblick doch sowieso nichts los. Fahren wir einfach mal ins Städtchen und schauen, was die von uns wollen.«

»Na, also«, meinte Breitenbach mit breitem Grinsen. »Geht doch.«

 

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Eine Viertelstunde später hockten wir gemeinsam mit den anderen üblichen Verdächtigen im Sitzungssaal des Rathauses. Netterscheid, Schäfer, die Staatsanwältin und Lydia saßen dort, wo gewöhnlich die Bürgermeisterin Hofstaat hielt. Tackleberry-Breitenbach und seine beiden uniformierten Kollegen hatten etwas abseits Platz genommen. Miss Sophie, Melanie Balfelder samt Sprössling, die gesamte Sippschaft Öztürk und zahlreiche andere Leute, die man auf die Schnelle hatte auftreiben können, nahmen mit den Sitzgelegenheiten der Ratsmitglieder Vorlieb. Sogar der Chef unserer rechtsradikalen Splitterpartei gab sich die Ehre. Demonstrativ scharten sich zwei missmutig dreinschauende Glatzköpfe um ihren Chef. Stefan Balfelder hatte aus inzwischen nachvollziehbaren Gründen ganz hinten im Saal Platz genommen. Ich schaute mich weiter um. Sogar mein Onkel und der immer noch ziemlich eingewickelte Hohepriester Imhotep glänzten durch Anwesenheit.

 

»Herrschaften!«

Demonstrativ klopfte Netterscheid paar Mal auf den Tisch, um sich Gehör zu verschaffen.

»Darf ich um Ihre Aufmerksamkeit bitten? Wir sind nämlich nicht zu unserem Vergnügen hier. Wie Sie sicherlich wissen, haben sich in den vergangenen Tagen mehrere Straftaten ereignet. Erst heute Nacht kam eine Frau bei einem Verkehrsunfall mit Fahrerflucht ums Leben, und gerade eben komme ich von einem weiteren Tatort zurück. Realschulrektor Weisz wurde tot in der Turnhalle der hiesigen Realschule aufgefunden. Es sollte wohl so aussehen, als habe er sich aufgehängt. Soweit ich das jedoch beurteile, dürfte eher Fremdverschulden die Ursache für sein unerwartetes Ableben sein.«

»Der Weisz ist tot?« rief ein Mann aus dem Hintergrund. »Ein Segen.«

»Das erklären Sie mir aber mal genauer«, fuhr ihm Netterscheid in die Parade. »Es ist also für Sie ein Segen, dass ein angesehener Bürger ihrer Gemeinde tot an der Reckstange hängt?«

»War nicht so gemeint«, murmelte der Angesprochene.

»Breitenbach!« knurrte Netterscheid. »Der Herr dort wird als erster vernommen. Stellen Sie fest, wo der sich die vergangenen vierundzwanzig Stunden aufgehalten hat. Falls der kein lückenloses Alibi vorweisen kann, festnehmen und in Untersuchungshaft nehmen.«

Unser Dorfsheriff sprang förmlich von seinem Sessel hoch und führte den Typ mit der vorlauten Klappe in den Vernehmungsbereich im hinteren Teil des Sitzungssaals. Während der Mann sichtlich kleinlauter wurde, machte sich Breitenbach mit großspurigem Gehabe eifrig Notizen. Sowas schien für diesen aufgeblasenen Blödhammel zehnmal schöner zu sein als jede Verkehrskontrolle mit anschließendem Alko-Test.

 

»Gibt's eigentlich eine richterliche Anordnung für diesen Affentheatertheater, oder können wir jetzt alle nach Hause gehen?«

Als hätte ich es geahnt. Lena kam durch den Sitzungssaal gerollert. In ihrem Gefolge befand sich unsere rasende Reporterin. Netterscheid hob erstaunt den Kopf.

»Wer sind Sie denn?«

»Dr. Lena-Maria Anastasia Gräfin zu Ahrenfels-Lauendorff, Juniorpartnerin der Anwaltskanzlei Steinheuer Lanzmann Partner in Frankfurt, zugleich Rechtsbeistand von Herrn Brenner, Frau Berrenrath und der Eheleute Öztürk. Also, nochmal: Was soll dieser Zirkus?«

Gleichzeitig warf sie Stefanie Michels einen scharfen Blick zu. Auch der schien es längst zu dämmern, dass sich die Ermittlungsbeamten mit dieser Aktion auf rechtlich ziemlich dünnem Eis bewegten. Ich zum Beispiel war Breitenbachs Aufforderung eigentlich nur deshalb gefolgt, weil ich selbst reges Interesse verspürte, dass die Angelegenheit möglichst schnell und geräuschlos geklärt wurde. Mysteriöse Mordfälle waren schlecht fürs Geschäft. Tuttifrutti konnte inzwischen ein Lied davon singen.

Die Staatsanwältin hob ein Schreiben in die Höhe. Das amtliche Dienstsiegel des Landgerichts war deutlich zu erkennen.

»Der Ermittlungsrichter ist damit einverstanden, dass wir Sie als Zeugen einvernehmen dürfen. Dessen ungeachtet führen wir gleich noch eine gentechnische Untersuchung durch.«

Sie deutete auf Lydia Sartorius.

»Die Leiterin der Kriminaltechnik wird Ihnen zu diesem Zweck eine Speichelprobe abnehmen. Wenn Sie so freundlich wären...«

»Und wenn wir uns weigern?« fuhr Lena dazwischen. »Keiner meiner Mandanten steht unter Verdacht. Niemand wurde offiziell vorgeladen, sofern ich richtig informiert bin. Alle sind somit freiwillig hier. Für jede Zwangsmaßnahme brauchen sie also eine klare richterliche Anordnung. Haben Sie ein ein entsprechendes Schriftstück?«

Ich erhob mich und wollte nach vorne gehen.

»Was ist das eigentlich für ein Wisch, mit dem Sie da ständig herumwedeln?«

»Setzen Sie sich wieder hin«, schnauzte mich Netterscheid an. »Und Sie dahinten, hören gefälligst auf zu fotografieren.«

Sylvia ließ demonstrativ ein letztes Mal ihre Spiegelreflex rattern. Die Abfuhr vom vergangenen Tag hatte sie nicht vergessen. Anschließend hockte sie sich aber brav hin und zückte lediglich ihren Notizblock.

 

Der Ermittlungsrichter hatte Netterscheids Vorschlag vehement abgelehnt, einen offiziellen Massengentest anzuordnen. Der hatte vielmehr den Chef des BKA angerufen und um nähere Erläuterung gebeten. Netterscheids Vorgesetzter kämpfte jedoch gerade an Loch Elf mit seinem Driver und war deshalb ohnehin wenig amused, da Loch Elf seit eh und je nicht gerade zu seinen Stärken zählte. Die Anordnung eines Massengentests müsste so oder so ohnehin erst von der Bundesanwaltschaft in Karlsruhe abgesegnet werden, meinte der Richter mit kühler Stimme. Mann, hatte der Alte ihn daraufhin vielleicht in die Stiefel gestellt. Was ihm überhaupt einfiele, hier solch einen Zirkus zu veranstalten.

Doch sein Konter folgte auf dem Fuße. Ob das BKA vielleicht noch weitere Morde in Grafenstein verantworten wolle, hatte er den Alten gefragt. Schließlich knickte er dann doch ein und deutete an, noch einmal mit dem Ermittlungsrichter sprechen zu wollen. Herausgekommen war letztlich die Genehmigung für eine groß angelegte Zeugenbefragung verbunden mit der Aufforderung zu einer freiwilligen Speichelprobe. Sowas wirbelte keinen so großen Staub auf und konnte nebenbei denselben Effekt erzielen, denn wer sich weigerte, freiwillig eine Speichelprobe abzugeben, stand rein rechtlich gesehen zwar auf der sicheren Seite, machte sich andererseits jedoch automatisch verdächtig.

 

Netterscheid klopfte auf den Tisch, um sich erneut Gehör zu verschaffen.

»Herrschaften, es handelt sich um die freiwillige Abgabe einer Speichelprobe. Sie kennen sowas sicherlich aus den Medien. Solch ein Verfahren kommt in aller Regel bei Sexualdelikten zur Anwendung. Jedenfalls sehen wir hierin die einzige Möglichkeit, die Mordfälle und die anderen Verbrechen schnellstmöglich aufzuklären. Letztlich dient sowas auch Ihrer eigenen Sicherheit. Zum einen, weil Sie dadurch unzweifelhaft entlastet werden können.«

»Und wie wird mit den Proben anschließend verfahren?« wollte ein Mann aus den hinteren Reihen wissen. Ich brauchte mich gar nicht umzudrehen, denn ich erkannte ihn bereits an seiner Stimme. Der Besitzer unseres örtlichen Supermarkts.

»Die genetischen Informationen werden mit denen der Opfer verglichen«, meldete sich Lydia zu Wort. »So können wir am einfachsten feststellen, wer mit den Opfern Kontakt gehabt hat. Anschließend werden die Informationen in einer speziellen Gendatenbank gespeichert. Passwortgeschützt und somit absolut sicher. Nach Beendigung des Verfahrens wird der Datenbestand gelöscht.«

»Ja, klar«, krähte Max Balfelder mit vorlauter Stimme dazwischen. »Falls nicht vorher irgendein Hacker eure Scheiß-Passwörter knackt. Anschließend kann man dann bei Wikileaks nachlesen, wer alles von wem abstammt, wer Hepatitis C und AIDS hat...«

Seine Mutter erhob sich von ihrem Sitzplatz.

»Ich bin die Bürgermeisterin von Grafenstein. Stimmt das, was mein Junge da andeutet?«

»Theoretisch ja, praktisch nein«, erwiderte Lydia. »Die Gendaten werden verschlüsselt. Den Code zu knacken ist praktisch unmöglich.«

»Der junge Mann hat vollkommen recht«, mischte sich Lena ein und schaute dabei die Chefin der KTU und die Staatsanwältin scharf an. »Ich rate meinen Mandanten, nur dann eine freiwillige Speichelprobe abzugeben, wenn ihnen im Gegenzug unmissverständlich versichert wird, dass die so erhobenen Daten ausschließlich zur Aufklärung der Mordfälle und, ich betone, keinesfalls für die medizinische Forensik herangezogen werden dürfen. Habe ich mich klar genug ausgedrückt?«

»Und nur so am Rande», fuhr sie fort. »Ist eigentlich die Oberstaatsanwältin über dieses mehr als fragwürdige Vorgehen informiert?«

Die letzte Bemerkung von Lena traf Stefanie Michels wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Herrje, die Alte hatte sie in all dem Trubel vollkommen vergessen! Die wartete schließlich seit Stunden auf einen Rückruf. Stefanie sprang auf und verschwand in einen Nebenraum. Lena quittierte ihren hastigen Aufbruch mit einem triumphierenden Grinsen.

»So kommen wir nicht weiter«, meinte Netterscheid. »Dies hier ist eine Maßnahme des BKA mit ausdrücklicher Billigung eines Richters. Ich möchte Sie bitten, jetzt einzeln nach vorne zu treten und eine Speichelprobe abzugeben. Falls Sie damit nicht einverstanden sind, werden wir das natürlich protokollieren. Allerdings sind Sie verpflichtet, eine Zeugenaussage zu machen. Wir möchten von Ihnen wissen, mit wem von den Tatopfern Sie in letzter Zeit Kontakt hatten und wo Sie sich in den vergangenen zweiundsiebzig Stunden aufgehalten haben. Und zwar möglichst auf die Minute genau.«

Als wir das Rathaus verließen, war es längst dunkel. Ballensiefen lud uns alle in sein Lokal ein. Als wir im Yachthafen ankamen, stand bereits der Leichenwagen vom Lanzerath vor der Tür. Freibier mit Fleischzugabe roch der mittlerweile sogar gegen den Wind.

 

~~~~~~~

 

»Also, was haben wir?« fragte Netterscheid.

Schäfer winkte ab.

»Jede Menge beschriebenes Papier. Jetzt wissen wir endlich, wann und wo Frau Berrenrath ihre Leberwurst einkauft oder die Schwiegertochter vom Öztürk ihren Kampfhund zum Gassigehen ausführt. Wenn Sie mich fragen, vergebliche Liebesmüh.«

»Sie fragt aber keiner«, schnauzte Netterscheid zurück. Diesen angeberhaften Dilettanten hatte er vielleicht sowas von gefressen. Eine Rückkehr nach Mainz konnte der sich jedenfalls bis in alle Ewigkeit abschminken. Dafür würde er schon sorgen.

»Und Sie?« fragte Netterscheid und wandte sich dabei an die Leiterin der Kriminaltechnik.

»Bis auf Frau Berrenrath und die Öztürks haben alle brav ihre Speichelprobe abgegeben. Die gehen jetzt ins Labor. Morgen wissen wir mehr.«

»Und dass mir niemand auf die Idee kommt, die Daten tatsächlich für irgendwelche andere Recherchen zu verwenden«, merkte die Staatsanwältin an. Das Gespräch mit der Schwarzen Mamba saß ihr jetzt noch in den Knochen. Die Breuer war stinksauer über Netterscheids Alleingang.

»Das fehlt noch, wenn es in Grafenstein demnächst reihenweise zu Ehescheidungen und Unterhaltsklagen käme.«

»Wieso«, frotzelte Schäfer. »Wäre doch mal ganz interessant festzustellen, wer hier alles mit wem...«

»Wir haben uns verstanden?« fauchte Stefanie und warf dabei auch Netterscheid einen warnenden Blick zu. »Ich muss mit den Leuten hier in der Umgebung nämlich unter Umständen noch eine Weile auskommen.«

Lydia indes packte ihre Unterlagen zusammen und ließ dabei den Koffer mit den Speichelproben für keinen Moment aus den Augen. Dieser Koffer barg vielleicht nicht unbedingt den Schlüssel zur Aufklärung der ungeklärten Mordfälle, aber ihr war im Laufe der Ermittlungen ein Verdacht gekommen. Es ging um zwei Proben, die sie unbedingt einer weitergehenden Überprüfung unterziehen wollte. Lydia war klar, dass sie die Untersuchungsergebnisse niemals zur Aufklärung der begangenen Verbrechen verwenden konnte, aber sie musste sich unbedingt Gewissheit verschaffen.

 

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Sophia zog mich beiseite. Gemeinsam mit Lena folgte ich ihr nach draußen. Sanft strich uns der kühle Frühlingswind um die Beine. Ich stupste die alte Dame an.

»Soll ich dir nicht besser eine Decke besorgen?«

»Blödsinn. Ich bin tagelang auf einer Indian Chief durch die amerikanische Pampa gedüst, wie du weißt. Dabei zweimal quer durch die Wüste von Nevada. Tagsüber wirst du gegrillt, nachts herrschen Temperaturen um den Gefrierpunkt. Aber danke der Nachfrage.«

Nach einer Weile erreichten wir das Moselufer in der Nähe der Hafeneinfahrt. Die Stelle, an der vor knapp einer Woche eine rumänische Servierkraft auf die Leiche einer Touristin aus dem belgischen Spa gestoßen war und alles seinen Anfang nahm. War das so? Reichte die Affäre unter Umständen nicht viel weiter in die Vergangenheit zurück? In die dunklen Jahre, als sich Warschauer Pakt und Nato an der deutsch-deutschen Grenze noch unversöhnlich gegenüberstanden? Als man östlich einer Linie Lübeck-Nürnberg-München nicht so ohne weiteres seinen Koffer packen konnte, um woanders sein Glück zu suchen?

Ich nahm einen flachen Stein und ließ ihn über die schwach geriffelte Oberfläche der Mosel pritschen. Fünf-, vielleicht sechsmal titschte er über die Wasseroberfläche, ehe er in den Fluten versank. Sophia kramte in ihrer Handtasche herum und zog ein frisch gedrehtes Stäbchen hervor. Bereitwillig ließ sie sich von mir Feuer geben.

»Du kommst nochmal in Teufels Küche«, meinte ich.

Sophia lächelte milde.

»Keine Sorge, ich rauche das Zeug ja nicht gerade vor dem Polizeipräsidium.«

Lena verlangte ebenfalls nach einem Joint. Kurze Zeit später umwaberte uns der verbotene Duft aus dem fernen Orient.

»Macht dir eigentlich der Breitenbach immer noch Schwierigkeiten?« wollte ich von der alten Dame wissen.

Sophia lächelte.

»Ach, was. Im Gewächshaus ziehen die beiden Kastenreuths inzwischen Tomaten und Zucchini. Meinen Stoff beziehe ich neuerdings von zwei Botanik-Studenten aus Saarbrücken. Die bauen Hanf im Schrebergarten ihres Opas an. Wollen damit anschließend ein Start-up finanzieren.«

»Nimm dich ja in Acht«, erwiderte ich mit erhobenem Zeigefinger. Damit wurde mir erst richtig klar, wieweit ich mich inzwischen von meinem ehemaligen Job als Steuerfahnder innerlich verabschiedet hatte.

»Keine Sorge, die kommen demnächst alle zwei Wochen vorbei und bringen mir was mit. Geliefert wird frei Parkplatz im Grünen und gezahlt wird Cash auf die Hand. Blöd nur, dass der Akku von meinem Segway ständig leer ist.«

»Ja, ja, alte Leute und moderne Technik.«

»Ich gebe dir gleich 'alte Leute', du Bengel.«

Lena zog der alten Dame am Jackenärmel.

»Was genau wolltest du uns eigentlich mitteilen?«

 

Sophia tippte sich an die Stirn.

»Ja, richtig. Wo bin ich bloß mit meinen Gedanken? Ich konnte inzwischen herausbekommen, dass sich die echte Margarete Sandhoff während ihrer Haftzeit mit einer jüngeren Mitgefangenen angefreundet haben soll. Die Frau saß wegen eines gescheiterten Fluchtversuchs ein.«

Gleichzeitig schnippte sie die Asche ihres Glimmstängels zur Seite.

»An den Namen konnte sich allerdings niemand erinnern. Oder es wollte sich niemand erinnern. Sei es, wie es sei, ein paar Teilnehmerinnen im Chat behaupten jedenfalls, die Freundschaft zwischen Margarete und der anderen Frau sei nur vorgetäuscht gewesen. Margarete hätte angeblich den Auftrag gehabt, ihre Zellengenossin wegen irgendwas auszuhorchen.«

»Steckte die Stasi dahinter?« wollte Lena wissen.

»Wer sonst? Und zwar in Gestalt von Oberleutnant Erna Kosinsky, Offizier des Staatssicherheitsdienstes mit der Aufgabe der Umerziehung von politischen Strafgefangenen.«

»Zahlreiche Inhaftierte sind seinerzeit zu deren Mitarbeit gezwungen worden«, fuhr Sophia schließlich fort. »Wie würdest du dich verhalten, wenn du jahrelange Drangsalierungen hinter dir hast und dir wie aus heiterem Himmel jemand die Aussicht auf Haftvergünstigungen verspricht im Gegenzug für ein paar sachdienliche Informationen.«

»Aber sowas wäre doch irgendwann aufgefallen«, gab Lena zu bedenken. »So jemand hätte doch bei den übrigen Mitinsassen irgendwann kein Bein mehr auf die Erde bekommen.«

»Nicht unbedingt. Die Stasi betrieb seinerzeit eine geradezu groteske Günstlingswirtschaft. Mitunter konnten deren Spitzel sogar Vergünstigungen für kooperative Mithäftlinge herausschlagen. Wenn du fünf Jahre unter unmenschlichen Bedingungen eingesperrt bist, dann greifst du automatisch nach jedem Strohhalm. Ihr wisst doch: Erst kommt das Fressen, dann die Moral. Hauptsache, es geht einem anschließend ein ganz kleinwenig besser als vorher. Luise Kahlert ist das beste Beispiel dafür, wie man dieses perverse Spiel geradezu perfekt für die eigenen Zwecke ausnutzen konnte.«

»Und dieser Kohn?« fragte Lena.

»Das war allem Anschein nach der Schlimmste von allen. Pervers bis in die Haarspitzen. Einige Damen im Chat haben durchblicken lassen, dass Kohn für dringend erforderliche Behandlungen mitunter unverhohlen gewisse Gegenleistungen verlangte. Ihr wisst schon, was ich meine. Offen will sich jedoch niemand dazu äußern. Kein Wunder. Selbst nach so langer Zeit überwiegt da immer noch die Scham. Niemand will vor Fremden zugeben, dass man vielleicht für ein paar billige Schmerztabletten die Beine breit gemacht hat.«

Sophia nahm einen tiefen Zug und warf den Joint anschließend ins Hafenbecken. Mit einem leisen Zischen verlosch die Glut.

»Darüber sollte man mal im Geschichtsunterricht sprechen. Was Menschen anderen Menschen selbst in Friedenszeiten antun. Nur wegen einer bestimmten Ideologie. Heute ist es doch nicht anders. Da geht es um Religion. Wer die Kalaschnikow besitzt, bestimmt, an welchen Gott man zu glauben hat. Einfach widerlich!«

 

»Kommt ihr endlich wieder rein?« bellte eine Stimme aus Richtung Restaurant. »Das Essen steht auf dem Tisch. Es gibt Schweinebraten.«

»Aber jetzt kommt die eigentliche Pointe«, meinte Sophia, ohne sich um Ballensiefen zu kümmern. »Margarete Sandhoff, geborene Leim, vor ihrer Inhaftierung wohnhaft in Frankfurt/Oder, ist vergangenen Winter in Berwang, einem Nest irgendwo in den Tiroler Alpen, verstorben.«

»In Tirol?« platze ich heraus. »Was hat die denn da gemacht? Bergwandern?«

Sophia schüttelte den Kopf.

»Wohl kaum. In der Todesanzeige heißt es, sie wäre nach einem entbehrungsreichen Leben an den Folgen ihrer schweren Erkrankung verstorben.«

»Wie hast du denn das schon wieder herausbekommen?« wollte Lena wissen.

Sophia schmunzelte.

»Da ich inzwischen weiß, dass es in Hoheneck seinerzeit eine Strafgefangene mit Namen Margarete Sandhoff gab, habe ich ein bisschen weiter nachgeforscht. Hierbei stieß ich durch Zufall auf eine Todesanzeige im Sonthofener Tagesspiegel. Der Nachruf auf Margarete Sandhoff stammt übrigens von ihrer Cousine aus Oberjoch, einem kleinen Ort im Allgäu und nur etwa eine halbe Stunde Fahrtzeit von Berwang entfernt. Margarete Sandhoff hat die Zeit nach ihrer Haftentlassung anscheinend irgendwo auf einer Alm mitten in den Bergen verbracht. Unbehelligt und weitgehend abgeschieden von der übrigen Welt. Und sie lebte dort allem Anschein nach auch nicht allein.«

»Nun mach's nicht so spannend!« rief ich.

»Im Nachruf wird als Trauernde neben besagter Cousine und deren Sohn auch noch eine gewisse 'Nannerl' genannt. Sie soll gemeinsam mit Margarete Sandhoff die Alm bewirtschaftet haben.«

»Nannerl? Wer soll das sein?«

Sophia zuckte die Schultern.

»Keine Ahnung. Nannerl ist ein Kosename. Ich kenne den Begriff nur unter der Bezeichnung Maria Anna Walpurga Ignatia Mozart, die Schwester von Wolfgang Amadeus. Nun, das würde passen. Berwang liegt schließlich in Österreich. Ein Nachname wurde im Nachruf jedenfalls nicht angegeben.«

»Kommt ihr endlich?« brüllte Ballensiefen ungehalten. »Verdammt nochmal, euer Essen wird kalt! Ich stehe doch nicht umsonst den halben Abend in der Küche herum.«

»Gleich!« riefen wir beinahe gleichzeitig.

Langsam schlenderten wir zurück in Richtung Restaurant. Ich schob Lenas Rollstuhl vor mir her. Kurz bevor wir den Eingang erreichten, drehte sie sich zu mir herum.

»Was haltet ihr eigentlich von einem verspäteten Kondolenzbesuch?«

»Eine Menge«, strahlte Miss Sophie. »Ich war schon ewig nicht mehr in den Bergen.«

 

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Als Netterscheid spät am Abend nach Hause kam, ahnte er bereits beim Abstellen seines Wagens, das irgendwas nicht stimmte. Das Haus wirkte wie ausgestorben, nirgendwo brannte ein Licht.

Es war ein langer Tag gewesen. Nach der Versammlung im Rathaus von Grafenstein war er zunächst in die Rechtsmedizin gefahren und hatte dort auf die ersten Ermittlungsergebnisse des diensthabenden Rechtsmediziners gewartet. Ein entsetzlich umständlicher Mensch, dieser Dr. Stein. Immer wieder verwies er auf das Abschlussprotokoll, dass erst noch von der Hand seines Chefs abgesegnet werden musste. Als ob Steinlaken Gottvater der Rechtsmedizin wäre! Der Chefin der KTU war es letztlich zu verdanken, dass dieser verstockte Kerl dann doch noch mit der Sprache herausrückte. Gregor Weisz war, bevor man ihn wie ein Wäschestück zum Trocknen an die Reckstange gehängt hatte, an einer Dosis Natrium-Pentobarbital, einem Derivat der Barbitursäure, gestorben. Pentobarbital fand gewöhnlich in der Tiermedizin zum Einschläfern von Großtieren Verwendung. Neuerdings wurde das Präparat auch von Schweizer Sterbehilfe-Organisationen angewandt. Angeblich reichten fünfzehn Gramm des Medikaments aus, einen Menschen ins Jenseits zu befördern. Bei Gregor Weisz hatte es jedenfalls geklappt.

 

Netterscheid steckte seinen Schlüssel in das Schloss derf Eingangstüre. Es ging nicht. Das durfte dich wohl nicht wahr sein! Jemand hatte den Schließzylinder ausgetauscht. Er griff nach seinem Smartphone und wählte den Mobilfunkanschluss seiner Frau.

»Ja?« meldete sich Helen. Ihre Stimme klang, als hätte sie auf den Anruf gewartet.

»Was ist hier los?« wollte Netterscheid wissen. »Wieso komme ich in mein eigenes Haus auf einmal nicht mehr herein? Was soll der Quatsch?«

»Das fragst du noch? Sag mal, willst du mich verarschen? Machst mit dieser Schlampe aus deinem Büro herum und fragst mich jetzt allen Ernstes, warum ich das Schloss an der Tür ausgewechselt habe? Tickst du eigentlich noch sauber?«

Netterscheid versuchte die Ruhe zu bewahren. Was ihm angesichts der Situation jedoch schwerfiel.

»Was für eine Schlampe? Wen meinst du? Ich habe nichts mit einer anderen Frau.«

Helen Netterscheid wieherte geradezu, doch von Vergnügen war in ihrer Stimme nichts zu spüren. Eher das Gegenteil..

»Ich habe dir eine Email geschickt. Wirf mal einen Blick auf den Dateianhang. Den Rest besprechen dann unsere Anwälte.»

»Welche Anwälte?«

»Das wirst du dann schon sehen.«

»Und wo soll ich deiner Ansicht nach bleiben? Ich komme gerade vom Dienst und bin todmüde...«

»Deine Klamotten findest du neben der Garage. Fahr doch von mir aus zu diesem Weibsstück. Die wartet bestimmt auf so Typen wie dich.«

Kurz darauf brach die Verbindung ab. Netterscheid ging am Carport vorbei und stieß in einer dunklen Ecke auf zwei prall gefüllte Reisetaschen. Er zog einen der Reißverschlüsse auf. Helen hatte seine Sachen achtlos hineingestopft. Ihm dämmerte inzwischen, dass das hier kein gewöhnlicher Ehekrach mehr war.

Netterscheid nahm sein Smartphone und kontrollierte die zwischenzeitlich eingegangenen Emails. Nach wenigen Augenblicken fand er die Nachricht seiner Frau. Was dort stand, ließ ihm das Blut in den Adern gefrieren. Helen wollte sich allem Anschein nach von ihm scheiden lassen. Als Grund gab sie sein Verhältnis mit einer Kollegin aus seiner Abteilung an. Er rief den Dateianhang auf. Kein Wunder, dass Helen ausgerastet war. Eines der Bilder zeigte ihn gemeinsam mit Doro Breitner in eindeutiger Pose. Das Bild war eindeutig getürkt, denn er hatte nie etwas mit der Kollegin gehabt. Seine Finger wirbelten über das Display seines Smartphones und wählten erneut den Mobilfunkanschluss seiner Frau. Wie zu erwarten, wurde der Anruf weggedrückt.

 

Eine halbe Stunde später parkte er seinen im Bad Godesberger Villenviertel. Vor einem typischen Anwesen aus der Gründerzeit mit breiter Garagenzufahrt und von beiden Seiten zugänglicher Treppe in die Belle-Etage. Seine Schwiegermutter, Tochter eines Bad Godesberger Fabrikanten, hatte die Villa seinerzeit mit in die Ehe gebracht. Helens Eltern waren gut situierte Leute und trotz ihres fortgeschrittenen Alters immer noch in Politik und Kultur aktiv. Netterscheid hatte sich seinerzeit schwer getan, Helens Eltern von seinem Ehewunsch zu überzeugen. Geschiedener Polizist heiratet Tochter des Chefarztes in der Waldklinik. Er würde zum Gespött der gesamten medizinischen Fakultät werden, hatte sich sein Schwiegervater seinerzeit hinter vorgehaltener Hand echauffiert. Wenn Helens Traummann wenigstens Dienststellenleiter gewesen wäre, aber doch bitte nicht irgendein unbedeutender Stiefelputzer im gehobenen Dienst. Schließlich war es Margot, die ein Machtwort sprach und ihren Mann zum Umdenken zwang. Doch eine gewisse Distanz zu ihrem Schwiegersohn konnte auch sie nie so richtig ablegen. Dies änderte sich auch nicht nach der Geburt der beiden Enkelkinder.

Mit ausladenden Schritten nahm er die Stufen hinauf zur Eingangstür. Dort angekommen strich er sich noch einmal instinktiv durchs Haar und drückte den Klingelknopf. Beim Klang des Glockenspiels schüttelte er wie eh und je den Kopf. Das Big-Ben-Gedudel passte nun wirklich nicht mehr ins 21. Jahrhundert. Es vergingen ein paar Augenblicke, ehe sein Schwiegervater im Türrahmen auftauchte. Lothar Steinheuer schaute ziemlich unwirsch. Dabei musterte er ihn von oben bis unten.

»Du traust dich ja was.«

Seine Stimme zeigte jedoch keine Spur von Erregung. Vermutlich wägte er immer noch ab, ob er der neuen Situation in der Ehe seiner Tochter nicht unter Umständen sogar etwas Positives abgewinnen konnte. Endlich bot sich ihm die Chance, diesen Cretin von Schwiegersohn auf elegante Weise für immer und ewig loszuwerden. Machte mit einer Mitarbeiterin herum und ließ sich dabei auch noch erwischen. Amateur!

»Wo ist Helen?«

Steinheuer trat einen Schritt zurück. Auf seiner Stirn erschien eine steile Falte.

»Das solltest du eigentlich am ehesten wissen. Du bist schließlich ihr Ehemann.«

Beim Wort 'Ehemann' sprach tiefe Verachtung aus seiner Stimme.

Netterscheid schubste den Alten beiseite. Fruchtlose Diskussionen führten jetzt zu nichts. Er kannte Helen inzwischen gut genug. Wenn die Zeit hatte, sich lange genug etwas einzureden, dann glaubte sie es anschließend wirklich noch daran.

»Was soll das?« rief ihm Steinheuer hinterher, während Netterscheid bereits durch die Halle stürmte und den Weg in Richtung Salon einschlug.

Margot Steinheuer schaute von ihrer Illustrierten hoch und warf ihrem angeblich treulosen Schwiegersohn einen ebenso verächtlichen Blick zu. Netterscheid knurrte lautlos. Dieses elitäre arrogante Gehabe passte aber sowas von haarscharf in diese spät-viktorianische Spießergrotte, in der die beiden Alten seit Jahrzehnten hausten.

»Was willst du?«

Margot Steinheuer machte sich nicht einmal die Mühe, von ihrer mit dunkelgrünem Brokatstoff bezogenen Recamière zu klettern. Sie reichte ihm weder wie üblich wenigstens die Hand, noch legte sie die Zeitschrift beiseite. Netterscheid knirschte mit den Zähnen. Er kam sich vor wie ein Bittsteller am Hofe Ludwigs des Sechzehnten. So war er von der Alten noch nie abgekanzelt worden.

»Wo stecken Helen und die Kinder?«

Margot Steinheuer machte ein erstauntes Gesicht.

»Das solltest du als ihr Ehemann doch wohl am ehesten wissen«, wiederholte sie die Worte ihres Mannes. Dabei rückte sie ihre goldgeränderte Lesebrille zurecht und begann erneut in ihrer Illustrierten zu blättern.

Netterscheid begann erneut rückwärts zu zählen. Hoffentlich nutzte es diesmal was. Zuletzt hatte der Tipp seiner Therapeutin jedenfalls zu hundert Prozent versagt. Lothar Steinheuer betrat den Salon.

»Mach dir keine Sorgen, Liebes. Ich habe bereits seine Kollegen von der Godesberger Wache informiert. Die werden gleich hier sein.«

»Weshalb sollte ich mir Sorgen machen?« meinte Margot Steinheuer, ohne auch nur ansatzweise den Blick von Ihrer Zeitschrift zu nehmen. »Doch wohl nicht wegen dem da.«

Mehr Verachtung ging eigentlich nicht. Das sah auch Netterscheid so, der gerade erst bei Fünfundsiebzig angekommen war. Mit vier, fünf Schritten nahm er die Stufen bis zum ersten Treppenabsatz, als über ihm eine Tür ins Schloss fiel. Er hatte sich nicht getäuscht. Helen befand sich im Haus seiner Schwiegereltern. Sekunden später stand Netterscheid vor dem Jugendzimmer seiner Frau. Die Tür jedoch war abgesperrt.

»Hör mit dem Quatsch auf und lass mich gefälligst rein.« Drinnen begannen die Kinder zu quengeln. »Wir müssen reden.«

»Da gibt es nichts mehr zu bereden. Du hast mich betrogen. Verschwinde gefälligst. Ich will mit dir nichts mehr zu tun haben.«

»Ach, hör schon auf«, antwortete Netterscheid. »Das mit Doro, das ist doch ganz anders...«

»Du gibst es also auch noch zu!« ertönte hinter ihm eine Stimme. Sein Schwiegervater war ihm inzwischen nach oben gefolgt.

Netterscheid wirbelte herum. Seine Augen funkelten. Instinktiv wich Steinheuer einen Schritt zurück. Netterscheid trommelte gegen die verschlossene Tür. Inzwischen begannen seine Kinder zu weinen. Er hielt inne. Auf der Treppe wurden Schritte laut.

»Was geht hier vor?« rief eine Stimme.

Auf dem Treppenabsatz tauchten zwei Polizeibeamte auf. Einer von ihnen drückte die rechte Hand unmissverständlich an den Kolben seiner Dienstwaffe. Mit zwei, drei Sätzen war auch der andere Beamte heran, wirbelte ihn herum und drückte ihn gegen die Wand. Dabei bohrte sich Netterscheids Nase förmlich in das Konterfei von Margot Steinheuers Großmutter.

»Was haben wir denn da?« rief einer der Beamten mit triumphierender Stimme. Gleichzeitig zog er die Heckler & Koch aus Netterscheids Hüfttasche.

»Sie sind verhaftet. Ludwig, die Handschellen!«

»Werfen Sie erst mal einen Blick in meine Brieftasche«, knurrte Netterscheid. »Dort finden Sie meinen Dienstausweis. Ich bin Beamter beim BKA.«

»Das ist mir schnurzegal, Herr Kollege«, erwiderte der Streifenpolizist. »Und wenn Sie Leibgardist der Kanzlerin persönlich wären. Sie kommen jetzt erst einmal mit. Den Rest erledigen wir auf der Wache.«

 

 

 

 

Kapitel 17

 

 

Montag

 

Wir waren früh aufgebrochen, denn ich wollte spätestens am kommenden Tag wieder zurück sein. Durch Mariannes unerwarteten Tod besaß ich jetzt keine büroleitende Angestellte mehr. Erst jetzt wurde mir richtig bewusst, welche Hilfe sie mir all die Monate gewesen war. Im Prinzip hatte ich bis vorgestern noch in aller Ruhe den Bigboss spielen können. Um die Produktion kümmerte sich Thomas, alles Handwerkliche übernahm Lutz Backhaus mit seinen Männern und um Abrechnungen und Verkauf kümmerte sich Marianne. Ich seufzte. Demnächst würde wohl eine Menge Arbeit auf mich zukommen.

Wenigstens hatte sich Karl angeboten, während meiner Abwesenheit den Email-Verkehr zu überwachen und Telefonate und Faxe anzunehmen. Schließlich habe er jahrelang auf einer Rinderfarm in Südfrankreich gearbeitet, versuchte er mich zu beruhigen. Da würde er wohl mit den paar Weinstöcken klarkommen. Im übrigen hätte er ja Robespierre. Um den Worten seines Herrchens Nachdruck zu verleihen, fletschte der Köter auch gleich demonstrativ die Zähne.

Lena hatte aus dem gräflichen Fuhrpark einen Range Rover besorgt, denn in ihrem Cabriolet wäre die lange Fahrt gemeinsam mit Miss Sophie auf dem schmalen Rücksitz und dem Rollstuhl im Kofferraum wohl doch etwas unbequem geworden. Da der Geländewagen jedoch noch keine Multima-Schaltung besaß, musste ich notgedrungen hinters Lenkrad. Hin und wieder warf ich Lena einen verstohlenen Blick zu. Die überwiegende Zeit hielt sie die Augen geschlossen. Als ich sie darauf ansprach, gestand sie ein, sie sei eine grottenschlechte Beifahrerin. Das passte zu ihr. Lena war ein Kontrollfreak. Wehe, wenn sie nicht alles jederzeit perfekt im Griff hatte. Es war ihr deutlich anzumerken, dass es ihr überhaupt nicht in den Kram passte, auf die fremde Hilfe angewiesen zu sein. Daheim würde vermutlich demnächst der gesamte gräfliche Fuhrpark auf die Multima-Technik umgerüstet werden. Den Hersteller wird's freuen, dachte ich bei mir.

 

»Wann sind wir denn endlich da-a?« imitierte Lena ein quengelndes Kleinkind. Gerade hatten wir bei Kempten die A7 verlassen und befanden uns auf dem Weg nach Immenstadt. Von hier aus waren es höchstens noch dreißig Kilometer.

»Wenn ihr weiter so durch die Gegend rast, vermutlich in zehn Minuten«, beschwerte sich eine Stimme aus dem hinteren Off.

Sophia hatte es sich, in eine Wolldecke eingehüllt, auf der Rückbank beguem gemacht und seit Fahrtantritt keinen Mucks mehr von sich gegeben. Inzwischen schien sie jedenfalls wieder putzmunter. Ich bewunderte die alte Dame. Ihre knapp achtzig Jahre merkte man ihr gerade in Situationen wie dieser überhaupt nicht an. Sie war in meinen Augen eher sowas wie ein alternder Teenager. Zugegeben, ein inzwischen sehr alternder. Aber sowas hätte ich nicht einmal im Traum laut auszusprechen gewagt.

»Auch schon wach?« schmunzelte ich und warf einen Blick über die Schulter.

Sophia setzte sich aufrecht hin.

»Ah, die Berge. Erinnert mich ein bisschen an die amerikanischen Rockies. Die Alpen sind ja doch was anderes als die Hügel bei uns daheim.«

 

»Wie gehen wir jetzt eigentlich vor?« fragte Lena, als das Ortsschild von Oberjoch an uns vorbeiglitt.

Triumphierend hob Sophia ihr Tablet in die Höhe.

»Ich habe mich vorsichtshalber ein bisschen schlau gemacht. In Oberjoch selbst gibt es niemanden mit Namen Sandhoff. Jedenfalls taucht der Name in keinem der einschlägigen Telefonverzeichnisse auf. Dafür gibt es allerdings einen Eintrag auf den Namen Leim, den Geburtsnamen von Margarete Sandhoff.«

»Alle Achtung. Jemanden wie dich könnten wir bei uns in der Kanzlei gut gebrauchen.«

»Gearbeitet habe ich in meinem Leben genug, meine Liebe«, erwiderte Sophia. »Fahrt jetzt einfach die B308 noch ein Stück weiter Richtung österreichische Grenze. Irgendwann wird der Hof der Leims schon auftauchen.«

 

Hof war zuviel gesagt. Zumindest, wenn man an einen typischen Allgäuer Bauernhof dachte. Es handelte sich vielmehr um ein Einfamilienhaus mit Einliegerwohnung, zu dem allerdings ein riesiger Garten mit uraltem Obstbestand gehörte. Vielleicht war das Anwesen der Leims früher tatsächlich mal ein landwirtschaftlicher Betrieb gewesen.

Ich half Lena in den Rollstuhl und schob sie voran. Miss Sophie folgte uns mit einigem Abstand. Es dauerte eine Weile, ehe eine Frau von Mitte Sechzig die Türe öffnete. Ihr erstaunter Blick wurde rasch misstrauisch.

»Geh', wos wuilts? I hob ollerwei a schnell's Internet, und bekehrt bin i a scho.«

Vermutlich glaubte sie, wir wären von der Telekom oder die Zeugen Jehovas.

 

Ich musterte die Hausbesitzerin. Kariertes Kopftuch, Kittelschürze in knalligem Hellgrau passend zur dunkelbraunen Hose unter einem Stoffrock undefinierbarer Farbe und, quasi als Tüpfelchen auf dem i, dunkelgrüne Gummistiefel aus dem Baumarkt. Alter rund Sechzig, IQ maximal Achtzig, hundert Prozent grenzdebil. Gott mit dir, du Land der Bayern! Jetzt sah man, wohin der ungezügelte Genuss von Bier und Leberkäs auf Dauer führte. Ich rang mir ein gewinnendes Lächeln ab.

»Darf ich vorstellen: Frau Berrenrath, ehemalige Lehrerin aus Grafenstein. Die Dame im Rollstuhl ist Rechtsanwältin Dr. zu Ahrenfels. Ich bin übrigens Hagen Brenner, Winzer von der Mosel.«

»Ja, wos? I hob nix zum schaffen met ahm Rechtsanwalt. Und Wein trink' i glei gar net. Mir trinken hier ollerwei a Bier, host mi?«

»Was wir eigentlich sagen wollen«, mischte sich Lena ein und rollerte bis dicht an die störrische Hausherrin heran, »wir sind auf der Suche nach der Cousine von Frau Margarete Sandhoff. Der unlängst verstorbenen Frau Sandhoff.«

Die Augen der Hausbesitzerin verzogen sich zu schmalen Schlitzen.

»Do gibt's fei nix zum suacha. Und jetzt schleicht's euch, eh mer die Gendarmerie rufen dan.«

Die Frau huschte zurück in den Flur und wollte die Türe in Schloss ziehen. Doch ich war einen Tick schneller. Zum Glück hatte ich für die Reise auf meine üblichen Ledermokassins verzichtet und stattdessen festes Schuhwerk gewählt. Sonst hätte mich Lena vermutlich erst mal in die orthopädische Notfallambulanz bringen können. Die Frau starrte mich mit einer Mischung aus Argwohn und Verblüffung an.

»Wir sind quer durch die halbe Republik gereist, um hierher zu kommen«, sagte ich hastig. »Wir wollen Ihnen weder was verkaufen, noch Sie bekehren, sondern eigentlich nur eine simple Auskunft. Wo finden wir Frau Margarete Sandhoffs Cousine?«

»Lass mich mal«, meinte Sophia und schob mich beiseite. Anschließend blickte sie der Frau fest in die Augen.

»Wir sind auch nicht vom Geheimdienst, falls Sie das glauben. Nein, eher ganz im Gegenteil. Vor ein paar Tagen tauchte bei uns eine Frau auf und gab sich als Margarete Sandhoff aus. Während einer Unterhaltung erwähnte sie eine Frau, die vor etwa dreißig Jahren in Hoheneck inhaftiert war. Durch Zufall erfuhren wir, dass die richtige Margarete Sandhoff vor kurzem verstorben sei. Ehrlich gesagt, wir stehen alle vor einem Rätsel.«

Die Bayerin schaute erst mich, dann Lena und schließlich wieder Sophia an. Man merkte ihr deutlich an, dass ihr die ganze Sache nicht geheuer schien. Davon zeugte auch ihr immer noch misstrauischer Blick.

»Geh, warum fragt's ihr net dös Weibsbild?«

»Das geht leider nicht. Sie hatte einen schweren Verkehrsunfall und liegt in der Klinik.«

»Schorschi!« brüllte die Frau in das Innere des Hauses. »Kimmst amohl?«

Schorschi erschien. Dabei handelte es sich um den bereits vor zwanzig Jahren aus den Kinderschuhen herausgewachsenen Langzeit-Sohn, der anscheinend auch mit Mitte Dreißig noch lange nicht auf die Vorzüge von Hotel Mama verzichten mochte. Wobei, ich an seiner Stelle hätte angesichts der Weltabgeschiedenheit des elterlichen Anwesens längst die Flucht ergriffen. Aber in Bayern tickten die Junggesellen anscheinend anders.

»Geh wos? Hob koa Zeit net. Bin chatten mit die Weiberleit.«

Die Frau in der Kittelschürze deutete auf uns.

»Kennst die?«

»Naaaahh«, ertönte es im breiten Dialekt. »Wer san die?«

»Preiß'n, halt. Woast eh.«

»Schick'st halt hoam.«

Der Typ grinste quer über sein unrasiertes Gesicht, drehte sich auf seiner ungewaschenen Ferse um und schlich sich, wie man in Bayern sagt. Schuhe trug er jedenfalls keine. Dafür aber Krachlederne. Mit CSU-Sticker am Hosenträger.

 

Lena versuchte erneut ihr Glück.

»Entschuldigen Sie, aber die Fahrt hierher war doch ziemlich anstrengend. Haben Sie vielleicht ein Glas Wasser für mich?«

Kluger Schachzug. Über siebzig Prozent aller Bayern sind katholisch. Eine Frau im Rollstuhl verdursten zu lassen, gob a Ärger mit'm Pfarrer. Himmiskrateifi!

Die Frau verschwand im Innern des Hauses, nicht ohne vorher vorsorglich die Türe hinter sich zugezogen zu haben. Ich hätte zwar nicht unbedingt darauf wetten mögen, aber nach wenigen Augenblicken tauchte die Frau tatsächlich erneut im Türrahmen auf. In jeder Hand hielt sie ein Glas gefüllt mit Leitungswasser. Eines reichte sie Lena, das andere Miss Sophie. Sophia warf mir einen verständnislosen Blick zu. Ich nickte. Ein ordentliches Grafensteiner Herrengedeck daheim beim Ballensiefen wäre ihr vermutlich wesentlich lieber gewesen.

Lena zumindest nahm das Glas dankbar entgegen, setzte es an ihren Mund und trank gierig. Ob sie tatsächlich soviel Durst hatte oder hier bloß eine Show abzog, blieb dabei ihr Geheimnis. Sicherheitshalber behielt sie ihr Glas in der Hand.

»Wir möchten der Cousine von Frau Sandhoff nur ein paar Fragen stellen. Können Sie uns da wirklich nicht weiterhelfen?«

Verlegen knetete die Frau ihre Handknöchel. Die Saupreiß'n machten ja eigentlich einen netten Eindruck. Besonders diese junge elegant gekleidete Dame im Rollstuhl. Die Ärmste! Was für ein Schicksal. Ohne Rollstuhl wäre die bestimmt was für den Buam gewesen. Auch die Alte mit dem komischen Kunststoffbrett unterm Arm schien okay, nur diesen Winzer konnte sie noch nicht so recht einschätzen. Zu sich hineinbitten, das kam natürlich auf keinen Fall in Frage. Sie dachte an den Tisch mit den beiden Holzbänken draußen bei den Obstbäumen.

»Woast wos? Geht's amol nei in'n Garten. I bring ahn Kaffee. Trinkt's doch ahn Kaffee, gell?«

»Aber sowas von«, brummte ich halblaut in meinen Dreitagebart.

»Aber sehr gerne«, nickte Miss Sophie. »Soll ich Ihnen vielleicht helfen?«

»Geh«, winkte die Bayerin ab und deutete demonstrativ in Richtung ihrer Obstplantage.

 

»Freundliches Völkchen«, meinte ich, als wir inmitten einer uralten Streuobstwiese unter einem Birnbaum an einem grob zusammengezimmerten Holztisch mit Bänken Platz nahmen. »Bisschen umständlich vielleicht. Hoffentlich taugt der Kaffee was.«

»Wie würdest du denn reagieren, wenn urplötzlich drei Wildfremde bei dir auftauchen und dich über deine verstorbene Verwandtschaft ausfragen?«

»Meint ihr, das ist die Cousine dieser Margarete Sandhoff?«

»Wer soll das denn sonst sein?«

»Inzwischen glaub ich gar nix mehr«, winkte ich ab.

Eine Viertelstunde später huschte ein breites Grinsen über mein Gesicht. Die Hausherrin des ehemaligen Aussiedlerhofs brachte eine Kanne mit dampfendem Kaffee, Tassen, Besteck und hatte sogar ein bisschen Gebäck dazugelegt. Mir stellte sie ein Bier und ein gut gefülltes Stamperl Schnaps hin.

»Du bist doch fei ka Kaffeetant'n, oder wos? Bei uns dahoam trinken die Bursch'n wos Anständ'ges.«

»Sauguat«, juchzte ich, woraufhin unsere Gastgeberin erstaunt die Augenbrauen hob.

»Bist gar a Schwizer?«

»Nein, ist er nicht«, meinte Miss Sophie. »Er ist nur bisweilen etwas albern.«

Dabei schaute sie sehnsüchtig auf das Gläschen mit dem hochprozentigen Inhalt. Nachdem die Damen den ersten Schluck Kaffee zu sich genommen hatten, brach langsam die oberste Eisschicht.

»Wo kimmt's 'n dera her?«

»Grafenstein«, antwortete Lena. »Das ist ein kleiner Ort an der Mosel. Zwischen Trier und Koblenz.«

»Ah, bei die Preiß'n, gell?«

»So ungefähr«, seufzte Sophia.

Es war ihr deutlich anzumerken, dass sie jetzt am liebsten einen Vortrag über die politische Lage im 18. Jahrhundert gehalten hätte. Unverständlich, dass die Mehrzahl der Leute südlich der Donau auch heute noch der felsenfesten Überzeugung ist, dass alles, was sich nördlich des Flusses befand, automatisch auch irgendwann mal preußisch gewesen sein musste.

»Ihr wuilt's wos über die Margret erfahr'n«, fuhr sie schließlich in einem halbwegs verständlichen Deutsch fort. »Tja, die Margret ist tot. Gott sei ihrer armen Seele gnädig. Viel hat's im Leben durchg'macht, dös arms Hascherl.«

»Sie sind Margarete Sandhoffs Cousine, stimmt's?« griff Lena den Faden auf.

Die alte Frau atmete tief durch.

»Ja, wos glaubst'n du, ha? Ei freilich bin i dera Cousine.«

Sophia legte ihre knochige Hand auf die unserer Gastgeberin.

»Erzählen Sie uns doch ein bisschen von Margarete. Wo stammt sie her? Was hat sie gemacht? Was war sie für ein Mensch?«

Unsere Gastgeberin schaute die alte Dame nachdenklich an.

»Do gibt's net vuil z'm sog'n. A feiner Mensch war's halt. Anständig. Wissn's, alles hat angefangen, als mei Vatter, Gott hab ihn selig, vor'm Krieg ins Sudentenland g'zogen is. Margrets Vatter, also mei Onkel, der damische Hund, der damische, wuillt unbedingt bei dera im Osten bleib'n. Dann kam der Kriag, und Fünfavierz'g hamm's dera nausg'schmissen. Mei Vatter und sei Frau san nach Bayern g'flücht. Dann woar der Krieg owe, mer bekamen die Amis, und im Osten san die Russ'n blieb'n. Und mei Onkel, der damische Hund, der damische, is do'bliebn. Einundsech'zge hom's dann alles dicht g'macht. Bis Neinundacht'zge. Armes Madl. Wär der damische Hund, der damische, bloß zu uns na Bayern kemma.«

Wütend stampfte sie mit dem Gummistiefel auf.

»Was ist Margarete eigentlich passiert?«

»Geh, woast eh. S' hat studiert. War ollerwei a Freigeist. Hat's jung geheirat. Bekam a Tochter. Hat dann a paar Ausreiseanträg g'stellt. A paar zuvuil, wie's scheint. Mann weg, Kind weg, Zuchthaus. So ging's damals zu bei die Preiß'n, die damischen. Aber wos interessiert's 'n euch die oid'n G'schicht'n?«

»Sie war in Hoheneck inhaftiert, nicht wahr?« ließ Lena nicht locker. »Hat sie über ihre Zeit dort geredet?«

»Na, net vuil. War a grauslige Zeit, könnt's ma glaub'n. Do red ma net vuil drüber. Aber noch amol, warum wuilts ehra des all's wiss'n? Is doch so lang her.«

»Sie sagten gerade, Ihre Cousine hatte eine Tochter. Wo steckt die eigentlich?«

»Wos woas denn i? I hob's nia g'sehn. Hat beim Vatter bleib'n miss'n in der DDR, der damischen. Dana sull's in'n Norden genga san, hob i g'hört. Bei die Dänen oder Schweden, die preißischen.«

»Hat Ihre Cousine denn nie nach ihrer Tochter gesucht?«

»Woas i net. Neinundacht'zge gings net, und mit'm Internet hat's eh net vuil am Hut g'habt. Mer hätt'n a net wiss'n kenna, wo mer bei die Eisbär'n hätt'n suacha sulln.«

Lena lehnte sich in ihrem Rollstuhl zurück.

»Vor etwa einer Woche tauchte wie gesagt bei uns in Grafenstein eine Frau auf, die vorgab, Margarete Sandhoff zu sein. Bei einem Abendessen erwähnte sie eine Bekannte und deren Haftzeit in Hoheneck. Die Bekannte, von der sie sprach, scheint allem Anschein nach Ihre Cousine zu sein. Mit anderen Worten die richtige Margarete Sandhoff. Jetzt möchten wir herausbekommen, wer die Frau in Wirklichkeit ist und was sie im Schilde führen könnte.«

»Wo koam dera her?« wollte unsere Gastgeberin wissen.

»Möglicherweise aus der Nähe von München. Jedenfalls fuhr sie einen Wagen mit Münchner Kennzeichen.«

»Kenn i net«, winkte die Frau ab. »Margret woar a nia in Münch'n. Da seid's a Schwindlerin aufg'sessen. Aber wart's. Da is amol so a Weibsstück kemma. Wuilts alles über die Gretel, Gott hab sie selig, wiss'n.«

Die letzte Bemerkung elektrisierte uns.

»Wer war das? Wie sah die aus?« fragten Lena und ich gleichzeitig.

Margarete Sandhoffs Cousine zog die Stirn in Falten.

»A Reporterin, hat's g'sagt. Elegant.. So um die Vierz'ge, denk i.«

 

In diesem Augenblick tauchte Mamas Herzblatt auf. Der Typ stank nach Zigaretten, einem seit Tagen nicht mehr gewaschenen T-Shirt und billigem Fusel. Erst wollte er uns vom Hof jagen, aber als ihm seine Mutter erklärte, weshalb wir da seien, beruhigte er sich. Er zog eine zerknüllte Packung Camel aus der Hosentasche und zündete sich ein Stäbchen an. Als Lena die ziemlich deftigen Tätowierungen auf seinen Oberarmen bemerkte, rückte sie sofort ein Stück weit von ihm ab. Der Typ sprach genau wie seine Mutter eine Mischung aus Deutsch und Kauderwelsch. Typisch für die hiesige Region.

»Ja, da woar so a bleede Kuh. Mich hat's ausquetsch'n wuilln. I hob aber net vuil g'sagt.«

»Können Sie die Frau beschreiben?«

»Geh, was woas i? So um die Vierz'ge war's halt. Und a Perück'n hat trag'n. Wie so a Nutt'n vom Strich. Äh, net, dass't mahnt's...«

Er grinste verlegen.

»Hat halt g'fragt na soa Sach'n.«

»Was für Sachen?«

Herrje, dem Typ musste man ja alles aus der Nase ziehen. Da waren ja sogar die Eifelbauern geschmeidiger beim Reden.

»So Sach'n halt. Wo's gelebt hat, wo's eing'sessen is, warum's dazu kemma is. So Sachen halt.«

»Hat sie Ihnen Geld gegeben?« wollte Lena wissen.

Der Kerl lehnte sich zurück und verschränkte die Arme vor der Brust.

»Umasonst ist dera Tod. Woast eh.«

»Hat die Frau ihren Namen genannt?«

»Woas i net. Christine. Ja, i glaub' Christine hat's g'sogt. Christine Irgendwos. I woas net.«

»Haben Sie zufällig ein Foto von der Frau gemacht?«

Der Kerl mit den Tätowierungen auf dem Oberarm grinste erneut.

»Na, logisch. Warten's, i hob's auf'm Smartie. Hier schaun's.«

Triumphierend reckte er uns sein nagelneues iPhone entgegen. Junge, Junge, diese Christine hatte sich anscheinend nicht lumpen lassen. Trotz der hellblonden Perücke erkannte ich auf einen Blick, dass es sich um Mariannes Internetbekanntschaft handelte.

»Sagen Sie, haben Sie auch ein Foto von Ihrer verstorbenen Tante.«

»Wos is met Diri Dari?« grinste der Typ und rieb unmissverständlich Zeigefinger, Ringfinger und Daumen der rechten Hand aneinander.

Lena seufzte und legte einen Zwanziger auf den Tisch. Gespannt starrten wir auf das Bild. Zu sehen war das Gesicht einer verhärmt wirkenden alten Frau mit vernarbter Gesichtshaut und kaum noch Haaren auf dem Kopf.

»Ihre Tante hatte Hautkrebs, nicht wahr?« wollte Lena ihren Verdacht bestätigt wissen.

Der Typ mit den Tätowierungen wurde mit einem Mal ziemlich schmallippig.

»I hob des amol g'sehen, als im Bad omanand stond. Geh, zum fürcht'n.«

Damit stand fest, die Frau aus München musste die richtige Margarete Sandhoff von irgendwoher gekannt haben. Doch aus welchem Grund war ausgerechnet Marianne mit ihr in Kontakt getreten?

»Letzte Frage, bevor wir fahren: Haben Sie vielleicht mal den Namen Marianne gehört? Marianne Schäfer, eine junge Frau um die Dreißig, hübsch, sehr attraktiv, wohnhaft bei uns an der Mosel.«

Der Typ mit den Tätowierungen schüttelte den Kopf.

»Na, net. Nia g'hört.«

Lena wandte sich wieder an seine Mutter, die dem Gespräch bislang eher stumm gefolgt war.

»Bevor wir aufbrechen, habe auch ich noch eine allerletzte Frage. Wer ist eigentlich dieses 'Nannerl', von der in dem Nachruf zu lesen ist?«

»Dös Nannerl?« meinte die Frau. »Jo mei, dös Nannerl halt. Lebt ollerwei drob'n auf dera Alm. Will ums Verreck'n net weg. Red'n tut's a nix. I woas a net, wos mer met die oide Gosch'n mocha wer'n.«

»Wie heißt die Frau eigentlich richtig?«

»Wos moanst? Jo mei, Nannerl halt.«

»Hat sie auch einen Nachnamen?«

Unsere Gastgeberin schaute ihren Sohn an. Der zuckte jedoch nur die Schultern.

Als wir die freundlichen Menschen im tiefsten Süden der Republik verließen, stand jedenfalls fest, dass mein Betrieb wohl noch ein bisschen länger auf mich warten musste. Wenn wir schon mal hier waren, dann sollten wir auch unbedingt diesem Berwang einen Besuch abstatten. Die Frage war nur, wie ich Miss Sophie und eine Rollstuhlfahrerin bis zu einer Almhütte im Nirgendwo geschleppt bekam.

 

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Aufdringliches Schnarchen riss Sylvia Roth aus dem Schlaf. Missmutig warf sie einen Blick auf den Mann an ihrer Seite. Warum um alles in der Welt mussten Männer bloß solche Geräusche von sich geben? Seufzend wühlte sie sich aus den Federn, streckte sich gähnend und verließ das Schlafzimmer. Auf dem Weg zur Dusche sammelte sie die achtlos abgestreiften Kleidungsstücke vom Boden auf und warf sie in den Wäschekorb. Jens hatte bereits vor der Eingangstür auf sie gewartet und konnte es anschließend kaum erwarten, sie ins Bett zu bekommen. Unwillkürlich huschte ein Grinsen über ihre Lippen. Warum heirateten Männer überhaupt, wenn sie anschließend doch nur durch fremde Betten hüpfen wollten? Jens, zudem auch noch zweifacher Vater, machte da keine Ausnahme. Ihr war das egal. Sie wollte beruflich weiterkommen, und der Zweck heiligte ja bekanntlich die Mittel.

Nachdem sie sich einen Kaffee zubereitet hatte, überprüfte sie als erstes ihr Email-Postfach. Unter den Spam-Mails fand sie eine Nachricht mit einer Googlemail-Adresse. Sie wollte die Mail schon in den Papierkorb verschieben, als sie über den Betreff stolperte. Er enthielt nur ein Wort: Balfelder.

Bereits nach dem zweiten Absatz stutzte sie und las den Text noch einmal genauer durch. Wenn der Dateianhang zu dieser Mail kein Fake war, dann brannte demnächst in Grafenstein die Hütte. Der Dateianhang enthielt einen Kontoauszug. Ausgestellt von einer Luxemburger Bank auf Melanie Balfelder, wohnhaft 43, Rue Montagne, 4900 Spa, Belgien. Das roch nach Schwarzgeld. Plötzlich stutzte sie. Spa? Aus Spa stammte doch auch die Tote aus dem Yachthafen. Verblüfft ließ sie das Smartphone sinken. Sollten sich die beiden Frauen etwa gekannt haben? Hatte Melanie Balfelder vielleicht sogar etwas mit dem Mord an dieser Erna Leinfeld zu tun? Unwillkürlich verzogen sich ihre Mundwinkel nach oben. Das jedenfalls wäre der Brüller!

Blieb nur die Frage: Von wem stammte die Mail, und welche Absicht stand dahinter, ausgerechnet jetzt, da wegen der jüngsten Ereignisse in Grafenstein ohnehin die Wellen über dem Kopf der Bürgermeisterin zusammenschlugen, mit solch brisanten Informationen herauszurücken. Das konnte natürlich auch alles ein Riesenbluff sein. Kontoauszüge ließen sich mit Hilfe eines guten Bildbearbeitungsprogramms und einem Dokumentenscanner selbst von einem Laien in wenigen Minuten fälschen.

 

Sylvia warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. Noch ein bisschen früh, aber das sollte ihr jetzt egal sein. Sie ging zurück ins Schlafzimmer und riss die Vorhänge beiseite. Ein unwilliges Brummen war die Folge.

»Was ist denn los? Weißt du, wie spät es ist? Und wieso bist du eigentlich schon angezogen? Komm gefälligst wieder ins Bett.«

Bei dem letzten Satz begannen die Augen des Mannes zu leuchten. Sylvia deutete auf ihr Smartphone.

»Ich habe da gerade eine brandheiße Info erhalten. Das solltest du dir unbedingt mal ansehen.«

»Hat das nicht bis nachher Zeit?« brummte der Mann. Die Enttäuschung war ihm deutlich anzumerken. Wenn Sylvia sich am frühen Morgen bereits so energiegeladen zeigte, war es gewöhnlich Essig mit einem Nachschlag in Sachen Sex. Seufzend richtete er sich auf.

»Schau dir das mal an«, meinte sie und klickte ein paar Mal auf dem Display herum. »Die Balfelderin soll in Luxemburg angeblich ein Konto haben. Mit einer hohen sechsstelligen Summe. Man glaubt es nicht! Der Absender hat zum Beweis einen Kontoauszug beigefügt. Sieht alles ziemlich echt aus.«

»Okay«, meinte Jens. »Aber komm jetzt gefälligst wieder ins Bett.«

Sylvias Enthusiasmus schwand. Jens konnte manchmal aber auch wirklich eine öde Spaßbremse sein!

»Jetzt lies dir das doch wenigstens mal in Ruhe durch. Und achte mal darauf, welche Wohnanschrift für die Kontoinhaberin angegeben ist.«

Da inzwischen endgültig feststand, dass er offenbar auf zusätzliche Streicheleinheiten verzichten musste, konnte er ja mal schauen. Nachdem er die Mail samt Anhang überflogen hatte, stand sein Entschluss fest. Zuerst musste er den Kontoauszug auf Echtheit prüfen lassen und anschließend mit Meier-Ossendorf, dem Verleger des Grafensteiner Tageblatts, reden. Er und die Balfelderin kannten sich seit Jahren, und er, Jens Casper, hatte daheim Frau und zwei Kinder zu versorgen. Sollte es sich bei der Mail um einen bösen Scherz handeln und sie gingen damit trotzdem an die Öffentlichkeit, konnte er sich anderntags einen neuen Job suchen.

Sylvia grinste.

»Da ist ein Ding, was?«

»Könnte interessant sein. Hast du eine Ahnung, von wem die Mail stammt?«

»Keinen Schimmer. Also, was ist? Wäre das kein Aufmacher für die morgige Ausgabe?«

»Ich geh jetzt erst mal duschen«, meinte er nur.

Während das Wasser auf ihn herabprasselte, fand die Nachricht auch den Weg in ein Tierer Email-Postfach.

 

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Als Netterscheid seine Dienststelle betrat, merkte er sofort, dass auch hier etwas nicht stimmte. Der Pförtner, ein ehemaliger Bundeswehrbediensteter mit Kurzhaarschnitt und auch sonst zackigem Auftreten, winkte ihm bereits von weitem zu.

»Sie sollen sofort in den kleinen Besprechungsraum kommen.«

Netterscheid zog die Stirn in Falten.

»Anweisung vom Kriminaldirektor. Und lassen Sie Ihre Dienstwaffe hier.«

Netterscheid runzelte die Stirn.

»Ich soll was?«

Der Pförtner deutete nur stumm auf dessen Gürtel. Netterscheid grinste breit.

»Okay, wo ist die versteckte Kamera? Was soll der Unfug?«

Als sich sein Gegenüber jedoch nicht beirren ließ, legte er schließlich seine Heckler & Koch mitsamt Holster und Ersatzmagazin auf die Tischplatte.

»Zufrieden?«

Wortlos nahm der Pförtner die Waffe entgegen und verstaute sie unter dem Tresen. Zwei Minuten später betrat Netterscheid den Besprechungsraum.

 

Der Alte und ein Unbekannter erwarteten ihn. Kriminaldirektor Dr. Braun deutete auf einen freien Sessel. Seufzend ließ sich Netterscheid in das Polster sinken. Er hatte schlecht geschlafen, und in seinem Büro stapelte sich der Schreibkram.

Sein Chef ergriff als Erster das Wort. Und zwar in ziemlich schroffem Ton. Braun ärgerte sich mal wieder mächtig über seinen Mitarbeiter. Verstrubbelte Haare, zerknitterter olivgrüner Anorak, wie üblich ein schwarzes T-Shirt und hellgraue Jeans. Er verlangte von seinen Ermittlungsbeamten bestimmt nicht das geschniegelte Outfit von us-amerikanischen FBI-Beamten, aber sie sollten auch nicht gerade so herumlaufen, als hätten sie die Nacht auf einer Parkbank verbracht. Wie sah das denn aus? Wenn er Schimanski spielen wollte, sollte er sich bei den ARD bewerben.

 

»Der Kollege neben mir ist Polizeirat Neubauer von der Internen Ermittlung. Also überlegen Sie sich gut, was Sie von nun an sagen.«

In jeder anderen Situation hätte Netterscheid ihm den Vogel gezeigt, sich wortlos auf dem Absatz umgedreht und auf den Weg zu seinem Arbeitsplatz gemacht. Doch heute herrschte irgendwie dicke Luft. Der Alte konnte zwar manchmal eine echte Nervensäge sein, aber man war stets bemüht, kollegial miteinander umzugehen. Davon schien im Augenblick nicht der Hauch einer Spur.

Er versuchte es auf die joviale Tour.

»Interne Ermittlung? Was soll das? Habe ich etwa einen Strafzettel nicht bezahlt, oder stimmt meine Spesenabrechnung nicht?«

»Die Fragen stellen erst einmal wir«, meldete sich Neubauer zu Wort. »Schildern Sie uns doch bitte Ihren gestrigen Tagesablauf.«

Netterscheid warf Dr. Braun einen fragenden Blick zu.

»Hören Sie, Chef. Was soll der Blödsinn von wegen interne Ermittlung und was ich gestern angeblich gemacht habe? Da liegen mehrere Mordfälle auf meinem Tisch. Soweit ich weiß, ist Ihnen doch selbst an einer raschen Aufklärung gelegen. Ich muss dringend noch...«

»Beantworten Sie einfach die Fragen des Kollegen Neubauer«, unterbrach ihn Dr. Braun mit ausdrucksloser Miene.

Netterscheids Blutdruck kletterte langsam aber unaufhaltsam in die Höhe. Auf den Hinweis seines Chefs ging er nicht ein.

»Wieso hat man mir eigentlich am Empfang meine Dienstwaffe abgenommen?«

»Wollen Sie nicht verstehen, oder können Sie nicht?«

Netterscheid atmete tief durch.

»In den frühen Morgenstunden erhielt ich die Nachricht, dass in Mayen eine junge Frau bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen sei. Es handelt sich um eine Zeugin im Mordfall Grafenstein, die ich eigentlich noch hatte vernehmen wollen. Anschließend wurde ich nach Grafenstein gerufen. Dort hing der Rektor der Realschule Grafenstein in seiner Turnhalle an einer Reckstange. Ob das tatsächlich Selbstmord war, wird sich erst noch herausstellen. Ich jedenfalls habe da so meine Zweifel. Nachmittags bis abends fand eine Zeugenvernehmung im Grafensteiner Rathaus mit anschließender Speichelprobe statt.«

»Auch so eine hirnrissige Idee«, knurrte sein Chef.

Netterscheid wurde ungeduldig.

»Sorry, Chef, aber Sie haben mir für Ermittlungen in sämtliche Richtungen grünes Licht gegeben. Sie sind es doch, der den Fall Grafenstein so rasch als möglich geklärt haben möchte. Bitte, ich habe mich nur an Ihre Anordnungen gehalten. Und wenn Sie mich jetzt meine Arbeit machen ließen, könnte ich Ihnen vielleicht schon heute Nachmittag Genaueres sagen.«

Dr. Braun knirschte mit den Zähnen. Überwiegend deshalb, weil er sich insgeheim eingestehen musste, dass Netterscheid in allen Punkten recht behielt. Er hatte tatsächlich rasche Aufklärung verlangt und ihm hierbei freie Hand gelassen.

»Soweit, so klar«, grinste der Typ von der Internen Ermittlung. »Aber was geschah danach? Nachdem Sie aus Grafenstein zurückkamen.«

»Dann bin ich, verdammt nochmal, nach Hause gefahren. Heim zu meiner Familie.«

»Wo man allerdings die Eingangsschlösser ausgetauscht hatte«, ergänzte Neubauer. »Hat Sie das nicht irgendwie wütend gemacht?«

 

Mit einem Mal ahnte Netterscheid, auf was der Typ von der Internen in Wirklichkeit hinauswollte. Das war keine Befragung mehr, das war die Inquisition.

»Nein, ich war nicht wütend«, antwortete Netterscheid mit nur mühsam unterdrücktem Ärger. Dieser Lackaffe hier spielte Krieg der Sterne, während sich an der Mosel die Toten stapelten.

»Ich war lediglich überrascht. Verblüfft, um es genau zu sagen.«

Er warf seinem Chef einen bitterbösen Blick zu.

»Aber das ist Privatsache. Jeder hat mal Eheprobleme.«

»Das mag schon sein«, konterte Neubauer trocken. »Aber in aller Regel läuft man anschließend nicht wie ein Irrer durch die Gegend herum und verschafft sich widerrechtlich Zutritt zu einem Haus.«

Netterscheid überlegte. Am liebsten wäre er aufgesprungen und hätte diesen Sesselfurzer mal ein paar passende Worte an den Kopf geworfen. Doch er erinnerte sich an die Worte seiner Therapeutin. Einfach Ruhe bewahren und langsam rückwärts zählen. Leichter gesagt, als getan.

»Uns interessiert in erster Linie, was Sie angestellt haben, nachdem Sie vor verschlossenen Türen standen.«

»Ich bin zu meinen Schwiegereltern gefahren und habe versucht, meine Frau zur Rede zu stellen. Aber sie wollte nicht mit mir sprechen.«

»Lag das vielleicht daran, dass Sie mit einer Kollegin, wie sagt man so schön, herumgemacht haben und Ihre Frau eventuell hinter die Affäre gekommen ist?«

Nettersheim zuckte die Schultern.

»Und selbst wenn, das ist immer noch Privatsache. Aber nein, ich habe mit niemandem aus meiner Abteilung herumgemacht, wie Sie das ausdrücken. Und erst recht keine Affäre mit Frau Breitner. Für mich ist Doro lediglich eine Kollegin. Wir hatten nie was miteinander und werden auch nie was miteinander haben. Sonst noch Fragen, oder kann ich jetzt endlich meinen Job tun?«

 

Braun erhob sich, ging ans Fenster und blickte hinaus auf den Parkplatz. Ausgerechnet Netterscheid, einer seiner besten Leute. Jemand, den man zu jeder Tages- und Nachtzeit aus dem Bett trommeln konnte, wenn es irgendwo brannte. Ein typischer Fulltime-Polizist. So jemand sollte nicht heiraten. Jedenfalls nicht, bevor er reif war für den Innendienst. Aber dann waren solche Typen meist nicht mehr fähig für soziale Bindungen. Der Medizinisch-Psychologische Dienst wusste ein Lied davon zu singen. Netterscheid war der klassische Beweis für seine Theorie. Eine Ehe war bereits in die Brüche gegangen, die andere stand anscheinend kurz davor.

Netterscheid reckte den Hals vor.

»Schluss mit lustig. Ich will eine Entscheidung. Hier und jetzt. Mache ich an dem Fall weiter, oder bin ich raus?«

Braun seufzte und deutete wortlos in Richtung Tür. Netterscheid erhob sich, warf dem Kerl von der Internen Ermittlung einen vernichtenden Blick zu und verschwand grußlos.

Neubauer runzelte die Stirn.

»Meinen Sie, das war eine kluge Entscheidung?«

Braun drehte sich zu ihm um.

»Haben Sie vielleicht einen besseren Vorschlag? Wenn ich Netterscheid von dem Fall abziehe, muss sich ein anderer Kollege erst mühsam einarbeiten, und soviel Zeit haben wir nicht. Berlin sitzt mir im Nacken.«

 

Nachdem Neubauer gegangen war, schickte Braun seinem Mitarbeiter eine SMS. Netterscheid sollte erneut bei seinem antanzen.

»Was gibt es denn jetzt noch?« fragte Netterscheid, als er die Tür zu Brauns Arbeitszimmer aufriss.

»Ich gebe Ihnen genau achtundvierzig Stunden«, meinte der Alte und deutete ihm gleichzeitig an, die schalldichte Tür hinter sich ins Schloss zu ziehen.

»Was wird hier eigentlich gespielt?« wollte Netterscheid wissen.

»Jemand torpediert mit aller Macht unsere Ermittlungen in dem vorliegenden Fall«, hob sein Vorgesetzter an. »Um wen es sich dabei konkret handelt, konten wir bisher noch nicht herausfinden. Auf jeden Fall geschah des Einschalten der Internen Ermittlung ohne mein Zutun. Ich gehe davon aus, dass Ihre Frau von Ihrem angeblichen Techtelmechtel mit Kollegin Breitner wohl kaum durch Zufall erfahren hat. Die Fotos sind allesamt getürkt. Erstklassige Arbeit, meinen die Kollegen in Wiesbaden. Wir haben es also keineswegs mit Amateuren zu tun.«

»Woher wissen Sie eigentlich von der Mail an meine Frau?«

»Die Polizeibeamten von der Godesberger Wache haben die Nachricht vom Handy Ihrer Frau heruntergeladen, weil sie etwas für die Akten brauchten. Zum Glück war einer der Männer so diensteifrig, und hat die Mail samt Anhang an uns geschickt. Vermutlich deshalb, weil man Ihnen so richtig eins auswischen wollte. Seien Sie froh. Dadurch war ich rechtzeitig informiert. Wie das allerdings die Interne so schnell spitz gekriegt hat, ist mir ein Rätsel.«

Nettersheim schnaufte.

»Und sowas sagen Sie mir erst jetzt? Soll ich für den Job auch noch meine Ehe riskieren?«

Der Alte verzog keine Miene.

»Dass Sie Eheprobleme haben, ist mir und der Internen Ermittlung längst bekannt. Kein Wunder bei einem Beamten, der ständig nur mit Volldampf unterwegs ist. Was denken Sie, warum ich Sie zu der Psychologin geschickt habe? Um Sie von der Arbeit abzuhalten? Blödsinn. Nur so konnte ich Sie überhaupt weiter im Außendienst behalten. Bei psychisch labilen Mitarbeitern wird der ärztlich-soziale Dienst im Innenministerium ziemlich schnell nervös. Bereits seit einem halben Jahr liegt mir die Personalabteilung in den Ohren, Sie endlich in den Innendienst zu versetzen. Alt genug wären Sie dafür.«

»Warum haben Sie es nicht getan?«

Der Alte verzog keine Miene.

»Weil ich Sie brauche. Zumindest im Augenblick. Bei Ihnen weiß ich wenigstens, dass ich mich jederzeit auf Sie verlassen kann.«

Netterscheid atmete tief durch. Welch ein mieses Spiel. Seine Dienststelle sah tatenlos zu, dass seine Ehe den Bach runter ging, und Doros Ruf schien für die offenbar auch nur sowas wie ein unvermeidbarer Kollateralschaden zu sein. Wortlos drehte er sich auf dem Absatz um und verließ Dr. Brauns Büro. Achtundvierzig Stunden, hatte der Alte gesagt. Die Uhr lief.

 

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Stefanie Michels schaute der Chefin der Trierer Kriminaltechnik kurz über die Schulter. Lydia Sartorius hatte die Email vom Rechner der jungen Staatsanwältin heruntergeladen und überprüfte den Datensatz mit einem speziellen Forensik-Programm. Auf ihrem Bildschirm tauchten blockweise Ziffern- und Buchstabengruppierungen auf. Nichts, mit dem Stefanie irgendetwas hätte anfangen können. Sie hatte Vergleichbares erst einmal gesehen. Als ihr erster Computer daheim von einem Virus befallen war und der Bildschirm auch nur noch kryptische Zeichenkaskaden anzeigte.

Ein erneuter Besuch in der Rechtsmedizin war ihr zum Glück erspart geblieben. Dort hatte man sich auch ohne erneute Intervention bereiterklärt, die Turnhallenleiche sofort nach der Überstellung gründlich zu untersuchen.

»Schon was Neues von der Gentechnik?« wollte sie wissen.

Lydia schüttelte den Kopf.

»Dr. Stein hat aber bereits signalisiert, dass die Rechtsmedizin entsprechend Druck macht, damit wir die Ergebnisse so rasch wie möglich erhalten.«

 

Während sich die Chefin der Kriminaltechnik erneut mit der Email beschäftigte, ließ Stefanie sich in den Besuchersessel zurückgleiten und überdachte die bisherigen Ermittlungsergebnisse. Inzwischen deutete alles darauf hin, dass sie es mit mehreren Tätern und dadurch mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit auch mit völlig unterschiedlichen Motiven zu tun hatten. Die Morde in Dessau und Grafenstein deuteten eindeutig auf einen Racheakt hin. Bis auf Luise Kahlert gehörten alle Beteiligten dem Personal der Strafanstalt Hoheneck an. Luise Kahlert saß dort seinerzeit zwar wegen Mordes ein, hatte sich jedoch mit wessen Hilfe auch immer zu einer Art Kalfaktor hochgearbeitet. Sie galt seinerzeit als besonders rigide gerade im Umgang mit politischen Gefangenen. Ihr tödlicher Verkehrsunfall war bestimmt nicht nur auf Unachtsamkeit zurückzuführen.

Bei dem Toten in der Turnhalle schien es um etwas anderes zu gehen. Gregor Weisz war strafrechtlich bisher noch nie in Erscheinung getreten. Er galt als weitgehend unbeschriebenes Blatt, sofern man von der Affäre mit den beiden Schulmädchen absah. Seine Schüler in Grafenstein schieden als Täter jedenfalls aus. Fünfzehnjährige kamen wohl kaum an Pentobarbital heran, und der einzige Apotheker in Grafenstein war um die Fünfzig und hatte auch längst keine Kinder im schulpflichtigen Alter mehr. Die Identität des Geländewagenfahrers, der die beiden Frauen von der Straße abgedrängt hatte, blieb genauso im Dunkeln wie dessen Motiv. Vielleicht handelte es sich ja doch um einen gewöhnlichen Verkehrsunfall mit Fahrerflucht.

Ihr Smartphone meldete sich.

»Wann ändern Sie eigentlich endlich mal Ihren Klingelton«, beschwerte sich Lydia. »Beethovens Neunte ist ja auf Dauer nicht auszuhalten. Wenn Sie wollen, erledige ich das für Sie. Sie müssen mir nur sagen ob Rock oder Hip-Hop.«

»Michels«, meldete sich Stefanie.

Zunächst vernahm sie nur ein Rauschen. In das Rauschen mischten sich Männerstimmen. Eine erkannte sie auf Anhieb. Es war die des Hauptkommissars.

»Schäfer? Sind Sie das? Was ist denn das für ein Lärm im Hintergrund?«

Den Geräuschen nach zu urteilen hockte Schäfer anscheinend in seinem luftgekühlten Boliden aus Zuffenhausen. Und zwar bei durchgetretenem Gaspedal.

Aus ihrem Smartphone kam ein krächzendes Lachen.

»Wir kommen gerade aus Nancy, waren dann noch in Metz und sind jetzt auf dem Weg zurück nach Trier.«

»Wer, wir?«

»Na, der Kroppke und ich.»

»Und was haben Sie in Nancy und Metz verloren?«

»Recherche, liebe Frau Staatsanwältin. Während ihr euch anscheinend nur um die Tante aus dem Yachthafen und den toten Oberlehrer kümmert, habe ich mal die Alibis der anderen Verdächtigen geprüft. Also, der Schröder war mit dem Rest seiner Schlägertruppe übers Wochenende tatsächlich auf einer Kundgebung des Front National. Ein Gastwirt in Nancy konnte das glaubhaft bestätigen. Schröder tauchte dort angeblich bereits in den frühen Abendstunden auf. Die Kundgebung muss übrigens ein Riesenaufmarsch gewesen sein. Neo-Nazis aus Belgien, Luxemburg und natürlich auch Deutschland. Vornehmlich die Borussen-Kameradschaft aus dem Ruhrgebiet. Sogar ein paar Briten waren mit von der Partie. Schröder hatte einen längeren Redeauftritt, und anschließend haben alle noch einen Zug durch die Gemeinde gemacht. Wenn Sie mich fragen, als Drahtzieher für die beiden Überfälle und den Brandanschlag auf die Disco fällt der komplett aus. Die Faschos hockten angeblich noch bis zum Morgengrauen beisammen.«

Mist, dachte Stefanie. Der wäre der Nächste auf ihrer Liste gewesen, den sie hätte festnageln wollen.

»Aber ich habe noch was für sie. Die beiden rumänischen Nutten sind wieder aufgetaucht.«

»Wo?« Stefanie war regelrecht elektrisiert. Endlich ein Anhaltspunkt.

»In Metz. Die arbeiten neuerdings in einem Puff in Hafennähe. Der Besitzer einer Strip-Bar in Trier gab mir den entscheidenden Tipp. Der Bordellbetreiber in Metz gab an, dass die Mädchen erst seit ein paar Tagen für ihn arbeiten würden. Das käme zeitlich in etwa hin. Offiziell vernehmen kann man die Damen allerdings nicht. Die Flics meinen, dafür bräuchten wir ein offizielles Amtshilfeersuchen. Bei denen in Frankreich läge jedenfalls nichts gegen die beiden Frauen vor. Und so ein Amtshilfeersuchen kann dauern, wie wir wissen.«

Stefanie seufzte. Zwei wichtige Tatzeugen, doch die befanden sich im Ausland.

»Haben Sie wenigstens was auf Lager, das meine allgemeine Stimmung heben könnte?«

Schäfer lachte.

»Ja, meine Spesenabrechnung. Fünfhundert Mäuse. Inklusive Mehrwertsteuer.«

»Wozu das denn?«

»Recherche.«

»Doch wohl nicht etwa im Bordell.«

»Ich musste ein bisschen meinen Charme spielen lassen. Sie wissen schon, den mit den zwanzig Zentimetern. Das lila Scheinchen trug allerdings mit dazu bei, nicht nur die Schamlippen der jungen Damen zu lockern. Dafür weiß ich jetzt endlich, wer die beiden auf den Balfelder angesetzt hat. Es war der Schröder, der alte Schleimbeutel. Hat den Mädels den lukrativen Job in Metz besorgt als Gegenleistung dafür, dass sie sich mit dem Gatten der Bürgermeisterin einlassen und dabei gleich ein hübsches Erinnerungsvideo drehen. So ein Schlingel! Und der geile Trottel fällt auch noch voll drauf rein.«

Stefanie Michels grinste. Schäfer mochte ein Machoarsch wie im Buche sein, aber wenn er was konnte, dann war das im Rotlichtmilieu recherchieren. Auf Metz als Unterschlupf für die beiden Prostituierten wäre sie ihr Lebtag nicht gekommen. Glückwunsch, wenn der demnächst wieder nach Mainz versetzt wurde. Allerdings würde sie ihm keine Träne nachweinen.

 

»Gute Nachrichten?« fragte Lydia.

»Kann man so sagen«, nickte die Staatsanwältin. »Aber was ist jetzt mit der Mail, die ich empfangen habe? Konnten Sie inzwischen herausbekommen, von wem die stammt?«

Lydia schüttelte den Kopf.

»Keine Chance. Die IP-Adresse, über die man die Mail verschickt hat, stimmt nicht. Angeblich stammt sie aus Nordamerika. Da hat jemand ein Tarnkappen-Programm vorgeschaltet. Vermutlich CyberGhost oder das Tor-Netzwerk.«

»Das heißt, wir bekommen nicht heraus, wer mir diese Mail geschickt hat?«

Lydia schüttelte den Kopf.

»Es ist praktisch unmöglich, den Weg zum Absender der Mail zurückzuverfolgen. Das sind ja auch Sinn und Zweck solcher Tarnkappen-Programme.«

»Kann man sowas nicht gesetzlich verbieten lassen?«

Lydia deutete auf den Telefonapparat.

»Rufen Sie im Justizministerium oder besser gleich bei der EU-Kommission an.«

»Und was machen wir jetzt?«

»Das überlasse ich Ihrer Phantasie. Leiten Sie die Mail von mir aus ans Finanzamt weiter. Ob die allerdings etwas unternehmen, erscheint mir mehr als zweifelhaft. Solche Kontoauszüge wie den hier fertigt Ihnen heutzutage jeder geübte Achtklässler mit einem simplen Dokumentenscanner und einem halbwegs guten Bildbearbeitungsprogramm an. Ich fürchte, bei der Steuerfahndung gehen täglich Hunderte solcher Mails ein. Stutzig macht mich eher die Wohnadresse. In Spa hat doch auch die Tote aus dem Yachthafen gelebt, nicht wahr? Hat Frau Balfelder vielleicht etwas mit dem Mordfall Leinfeld zu tun?«

Stefanie zuckte die Schultern.

»Nicht, dass ich wüsste. Ich habe einen ganz anderen Verdacht. Vermutlich versucht ein Trittbrettfahrer der Grafensteier Bürgermeisterin gehörig eins auszuwischen. Sagen Sie, Lydia, wenn ich den Computer vom Schröder beschlagnahmen lasse, können Sie dann herausfinden, ob der vielleicht als Absender infrage kommt?«

»Natürlich. Aber ehrlich gesagt warne ich vor solchen Aktionen. Falls dessen Rechner nämlich clean ist, stecken Sie anschließend ganz schön in der... Sie wissen schon, was ich meine. Der Mann ist schließlich Politiker, wenn auch nur ein ganz kleines Licht. Ich an Ihrer Stelle würde das dem BKA überlassen.«

 

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Berwang inmitten der Tiroler Alpen erreichten wir nach einer guten halben Stunde Fahrtzeit. Hotels, wohin man blickte, jede Menge Freizeitanlagen, ein typisch österreichischer Ferienort. Allerdings nur im Winter. Jetzt im Frühjahr wirkte das Nest praktisch wie ausgestorben. Vor fünfzig Jahren hätten sich hier angeblich Fuchs und Gans gute Nacht gesagt, wollte Miss Sophie wissen. Da sei man hier angeblich froh gewesen, wenn wenigstens einmal am Tag der gelbe Postbus vorbeikam.

Wir hatten in Bichlbach getankt und uns dort auch gleich nach abgelegenen Almhütten erkundigt, die ausschließlich von Sennerinnen bewirtschaftet wurden, doch nichts Genaues wusste man nicht. Das örtliche Fremdenverkehrsbüro machte da keine Ausnahme. Natürlich war es wieder die alte Dame auf der Rücksitzbank, die uns aus der Bredouille half. Sie hatte sich in das Tiroler Katasteramt eingeloggt und dort nach bewirtschafteten Almhütten in der Umgebung von Berwang gesucht. Die Auswahl war mager. Eigentlich kamen nur drei Hütten infrage, und die lagen zu allem Überfluss auch noch weit auseinander. Also hockten wir uns in ein Café und kamen mit dem Wirt ins Gespräch. Der zeigte sich gegen alle Gewohnheit in Plauderlaune. Nach kurzem Nachdenken meinte er, es gäbe da tatsächlich eine Alm weit oben in den Bergen, aber die sei nicht auf Touristen eingestellt, und eine Restauration würde man dort auch vergeblich suchen. Als wir ihn fragten, ob die Hütte von zwei älteren Frauen bewirtschaftet würde, nickte er traurig. Eine der beiden Sennerinnen sei unlängst verstorben, und die andere zu allem Überfluss auch noch ziemlich durcheinander. Jedenfalls ließ er seinen Zeigefinger mit deutlicher Geste vor der Stirn kreisen. Hin und wieder würde die Gemeindeschwester nach dem Rechten sehen, aber nicht oft, denn der Weg hinauf zur Alm wäre beschwerlich. Vermutlich läge dort oben momentan sogar noch Schnee. Ob man die Hütte mit einem Geländewagen erreichen könne, fragte Lena. Der Mann zuckte die Schultern. Wenn das Wetter sich hielte vielleicht, aber gleichzeitig deutete er auf die dunklen Wolken am Horizont. Besser wäre es, wir würden im Ort bleiben. Hier wäre es sowieso viel schöner als dort oben in der Wildnis.

 

»Das darf doch wohl nicht wahr sein!« schimpfte ich, als der Range Rover immer wieder mit dem Bodenblech aufsetzte. »Hätte ich hier jetzt bloß meinen Unimog.«

»Der würde uns auch nicht weiterhelfen«, meinte Lena. »Wo sollte denn Sophia deiner Meinung nach sitzen? Auf dem Getriebetunnel oder etwa hinten auf der Ladepritsche? Pass auf! Da ist kommt schon wieder so ein dämliches Loch!«

Ich seufzte und schaltete das Sperrdifferenzial hinzu. Das Getriebe begann eindrucksvoll zu mahlen, doch wenigstens kamen wir voran. Meter um Meter quälten wir uns den Berg hinauf. Die Beschaffenheit des Weges wurde auch immer schlechter. Eigentlich handelte es sich nur noch um einen schmalen Pfad. Links über uns nackte Felswand, rechts von uns ging es bestimmt hundert Meter steil bergab. Ich seufzte. Hoffentlich hielt der Range Rover durch. Eine Reifenpanne hätte mir hier oben gerade noch gefehlt, und an ein Umkehren war selbst mit intakten Pneus nicht zu denken. Kilometerweit im Rückwärtsgang bergab, und ich hätte meine Nackenmuskulatur anschließend in den Mülleimer schmeißen können.

»Hoffentlich ist dieses 'Nannerl' überhaupt daheim« meldete sich Sophia zu Wort.

»Der Wirt meinte, sie hätte die Alm schon seit Jahren nicht mehr verlassen. Muss ja eine seltsame Tante sein. Lebt dort oben abgeschieden von der Welt mutterseelenallein mit einer Freundin. Wer tut denn sowas?«

»Vielleicht jemand, der die Welt um sich herum vergessen möchte«, warf Lena ein. »Denk mal an die Nonnen. Die leben zuweilen auch vollkommen abgeschieden hinter ihren Klostermauern.«

»Aber doch nicht mehr heutzutage.«

»Hast du eine Ahnung«, pflichtete ihr Sophia bei. »Ich könnte dir da Geschichten erzählen... Obacht! Der Weg wird immer schmaler!«

Ich bremste abrupt. Schöner Mist! Inzwischen waren die beiden Fahrrinnen so schmal geworden, dass hier eigentlich nur noch ein Maultier gefahrlos weiterkam. Aber wollten wir tatsächlich so dicht vor dem Ziel aufgeben? Wäre ich alleine gewesen, hätte ich mich einfach zu Fuß aufgemacht, aber mit Lena im Rollstuhl und einer knapp Achtzigjährigen im Gefolge schien mir sowas eher aussichtslos.

»Okay«, seufzte ich. »Hat jeder die Prämien für seine Lebensversicherung bezahlt? Also, Augen zu und durch!«

Energisch gab ich wieder Gas. Die vier Antriebsräder drehten auf dem rutschigen Untergrund heftig durch. Gesteinsbrocken spritzen in die Tiefe. Aus den Augenwinkeln stellte ich fest, dass Lena die Augen geschlossen hielt. Tja, Rechtsanwälte waren halt nur in den seltensten Fällen geeignete Partner für Abenteuerexkursionen dieser Art. Ganz anders Miss Sophie. Sie ließ die Seitenscheibe herab und atmete geradezu gierig den Duft des Bergwaldes ein.

»Geschafft«, rief ich, als der Weg wieder ein wenig breiter wurde. Lena schlug die Augen auf.

»Das mache ich jedenfalls nicht nochmal. Sobald wir oben angekommen sind, lasse ich mich von einem Hubschrauber abholen. Ich bin doch nicht lebensmüde.«

»Ach, komm schon«, entgegnete ich. »Wo bleibt dein Pioniergeist? So schlimm war's nun auch wieder nicht.«

»Quatsch keine Opern, sondern fahr weiter.«

 

Von Berwang aus hatte es eine ganze Weile gedauert, bis wir die abgeschiedene Alm erreichten. Ein wildromantisches Plätzchen. Die einzigen Lebewesen, die einem hier oben begegneten, waren allenfalls Gamsböcke und ein paar Murmeltiere. Ich kam mir tatsächlich vor wie in einer anderen Welt. Wie konnte man es hier bloß jahrelang aushalten? Entweder, man war ein gesuchter Schwerverbrecher, oder man hatte aus einem anderen Grund mit der Gesellschaft abgeschlossen. In Anbetracht der Tatsachen tippte ich auf Letzteres. Hinter mir krabbelte Miss Sophie aus dem Range Rover. Sie streckte ihre müden Knochen und zückte ihr Tablet.

»Hier geht aber auch gar nichts«, beschwerte sie sich und ließ das Gerät wieder sinken.

»Sag bloß, du bist offline«, frotzelte ich. »So ein Jammer aber auch.«

Sophia schaute mich böse an.

»Wundert dich das angesichts dieser Einöde«, fügte ich hinzu und half gleichzeitig Lena in den Rollstuhl. »Wir sind hier schließlich nicht in deinem Neubauviertel.«

Die Almhütte selbst machte gar keinen so schlechten Eindruck. Eigentlich hatte ich erwartet, eine baufällige Bruchbude anzutreffen, doch das Anwesen war zwar alt aber leidlich gepflegt. Anscheinend hatte der eine oder andere aus dem Ort den beiden Frauen bei der Bewirtschaftung der Alm hin und wieder tatkräftig unter die Arme gegriffen. Die Hütte war aus dunklem Holz, auf dem Dach lagen schwere Steine, und an der wettergeschützten Seite hatte man Brennmaterial aufgeschichtet. Aus dem Kamin quoll eine bläuliche Rauchfahne. Wildromantisch, grunzte ich stumm vor mich hin. Genauso wie bei der legendären Geierwally.

 

Ich bugsierte Lenas Rollstuhl an einen schlichten Holztisch, der sich dicht neben dem Eingang befand, wartete, bis Sophia auf einer grob zusammengezimmerten Bank Platz genommen hatte und machte mich auf die Suche nach der Bewohnerin der Hütte. Die Tür war geschlossen. Höflicherweise klopfte ich zweimal an und drückte schließlich eine eiserne Klinke herunter. Drinnen duftete es nach Tanne und Kräutern. Unwillkürlich schaute ich zu Boden. Der bestand aus Holzdielen, ordentlich verlegt und anscheinend gerade erst gefegt. An den Wänden hingen Bilder und ein paar Jagdtrophäen und über der offenen Kochstelle Töpfe, Pfannen und Kellen. Irgendwie fühlte ich mich ins neunzehnte Jahrhundert zurückversetzt. Als hätte es nie Eisenbahn oder Flugzeuge gegeben, geschweige denn Mobiltelefon und Internet. In dieser Einöde lebten also tatsächlich Menschen. Und zwar nicht etwa zur temporären Selbstfindung, nein, auf Dauer. Wahnsinn! Ich jedenfalls wäre hier nach spätestens einer Woche verrückt geworden, Sophia vermutlich noch vor dem ersten Zubettgehen.

In einer Ecke des Raums stand eine Bank und ein Tisch, unmittelbar daneben führte eine Tür in einen weiteren Raum. Ich überlegte, ob ich ihn betreten sollte. Es war diese eigentümliche, geradezu andächtige Ruhe im Innern dieser Kate, die mich letztlich davon abhielt. Ich empfand es in diesem Moment als Sakrileg, in diesem Mausoleum herumzuschnüffeln.

Als ich wieder ins Freie trat, waren wir plötzlich zu viert. Mit am Tisch hockte eine ältere Frau. Sie mochte um die Sechzig sein, aber sie wirkte wesentlich älter. Beinahe so alt wie Miss Sophie. Mir war sofort klar, um wen es sich handeln musste.

»Hallo«, meinte ich zögernd.

Die Frau trug einen derben Pullover, einen Wollrock und schwere Bergstiefel. Ihre schneeweißen Haare hatte sie im Hinterkopf ordentlich zu einem Zopf geflochten. Ihr Gesicht war von Sonne und Wind gegerbt, die Hände schrundig und knochig. Sie schaute mich neugierig an, allerdings kam keine Silbe über ihre Lippen.

»Nannerl?« wollte ich wissen.

»Das haben wir sie auch schon gefragt«, meinte Lena. »Sie antwortet nicht.«

Ich setzte mich neben die Alte. Die Frau folgte zwar aufmerksam jeder meiner Bewegungen, aber sie schwieg beharrlich. Mir kam es beinahe so vor, als wären wir die ersten Fremden, die sie seit langer Zeit zu Gesicht bekam.

»Grüß Gott, Nannerl«, versuchte ich erneut mein Glück. »Wie geht es Ihnen?«

Die Frau lächelte und zeigte mir dabei ein Gebiss, bei dessen Anblick jedem Kieferorthopäden der Atem gestockt hätte. Himmel, dachte ich bei mir. Bald kaute die Alte ja auf den Felgen! Andererseits, was hieß hier 'Alte'? Die Frau war mindestens fünfzehn Jahre jünger als Miss Sophie, aber die konnte vermutlich immer noch jede Bierflasche mit ihren Schneidezähnen aufknacken.

 

»Wir sind gekommen, um Ihnen unser Beileid auszusprechen«, plapperte ich munter drauflos. »Sie haben doch hier oben mit Margarete zusammengelebt, nicht wahr?«

Der Blick der Frau richtete sich auf mich. Gleichzeitig legte sie ihre Hände in meine und drückte sie. Ihre Augen nahmen einen seltsam feuchten Glanz an.

»Entschuldigung, ich wollte nicht...«

Für einen kurzen Moment rannen Tränen über ihre faltigen Wangen, doch schon kurze Zeit später riss sie ihre rechte Hand nach oben und wischte sich energisch über das Gesicht. Dann schaute sie mich an. Ihr Blick wirkte fest. Erst jetzt fiel mir auf, dass sie mich immer noch mit ihrer linken Hand festhielt.

»Ich bin Hagen, und das hier sind Lena und Sophia. Wir kommen von weit her. Aus Grafenstein. Das liegt in Deutschland. Ein kleiner Ort an der Mosel.«

Die Augen der Frau schienen förmlich an meinen Lippen zu kleben. Langsam wurde mir unwohl in meiner Haut. Mit angehenden Pflegefällen hatte ich bisher noch nie etwas zu tun gehabt. Sophia war zwar deutlich älter als meine Sitznachbarin, aber gegen diese Kräuterhexe hier wirkte unsere ehemalige Dorfschullehrerin beinahe wie ein junger Hüpfer. Ich löste meine Hände aus ihrer Umklammerung und warf den Anderen einen ratlosen Blick zu.

»Ich fürchte, wir sind umsonst hierher gefahren.«

»Abwarten«, entgegnete Sophia. Nun ergriff sie die Hände der Frau.

»Wollen Sie nicht mit uns sprechen, oder können Sie nicht?«

Das 'Nannerl' schaute Sophia mit großen Augen an. Plötzlich erhob sie sich und verschwand im Innern der Hütte. Nach einer gefühlten Ewigkeit kehrte sie wieder zurück. Sie trug ein Tablett mit Gläschen und eine Flasche ohne Etikett im Arm. Sophias Mundwinkel zogen sich sofort in Richtung Norden. Das wurde auch langsam Zeit!

Die Sennerin schenkte uns ein und wartete, bis wir wenigstens mal genippt hatten. Dann setzte sie das Gläschen an die Lippen und kippte den Inhalt mit einem Schluck herunter. Wir taten es ihr gleich. Lena schüttelte sich. Sogar Sophia musste keuchen. Mir war schlagartig klar, um was es sich handelte. Selbst gebrannter Kräuterschnaps mit mindestens fünfzig Prozent Alkohol. Eine Flasche auf ex, und man war blind wie ein Maulwurf. Doch das 'Nannerl' schien immer noch gut sehen zu können. Eine Brille brauchte sie jedenfalls nicht. So schlimm konnte das Zeug also nicht sein. Als sie die Flasche erneut in die Höhe hielt, reckte nur Sophia ihr den Arm entgegen. Lena deckte ihr Gläschen vorsorglich mit der Hand zu. Ich tat dasselbe.

»Muss noch fahren«, meinte ich mit Blick auf den Range Rover.

 

Unsere Gastgeberin runzelte die Stirn und deutete zum Himmel. Tatsächlich, inzwischen hatten sich die Wolken zu einer dunklen Wand zusammengezogen. Nicht mehr lange, und es würde ein Unwetter geben. Ich hatte den Gedanken kaum zu Ende geführt, als auf der gegenüberliegenden Bergseite der erste Blitz in eine Tanne fuhr und ein krachender Donnerschlag folgte. Die Sennerin erhob sich in aller Seelenruhe, verschwand hinter der Hütte und kam, nachdem wir längst vor dem einsetzenden Gewitterschauer in der Hütte Zuflucht gesucht hatten, in aller Seelenruhe mit ein paar Ziegen zurück. Ohne irgendeine Hast schob sie die Tiere in einen Unterstand und betrat anschließend ihr Domizil. Dass sie völlig durchnässt war, schien sie kein bisschen zu irritieren. Oder aber sie nahm es gar nicht wahr.

Nannerl deutete uns an, auf der Bank unmittelbar neben der Tür zum Nachbarraum Platz zu nehmen. Gleichzeitig stellte sie eine schwere gusseiserne Pfanne auf den Herd und schlug acht Eier hinein. Anschließend nahm sie einen Schinken aus dem Kamin, schabte mit flinken Fingern dünne Streifen herunter, schnitt duftende Pfifferlinge in schmale Streifen und hobelte mit einem Wiegemesser allerlei Wildkräuter, die in Büscheln an der Wand hingen, in winzige Stücke. Mit einem Messer, das von der Klingenlänge eher einem Bajonett ähnelte, säbelte sie vier fingerdicke Scheiben von einem mächtigen Brotlaib ab. Inzwischen waren die Rühreier fertig gebraten. Sie nahm den Pfanneninhalt und verteilte gleich große Portionen über die Brote. Nannerl fischte noch zwei Flaschen Bier aus einem Kühlkasten und schenkte uns ein. Ich probierte die einfache Vesper und schloss die Augen. Auch Lena und Miss Sophie seufzten. Ich hatte sowas Ähnliches schon einmal gegessen. Vor gar nicht langer Zeit. Bei mir daheim auf dem Weingut. Allerdings ohne frische Pfifferlinge, denn die gab es beim Balfelder nur alle Jubeljahre. Teufel, aber auch!

Als wir aufgegessen hatten, erhob sich Sophia, um abzuräumen. Unsere Gastgeberin winkte energisch ab, doch Sophia ließ sich nicht beirren.

»Das hat ganz phantastisch geschmeckt, meine Liebe, aber jetzt sind wir mal an der Reihe. Wo kann man bei Ihnen spülen?«

Nannerl packte ihren Arm und zog sie mit energischem Griff zurück auf ihren Sitzplatz.

»Okay, dann eben nicht«, seufzte Sophia ergeben.

 

Kurz darauf verzog sich das Gewitter genauso schnell, wie es aufgezogen war, und unser Damenkränzchen zog es wieder hinaus ins Freie. Ich hingegen blieb ich noch eine Weile sitzen. Die Gastgeberin schien das in keiner Weise zu stören, obwohl wir doch eigentlich Wildfremde für sie waren. Da die Holzscheite im Feuer fröhlich vor sich hin knackten und dabei einen appetitlich herben Duft verbreiteten, griff ich automatisch nach meinen Moods. Was für eine Woche! Karl taucht nach dreißig Jahren urplötzlich auf. Dann liegt eine Tote bei uns im Yachthafen, kurz darauf sterben Marianne und Gregor. Margarete überlebt den Verkehrsunfall selbst nur durch ein Wunder. Alles Zufall? Inzwischen ein paar Zufälle zuviel, wie mir schien. Seit knapp einer Woche ging bei uns in Grafenstein alles drunter und drüber, und niemand schien auch nur ansatzweise eine Idee zu haben, wer dabei alles seine Hände im Spiel haben mochte.

Ich schnippte die Asche meines Zigarillos ins Feuer und lief ein paar Mal auf und ab. Schließlich blieb ich vor der Tür stehen, hinter der sich der Raum befand, den ich bisher noch nicht betreten hatte. Ich atmete tief durch und drückte die Klinke herunter. Es schien das Schlafzimmer zu sein. Jedenfalls konnte ich ein breites Bett, einen bunt bemalten Bauernschrank und eine reichlich verzierte Kommode entdecken. Beide Betthälften waren ordentlich gemacht. Auf den ersten Blick schien es so, als würden hier regelmäßig zwei Personen schlafen. Neugierig öffnete ich den Schrank und die Schubladen der Kommode. Pullover, Röcke, Blusen, Unterwäsche. Frauenklamotten halt. Ein weiteres Bett gab es in der Hütte nicht. Ob Nannerl und Margarete Sandhoff etwa ein Paar gewesen waren? Auszuschließen war das nicht, denn viele Männer hatten sich im Laufe der vergangenen Jahre bestimmt nicht in diese Einöde verirrt.

Ich drehte mich herum. Unwillkürlich blieb mein Blick an der Wand über dem Kopfteil des Bettes haften. Ich schaute genauer hin. Dort war mit einer einzigen Reißzwecke ein Foto angeheftet. Es zeigte das Gesicht einer etwa dreißigjährigen Frau. Heute weiß ich nicht mehr, wie lange ich dieses Bild angestarrt hatte. Eine Minute, eine Stunde? Die junge Frau auf dem Bild kannte ich nur zu gut.

 

Als ich dann irgendwann ins Freie stürzte, holte ich erst einmal tief Luft. Verdammte Scheiße, fuhr es mir durch den Kopf. Was ging hier eigentlich vor?

»He, was ist mit dir los?« wollte Lena wissen. »Du siehst aus, als wäre dir gerade ein Gespenst begegnet.«

»So ähnlich«, murmelte ich und starrte in den wolkenverhangenen Himmel. Ich wusste nicht mehr, was ich überhaupt noch denken sollte. Ein Verdacht löste den anderen ab, und jeder war absurder als der andere.

Irgendwann ergriff Sophia meine Hand.

»Was ist los, Bub?«

»Keine Ahnung. Irgendetwas stimmt hier nicht.«

»Was meinst du damit?«

Wortlos zog ich sie in den Schlafraum der Hütte und deutete auf das Bild über dem Kopfteil. Sophia runzelte erwartungsgemäß die Stirn.

»Du siehst richtig«, meinte ich nur. »Aber jetzt verrate du mir bitte, wie ausgerechnet ein Foto von Marianne in diese gottverlassene Hütte kommt.«

 

 

 

 

Kapitel 18

 

 

Mit leisem Glockenton meldete das Email-Programm den Eingang einer neuen Nachricht. Es handelte sich um den Bericht der Rechtsmedizin samt der Ergebnisse der Speichelproben. Lydia überflog die Diagramme und Zahlenkolonnen und glich im Anschluss die Codes mit denen der nationalen Gendatenbank ab. Keine Übereinstimmung. Jedenfalls stand damit fest, dass keiner der Probanden irgendwann einmal ernsthaft mit dem Gesetz in Konflikt geraten war.

Sie stand auf, ging an den Kaffeeautomaten und ließ einen doppelten Espresso in eine Tasse laufen. Anschließend verriegelte sie die Bürotür, ging zurück an ihren Schreibtisch und nahm einen kräftigen Schluck. Nun kam der heikle Teil ihrer Untersuchung, denn der war illegal. Gegen die ausdrückliche Anweisung der Staatsanwaltschaft würde sie trotzdem einen Genabgleich zur Feststellung des Verwandtschaftsgrades nicht nur unter den Probanden sondern auch zwischen den Probanden und den Tatopfern vornehmen. Falls man sie dabei erwischte, konnte sie am darauffolgenden Tag ihre Papiere abholen. Bei sowas verstand Vater Staat zumindest in Rheinland-Pfalz überhaupt keinen Spaß. Allerdings würde sie die Ergebnisse anschließend ohnehin vernichten. Sie wollte einfach nur Gewissheit haben. Auch wenn es zehnmal illegal war.

Nachdem der letzte Zweifel ausgeräumt schien, lehnte sie sich zufrieden in ihren Sessel zurück. Auf ihrem Schreibtisch stapelten sich inzwischen die Espressotassen. Immer wieder starrte sie auf die verschiedenen Genabgleiche, die das Computerprogramm nach und nach erstellt hatte. So war zum Beispiel Max Balfelder nicht der leibliche Sohn von Stefan Balfelder. Die Bürgermeisterin musste vor gut sechzehn Jahren irgendwann einmal ein Auswärtsspiel gehabt haben. Aber das war deren Problem. Der Erazer löschte die Daten per Mausklick unwiderruflich von ihrem Dienstrechner. Was ging schließlich die Öffentlichkeit das Liebesleben der Bürgermeisterin einer verschlafenen Landgemeinde an?

Auch zahlreiche andere Datensätze löschte sie sofort von den Datenträgern. Die Übereinstimmung der genetischen Kerninformationen lag im Nullkomma-Prozentbereich. Aber es gab auch verblüffende Korrelationen. Drei Proben ergaben mit über neunundneunzigprozentiger Sicherheit eine genetische Übereinstimmung. Drei Personen waren ohne Zweifel miteinander verwandt.

Über Lydias Mundwinkel huschte ein Lächeln. Sie hätte nicht unbedingt darauf wetten mögen, aber zumindest in einem Fall hatte sie mit einem entsprechenden Ergebnis insgeheim gerechnet. Vor zwei Jahren war Marianne schwer erkrankt und benötigte eine Bluttransfusion. Ein Blutgruppentest führte zu dem Ergebnis, dass Kurt und Claudia Schäfer keinesfalls ihre leiblichen Eltern sein konnten. Marianne stellte sie daraufhin zur Rede. Ihre Eltern erklärten, sie vor etwa neunundzwanzig Jahren als Pflegekind angenommen und später adoptiert zu haben. Das sei eine Herzensangelegenheit gewesen, da sie sich schon immer eine Tochter gewünscht hatten. Und ausgerechnet im Zuge dieser Mordermittlung stellte sich heraus, dass einer der Probanden Marianne Schäfers leiblicher Vater sein musste. Was für ein Schicksal. Sie war tot, der Mann vermutlich vollkommen ahnungslos. Eigentlich hätte sie jetzt die Staatsanwaltschaft informieren müssen, doch ihre Erkenntnisse waren illegal erworben und damit ohnehin nicht gerichtsverwertbar. Auf dem Bildschirm befand sich ein allerletzter Datenabgleich. Für den aktuellen Fall war das Ergebnis von keinerlei Bedeutung, im Leben der Betroffenen würde jedoch vermutlich kein Stein auf dem anderen bleiben, sollten sie jemals von ihrem Verwandtschaftsverhältnis erfahren. Ein nachsichtiges Lächeln huschte über Lydias Mundwinkel. Der Erazer tat ein letztes Mal seine Pflicht. Kein Wiederherstellungsprogramm würde die gelöschten Datensätze je wieder rekonstruierenm können. Das Gutmann-Verfahren überschrieb sie sechsunddreißgmal mit sinnlosen Zeichen. Aber bei ihr war das Geheimnis ohnehin gut aufgehoben.

 

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Nach der Unterredung mit Dr. Braun begab sich Netterscheid zum Brainstorming mit den Leuten aus seiner Abteilung. Klaus und Doro hatten bei der Überprüfung der Tatverdächtigen und Opfer gute Arbeit geleistet. Aus ihren Dossiers ergaben sich ein paar völlig neue Denkansätze. Allem Anschein nach war die Tote aus dem Yachthafen alles andere als ein unbeschriebenes Blatt.

Erna Leinfeld, geborene Kosinsky, vor der Wende stramme Volksgenossin und Oberleutnant des Staatssicherheitsdienstes, war die Witwe eines wohlhabenden Unternehmers, der kurz nach der Heirat bei einer Gebirgswanderung angeblich auf dramatische Weise ums Leben kam. Netterscheid konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Vielleicht hatte sie ihren frisch Angetrauten ja doch selbst in den Abgrund geschubst, wie seinerzeit hinter vorgehaltener Hand kolportiert wurde. Schließlich galt sie als Alleinerbin, und den geplanten Börsengang der Firma hatte sie mit allen in ihrer Macht stehenden Mitteln zu verhindern versucht. Auf jeden Fall interessierte ihn brennend, warum der Erlös aus dem anschließenden Verkauf des Unternehmens ausgerechnet in eine ausländische Stiftung floss, deren Vermögen auf Luxemburger Konten lag. Mit soviel Geld hätte Erna Leinfeld bequem bis an ihr Lebensende irgendwo an der französischen Riviera in Saus und Braus leben können. Die Fondation pour l'histoire moderne, eine Stiftung für die Aufarbeitung neuzeitlicher Geschichte, war eindeutig ein Scheinunternehmen. Keines der veröffentlichten Stiftungsprotokolle deutete auch nur ansatzweise auf die Finanzierung irgendeines Forschungsprojekts hin. Die Stiftung verfolgte offenbar nur einen einzigen Zweck: das Parken und gelegentliche Auszahlen von Vermögensteilen. Und zwar so, dass der deutsche Fiskus nichts davon mitbekam.

 

Netterscheid verschränkte die Arme im Nacken und überdachte die bisherigen Ermittlungsergebnisse. Dreh- und Angelpunkt in dem vorliegenden Fall war für ihn nach wie vor das Weingut an der Mosel. Kurz vor Erna Leinfelds Tod tauchte dort für alle Beteiligten mehr als überraschend Brenners verschollen geglaubter Onkel auf. Ein Mann mit bewegter Vergangenheit. Der ehemalige Regierungsbeamte im Wirtschaftsministerium saß nach gescheiterter Fluchthilfeversuch für mehrere Jahre in Bautzen ein, wurde freigekauft und im Westen wegen angeblicher Spionage für die DDR gleich wieder eingesperrt. Nach Verbüßen der Haftstrafe dann völliger Absturz, Alkoholsucht, Aufenthalt in einer Entzugsklinik, anschließend Wohnortswechsel in die Provence. Inzwischen französischer Staatsbürger. Was hatte der auf einmal in Grafenstein verloren? Wirklich nur mal kurz den Neffen besuchen? Nach so langer Zeit? Fraglich.

Schließlich gab die Rolle dieser Marianne Schäfer einige Rätsel auf. Geboren im Osten, adoptiert von zwei strammen SED-Genossen, siedelte sie mit ihren Zieheltern Anfang der Neunzigerjahre in den Westen über. Von ihrer Adoption selbst erfuhr sie angeblich durch Zufall. Aus unerfindlichen Gründen nimmt sie auf dem Weingut von Hagen Brenner eine Halbtagesstelle an, angeblich, um sich beruflich weiterzuentwickeln. Unwahrscheinlich, denn Marianne Schäfer hatte Betriebswirtschaft studiert und leitete bis dahin ziemlich erfolgreich die Geschäfte des prosperierenden Erntebetriebs ihrer Altvorderen. So jemand gab sich doch nicht aus buchstäblich heiterem Himmel mit einem schlecht bezahlten Halbtagsjob zufrieden. Auf jeden Fall musste sie Kontakt zu Erna Leinfeld gehabt haben. Anders ließen sich die Hautpartikel unter den Fingernägeln der Toten, die eindeutig Marianne Schäfer zuzuordnen waren, nicht erklären.

Ein noch größeres Rätsel gab Marianne Schäfers Bekannte auf. Die beiden Frauen hatten sich dem Vernehmen nach erst vor ein paar Wochen über ein Internetforum kennengelernt. Woher Margarete Sandhoff stammte, was sie ausgerechnet nach Grafenstein verschlug, das lag bisher noch im Dunkeln. Ausweispapiere hatte man bei der Schwerverletzten jedenfalls nicht gefunden. Ihr Leihwagen war auf den Namen Cornelia Bergman registriert. Die Schreibweise des Nachnamens ließ den Schluss zu, dass die Dame eventuell aus dem nordeuropäischen Raum stammte. Ermittlungen über Europol liefen bereits. Jedenfalls würde das Unfallopfer, sobald es vernehmungsfähig war, BKA und Staatsanwaltschaft eine Menge zu erklären haben.

Wie Gregor Weisz in den Reigen passte, war ihm ebenfalls ein Rätsel. Fest stand nur, dass der tot aufgefundene Rektor der Grafensteiner Realschule am Vorabend des Verkehrsunfalls ebenfalls Gast auf Hagen Brenners Weingut gewesen war. Wesentlich interessanter erschien jedoch Weisz' an zahlreichen Stellen geschwärzte Stasi-Akte. Dass ein offenbar ehemaliger Informeller Mitarbeiter in einem westlichen Bundesland Realschulrektor werden konnte, ließ nur den Schluss zu, dass der Mann entsprechend protegiert worden sein musste. So jemand hätte es normalerweise nicht einmal zum angestellten Grundschullehrer geschafft, geschweige denn wäre es ihm gelungen, eine hoch dotierte Beamtenlaufbahn einzuschlagen. Man sollte mal die Verantwortlichen im Mainzer Kultusministerium oder zumindest die Schulaufsichtsbehörde in Trier unter die Lupe nehmen.

 

»Gute Arbeit«, brummte Netterscheid und nickte dabei Klaus Baumann aufmunternd zu. »Besonders die Recherchen im Zusammenhang mit dieser merkwürdigen Stiftung. Wie bist du eigentlich darauf gekommen?«

»Zufall«, antwortete Baumann. »Beim Namen Leinfeld läuteten bei mir sofort ein paar Glocken. Mein älterer Bruder wollte Mitte der Neunziger anlässlich des Börsengangs Aktien der Firma zeichnen. Er hatte dafür sogar sämtliche seiner Bundesschatzbriefe verkauft. Himmel, war der damals sauer, als der Börsengang in buchstäblich letzter Minute abgesagt wurde.«

»Und was hat er mit der Knete anschließend angestellt?«

»Er ist am Neuen Markt eingestiegen«, grinste Baumann. »Hat bis zum Anfang des Milleniums ein Vermögen gescheffelt. Lebt heute mit seiner Freundin irgendwo in Miami. Leider sehen wir uns deshalb kaum noch.«

Doro grunzte verächtlich. Es war landläufig bekannt, dass die Forensikerin in Netterscheids Team Börsenspekulanten eher skeptisch gegenüberstand.

»Der mysteriöse Tod des Firmengründers«, fuhr Baumann fort, »war seinerzeit Thema in der Wirtschaftspresse. Man hatte zunächst die Witwe in Verdacht. Da sie allerdings den Verkaufserlös in eine Stiftung einbrachte und auch weder durch wüste Champagnerpartys noch durch dekadentes Charity-Gehabe auffiel, legte sich die Aufregung ziemlich schnell. Irgendwann wurde es dann ganz still um sie. Kein Wunder, wenn man in der belgischen Walachei ein Dreizimmer-Appartement bewohnt und offenbar nur zum Shoppen im Supermarkt die eigenen vier Wände verlässt.«

 

»Was haben wir?« zog Netterscheid ein erstes Resümee. »Einen ehemaligen weiblichen Stasi-Offizier, die kurz nach der Wende auf wundersame Weise einen ziemlich wohlhabenden westdeutschen Unternehmer kennenlernt, diesen heiratet und sich von ihm kurze Zeit später zur wohlhabenden Witwe machen lässt. Nach dessen Tod zieht sie nach Belgien, wohnt dort in bescheidenen Verhältnissen, verwaltet jedoch gleichzeitig ein Stiftungsvermögen in dreistelliger Millionenhöhe. Ich habe noch nie davon gehört, dass ehemalige Stasi-Mitarbeiter so mir nichts dir nichts zu uneigennützigen Mäzenen der Geschichtsforschung mutieren. Da sollten wir dringend mal ansetzen. Doro?«

Die Forensikerin hob den Kopf.

»Als Tatwaffe kommt eine Neunmillimeter Parabellum infrage, dieselbe Waffe, mit der kurz vorher Dr. Jochen Kohn in Dessau umgebracht wurde. Er und die Leinfeld gehörten seinerzeit zum wenig empathischen Personal der Haftanstalt Hoheneck. Genauso wie die rechtskräftig verurteilte Mörderin Luise Kahlert, einen zur Gewalt neigenden weiblichen Kalfaktor. Sie starb kurz nach Dr. Kohn an den Folgen eines tödlichen Verkehrsunfalls. Nächste Parallele: Luise Kahlert und Marianne Schäfer fanden durch Verkehrsunfälle mit Fahrerflucht den Tod.«

Baumann runzelte die Stirn.

»Du glaubst, die Todesfälle hängen zusammen?«

»Ich glaube gar nichts«, winkte Doro ab. »Ich bin Forensikerin, mein Freund, und nicht das Orakel von Delphi. Ich weise lediglich auf eventuelle Übereinstimmungen hin. Und damit wären wir auch gleich bei der nächsten Auffälligkeit. Kurz vor Dr. Kohns Ermordung verstarb in der Seniorenresidenz Karl Liebknecht auf Rügen ein gewisser Dr. Egon Lenz. Als leitender Mitarbeiter der Abteilung XIV Zentrale Gefängnisverwaltung unterstand Genosse Lenz auch der medizinische Dienst. Lenz starb angeblich an Herzversagen.«

»Angeblich?«

»Lenz war zwar debil, besaß jedoch trotz seiner fünfundachtzig Jahre eine relativ gute körperliche Konstitution. Typ Erich Mielke. Unbelehrbar, unkaputtbar. So jedenfalls die durchaus glaubwürdige Einschätzung seiner beiden Nichten. Der Aufenthalt in der Seniorenresidenz Karl Liebknecht überstieg jedoch, wie ich nebenbei erfuhr, ganz eindeutig seine finanziellen Möglichkeiten. Die Verwaltung des Hauses wollte allerdings nicht ums Verrecken damit herausrücken, wie Dr. Egon Lenz seinen kostspieligen Aufenthalt zu finanzieren vermochte.«

»Vielleicht ein Zuschuss der beiden Nichten?«

»Die hassten den Alten wegen seiner Stasi-Vergangenheit wie die Pest. Jedenfalls hätten sie niemals auch nur einen müden Euro für ihn krumm gemacht. Allerdings stellt der Server in der Verwaltung der Seniorenresidenz kein großes Hindernis dar. Als Zugangspasswort benutzen die 'erichhonecker'. Man glaubt es nicht. Wir sollten bei Gelegenheit mal den Datenschutzbeauftragten in Schwerin informieren.«

»Mach's nicht so spannend«, meinte Netterscheid. »Wer also ist der edle Spender?«

Doro antwortete nicht, sondern begann mit den Armen ein imaginäres Streichorchester zu dirigieren.«

»Nee, ne?« schnaufte Baumann.

»Aber sowas von. Für die Unterbringung von Egon Lenz gingen in der Seniorenresidenz Karl Liebknecht alljährlich sechzigtausend Euro ein. Überwiesen vom Direktorium der Fondation pour l'histoire moderne in Spa. Das haut ungefähr hin, denn ein Einzelzimmer mit Fullltime-Betreuung kostet im Karl-Liebknecht-Haus rund fünftausend Euro im Monat. Lenz brauchte also nicht mal seine Pension anzutasten.«

Netterscheids Smartphone begann auf der Tischplatte zu vibrieren. Aber nur ganz kurz. Ein Zeichen dafür, dass lediglich eine Textnachricht eingegangen war. Es handelte sich um eine Email der Trierer Staatsanwältin. Mit wenigen Mausklicks übertrug er die Nachricht auf seinen Dienstrechner und drehte anschließend seinen Bildschirm so, dass Doro und Baumann bequem mitlesen konnten.

»Was sagt man dazu«, brummte die Forensikerin.

»Langsam wird die Sache tatsächlich unübersichtlich«, pflichtete ihr Netterscheid bei. »Was hat denn die Bürgermeisterin einer unbedeutenden rheinland-pfälzischen Landgemeinde mit derselben Luxemburger Bank zu schaffen, über die auch die Fondation pour l'histoire moderne ihre mehr als zweifelhaften Geldgeschäfte abwickelt? Und wieso ist auf dem Kontoauszug von Frau Balfelder ausgerechnet die Postanschrift der verstorbenen Erna Leinfeld angegeben? Für mich sieht das jedenfalls so aus, als ob ihr da lediglich einer gehörig ans Bein pinkeln möchte.«

»Vielleicht hilft uns in diesem Zusammenhang weiter, dass Melanie Balfelder, geborene Sawatzky, vor der Wende in der Gefängnisverwaltung von Hoheneck beschäftigt war«, schmunzelte Doro. »Da sie jedoch anscheinend nie offiziell für die Staatssicherheit gearbeitet hat, warf man ihr beim Eintritt in den Öffentlichen Dienst auch keine Knüppel zwischen die Beine. Möglich, dass bei ihrer ersten West-Anstellung im Standesamt Stollberg und anschließend im Einwohnermeldeamt Berlin trotzdem die einen oder anderen Hüter der dunklen Seite der Macht ihre Beziehungen haben spielen lassen. Interessant ist auch, dass in der Stasi-Unterlagenbehörde keine Akte über sie existiert. Seltsam für eine Frau, die in der ehemaligen DDR in einem berüchtigten Frauenknast beschäftigt war. Jedenfalls arbeitete sie sich in Berlin ziemlich rasch empor, siedelte 1997, nachdem sie, wie die Gerüchteküche in der dortigen Bezirksverwaltung zu wissen glaubt, von einem Kollegen schwanger geworden war, nach Grafenstein über, heiratete kurz darauf Stefan Balfelder und bewarb sich kurze Zeit später auf die gerade vakant gewordene Bürgermeisterstelle. Bilderbuchkarriere für eine Ossi-Frau. Wenn ihr mich fragt, ist da in hohen Dosen Vitamin B gespritzt worden. Und zwar intravenös.«

 

»Na, schön«, meinte Netterscheid. »Aber lassen wir das erst einmal. Es gibt noch andere Baustellen. Wissen wir eigentlich Näheres über die Todesursache im Fall Weisz? Was sagt die Rechtsmedizin?«

»Kam rein, als Sie vorhin beim Chef waren«, murmelte Baumann und klickerte auf der Tastatur seines Rechners herum. »Todeszeitpunkt zwischen ein Uhr und zwei Uhr in der Frühe, Todesursache Verabreichung von Natrium-Pentobarbital. Ein Mittel, das eigentlich in der Veterinärmedizin zur Betäubung von Großtieren eingesetzt wird. Neuerdings wird das Zeug auch für den schmerzlosen Suizid verwendet. Schweizer Selbsthilfegruppen stellen es ihren Kunden zur Verfügung. Die Verletzungen am Kehlkopf entstanden postmortal. Weisz hat zwar möglicherweise Selbstmord begangen, allerdings keinesfalls mit dem Strick. Bei seiner anschließenden Hängepartie wurde jedenfalls von dritter Seite kräftigst nachgeholfen.«

»Steht da auch, ob sich das Gift in der Weinflasche befand, die wir in seinem Wagen gefunden haben?«

Baumann schüttelte den Kopf.

»Negativ. Der Inhalt der Flasche ist absolut clean. Nach Ansicht des Rechtsmediziners wurde bei der Verabreichung des Gifts auch keine körperliche Gewalt angewendet. Auf der Kleidung des Toten befinden sich jedenfalls keine Spuren von Pentobarbital. Möglich, dass ihm jemand unbemerkt den Giftcocktail gemischt und er davon gar nichts mitbekommen hat. Weisz hatte schließlich fast zwei Promille Alkohol im Blut. Man braucht auch nicht viel von dem Zeug. Fünfzehn Gramm reichen normalerweise aus, um bei einem Menschen den Tod herbeizuführen.«

»Das lässt zwei Schlussfolgerungen zu«, zog Netterscheid ein erstes Resümee. »Entweder, jemand hat dem Weisz das Mittel noch bei vollem Bewusstsein eingeflößt. Dabei müsste es sich um einen Bekannten oder eine Bekannte handeln, sonst hätte er sich selbst im betrunkenen Zustand bestimmt gewehrt, und dann gäbe es Abwehrspuren. Aber welcher seiner Bekannten oder Kollegen trifft sich ausgerechnet gegen ein Uhr in der Frühe mit einem sternhagelvollen Realschulrektor in einer Turnhalle, flößt ihm Pentobarbital ein, um ihn anschließend auch noch aufzuhängen? Das ergibt doch keinen Sinn. Die zweite Möglichkeit wäre einleuchtender. Der Weisz schluckt in seinem Wagen selbst das Pentobarbital, um seinem trübseligen Leben ein Ende zu setzen, ein Dritter sieht ihn in seinem Wagen liegen, riecht nur dessen Alkoholfahne und beschließt, den in seinen Augen Hilflosen elegant und zudem auch noch spektakulär aus dem Weg zu räumen. Er oder sie schleppt ihn in die Turnhalle, baut das Reck auf und hängt ihn an die Stange. Alles sollte nach Selbstmord aussehen. Ist es letztlich auch, nur halt nicht durch Erhängen.«

»Wow«, nickte Doro. »Dann können wir gleich halb Grafenstein auf die Liste der Verdächtigen setzen. Zumindest sämtliche seiner Schüler und deren Eltern hätten ein Motiv. Nicht zu vergessen die Jungs von der Bürgerinitiative und der halbe Junggesellenverein in seinem Heimatort Salmfeld.«

 

Einer Eingebung folgend griff Netterscheid zu seinem Smartphone.

»Hallo, Frau Michels. Hat eure Kriminaltechnik inzwischen herausfinden können, von wem die Nachricht stammt, die Sie mir eben zugemailt haben?«

»Tut mir leid, keine Chance. Angeblich wurde die IP-Adresse manipuliert. Frau Sartorius erwähnte in diesem Zusammenhang Begriffe wie CyberGhost oder ein so genanntes Tor-Netzwerk. Vielleicht können Sie ja damit etwas anfangen. Ehrlich gesagt, verstehe ich nicht viel von Computern. Mir reicht es, wenn sie einfach nur funktionieren.«

»Ist die blond?« frotzelte Doro aus dem Hintergrund.

Baumann grinste hämisch.

»Was regst du dich auf? Du bist doch selbst auf Dunkelbraun umlackiert. Glaubst du etwa, sowas fällt niemandem auf?«

Doro warf ihem Kollegen einen vernichtenden Blick zu.

»Was haben eigentlich die Ermittlungen in Sachen Brandkatastrophe und Überfall auf das Einzelhandelsgeschäft ergeben?« stocherte Netterscheid weiter.

»Nicht viel. Wir warten noch auf den Abschlussbericht der Feuerwehr. Frau Sartorius ist es zwar gelungen, fremde DNA-Spuren und ein Handy sicherzustellen, aber die DNA ist wegen der damals vorherrschenden Hitze nahezu unbrauchbar und das Handy sowieso geschmolzen. Wir müssten schon ziemliches Glück haben, um anhand dessen einen Täter ausfindig machen zu können. Die KTU vermutet, das Handy könnte als eine Art elektronischer Zündmechanismus benutzt worden sein. Im Fall Abdelkader Moutussi sind wir auch nicht viel weiter gekommen. Die Polizeiinspektion Grafenstein ist an dem Fall dran, aber ohne Augenzeugen sehe ich schwarz. Zwei Dinge scheinen jedoch von Bedeutung: Kelim Öztürk, der Inhaber der Diskothek, hat allem Anschein nach mit Steuernachforderungen in erheblicher Höhe zu kämpfen, wohingegen Abdelkader Moutussi völlig unterversichert war. Im Fall des Tunesiers wäre ein ausländerfeindliches Tatmotiv also durchaus erwägenswert. Andererseits ist Moutussi in Grafenstein beliebt. Trotz gewisser Sprachprobleme gilt er als bestens integriert. Im Fall Öztürk könnte hingegen Versicherungsbetrug eine Rolle spielen, aber wer zündet schon seinen eigenen Laden an, wenn er weiß, dass im Obergeschoss der eigene Schwager mit seiner zukünftigen Frau übernachtet. Soviel Kaltblütigkeit traue ich Öztürk, Steuerschuld hin oder her, dann doch nicht zu.«

»Könnte Schröder hinter dem Anschlag stecken?«

»Eher nicht. Wie wir inzwischen herausbekommen haben, befand der sich mit zwei Gesinnungsgenossen zum Tatzeitpunkt in Nancy bei einem Treffen Rechtsradikaler. Der Rest seiner Truppe schmort wegen der Schlägerei auf dem Rathausplatz immer noch in Untersuchungshaft.«

»Und was halten Sie von dem nächtlichen Überfall auf das Weingut von diesem Brenner?« stocherte Netterscheid nach.

Es blieb einen kurzen Moment stumm in der Leitung.

 

»Tja, da fragen Sie mich was. Die Ceska, mit der auf dem Weingut geschossen wurde, ist nirgendwo registriert. Allerdings wurde dieser Typ zu Tausenden hergestellt. Speziell für den Ostblock. Den Rest können Sie sich ja denken.«

»Was soll ich mir denken?«

»Herrje, sind Sie umständlich. Das Ding stammt vermutlich vom osteuropäischen Schwarzmarkt. Jedenfalls haben Projektile aus dieser Waffe nie den Weg in irgendeine KTU gefunden.«

»Warum sagen Sie das nicht gleich«, schmunzelte Nettersheim. »Ich mache Ihnen einen Vorschlag: Ihre Leute statten den Brenners einen Besuch ab. Sie sollen herausfinden, was sich an besagtem Abend auf dem Weingut konkret abgespielt, wer mit wem Streit angefangen hat, worum es dabei konkret ging und so weiter. Stellen Sie die Bude mal ordentlich auf den Kopf. Sollte einer der beiden Komiker verschwunden sein, lassen Sie ihn gleich zur Fahndung ausschreiben. Ich habe den Leuten schließlich ausdrücklich davon abgeraten, Grafenstein in nächster Zeit zu verlassen. Wenn man sich an meine Ratschläge nicht hält, ist das deren Problem. Noch Fragen?«

Es blieb einen kurzen Augenblick still. Als Stefanie Michels schließlich antwortete, klang ihre Stimme ziemlich reserviert.

»Kommissar Schäfer konnte inzwischen herausfinden, wo sich die beiden Damen aufhalten, die Erna Leinfelds Leiche im Yachthafen entdeckt haben. Sie arbeiten momentan in einem Bordell im benachbarten Frankreich. Was das Weingut betrifft, sehe ich momentan keine Veranlassung, dort schon wieder aufzukreuzen. Falls Sie jedoch der Ansicht sind, beim Brenner ein Mördernest ausheben zu können, tun Sie sich keinen Zwang an. Mich halten Sie dabei gefälligst heraus. Ich bin, falls Ihnen das entfallen sein sollte, Staatsanwältin. Mir obliegt es nicht, Täter dingfest zu machen. Mein Job sind Anklage und Beweisführung vor Gericht.«

»Fertig?« Netterscheids Stimme klang geradezu aufreizend ruhig. »Hören Sie, Gnädigste, wir haben es hier nicht mit irgendeinem Fall aus dem Lehrbuch zu tun. Hier geht es um etwas ganz anderes. Aber ich verspüre im Augenblick absolut keine Lust, mich mit der Strafverfolgungsbehörde einer unbedeutenden südwestdeutschen Kleinstadt deswegen herumzuärgern. So, wie ihr da in Trier euren Job erledigt, könnt ihr höchstens einen Vorstadtganoven zur Strecke bringen, das war es dann aber auch schon. Ich dachte, Sie wollten irgendwann mal Oberstaatsanwältin werden.«

»Sowas ist mir ja in meinem ganzen Leben...«, brauste die junge Frau auf.

»Kommen Sie mal runter«, schnitt ihr Netterscheid mitten im Satz das Wort ab. »Wissen Sie was? Planänderung. Meine Leute übernehmen den Besuch auf dem Weingut. Die können das sowieso besser als Ihre beiden Hanseln. Dafür begleiten Sie mich gefälligst nach Spa. Ist vielleicht gar nicht so schlecht, wenn ich so einem Jungspund wie Ihnen mal zeige, wie ordentliche Polizeiarbeit funktioniert. Ich bin in einer Stunde bei Ihnen. Wir treffen uns auf dem Parkplatz. Und seien Sie pünktlich, ich warte nicht gerne. In der Zwischenzeit können Sie ja schon mal den Durchsuchungsbeschluss besorgen und an meine Leute faxen. Meine Güte, mit euch Landeiern macht man vielleicht was mit!«

Ehe die Staatsanwältin antworten konnte, hatte Netterscheid bereits aufgelegt.

»So, Kollegen«, meinte er und drehte sich zu seinen Mitarbeitern herum. »Schluss mit lustig. Ihr macht jetzt folgendes...«

 

~~~~~~~

 

Mit einer gehörigen Portion Wut im Bauch tigerte Stefanie Michels auf dem Parkplatz des Polizeipräsidiums auf und ab. Was fiel diesem Lackaffen eigentlich ein? Na, warte, dachte sie bei sich. Dir werde ich die Leviten lesen. Von wegen eine Staatsanwältin ungestraft herumkommandieren. Du kannst dich jedenfalls auf was gefasst machen!

Aus einer Stunde wurden mittlerweile fünfundsiebzig Minuten. Von wegen pünktlich.

»Das reicht, du Blödmann!« schimpfte sie halblaut vor sich hin. »Du kannst dir eine Dümmere suchen. Ich bin doch hier nicht...«

Mit aufheulendem Motor stob eine dunkle Limousine mit Wiesbadener Kennzeichen auf den Parkplatz. Sekunden später flog die Beifahrertür auf.

»Was ist?« bellte eine ungeduldige Stimme. »Noch nie einen Mercedes gesehen? Machen Sie flott, Gnädigste! Wir haben nicht ewig Zeit.«

»Ich glaube, Sie haben sie wohl nicht alle«, fauchte Stefanie, während sie gleichzeitig Halt suchte, da der Fahrer mit gleichem Tempo auch wieder vom Parkplatz fegte. Nur mit Mühe gelang es ihr, den Sicherheitsgurt anzulegen. Gegen den war Lydia ja eine Sonntagsfahrerin.

»Was soll die Hektik, und was haben wir überhaupt in Spa verloren? Spa liegt in Belgien, also weit außerhalb meiner...«

»Regen Sie sich ab, meine Teuerste«, antwortete Netterscheid, während er mit Vollgas in Richtung Autobahn raste. »Ich weiß selbst, wo Spa liegt. Jetzt denken Sie mal nach. Wer lebte in dem Badeort? Richtig, die Tote aus dem Yachthafen. Und was trieb die Dame dort? Habt ihr eigentlich mal in diese Richtung recherchiert?«

Stefanie schwieg. Sie fühlte sich überrumpelt. Überrumpelt von einem arroganten selbstverliebten Egomanen, der scheinbar nichts anderes im Kopf hatte, als sie ständig vor aller Welt vorführen zu wollen. Schon beim ersten Zusammentreffen im Restaurant von diesem Ballensiefen war sie kaum zu Wort gekommen. Letztens im Sitzungssaal des Grafensteiner Rathauses führte sie eigentlich auch nur eine Statistenrolle. Normalerweise scheuchte die Staatsanwaltschaft Ermittlungsbeamte in der Gegend herum und nicht umgekehrt.

 

»Dann will ich Ihnen mal auf die Sprünge helfen. Die Dame war Kurator ihrer eigenen Stiftung. Erna Leinfeld hat von ihrem verstorbenen Mann ein Millionenvermögen geerbt, dies kurz darauf in eine angeblich gemeinnützige Stiftung für Geschichtsforschung eingebracht und sich im Anschluss daran ins benachbarte Belgien abgesetzt. Das Stiftungsvermögen liegt übrigens auf einer Luxemburger Bank. Na, dämmert Ihnen was? Ich sage nur: Melanie Balfelder. In den Neunzigerjahren war es mit der paneuropäischen Kontrolle von Geldflüssen noch nicht allzu weit her. Soweit, so klar. Oder auch unklar. Das Stiftungsvermögen dient jedenfalls einzig und allein dem Zweck, ehemaligen SED-Kadern von Zeit zu Zeit Gelder auf deren Konten zu überweisen. Geschichtsforschung ist der Stiftung jedenfalls so fremd, wie Ihnen ein dezentes Parfum. Noch Fragen?«

Gleichzeitig ließ er das Schiebedach nach hinten gleiten.

»Halten Sie sofort an!« fauchte Stefanie. »Sind Sie eigentlich noch bei Trost? Erst zerren Sie mich in dieses Auto, und dann beleidigen Sie mich auch noch?«

Netterscheid fuhr unbeirrt weiter. Inzwischen hatte er die Autobahnauffahrt in Richtung Luxemburg erreicht.

»Von Zerren kann überhaupt keine Rede sein. Sie sind freiwillig eingestiegen. Was allerdings ihr Must de women von Cartier anbelangt, nun, über Geschmack lässt sich bekanntlich streiten.«

Demonstrativ schaltete er auch noch das Gebläse der Klimaanlage an.

»Lassen Sie mich auf der Stelle aussteigen!«

»Hier? Mitten auf der Autobahn? Wollen Sie sich das vielleicht nicht doch noch einmal überlegen?« Das Schiebedach glitt wieder in seine Ausgangsposition zurück. »Was Ihr aufdringliches Parfüm betrifft, meine geschiedene Frau benutzte denselben Duft. Ich bin also Kummer gewöhnt. Sie glauben nicht, wie oft wir uns deswegen in den Haaren gelegen haben.«

»Ihre geschiedene Frau, sagen Sie? Kein Wunder, dass die abgehauen ist. Ihre neue Lebensabschnittsgefährtin muss sich vermutlich mit Kernseife begnügen.«

Netterscheid grinste.

»Tut mir leid, aber über Helen rede ich nicht. Nur soviel: Sie benutzt Gold Woman.«

Stefanie schaute ihn verblüfft an.

»Etwa das von Amouage?«

»Kennen Sie einen anderen Hersteller? Heraus damit! Hauptsache billiger als dreihundert Euro. Sie bekommt das Zeug jedes Jahr zu Weihnachten von meinen Schwiegereltern geschenkt.«

Ein breites Grinsen zog sich über sein Gesicht.

»Na ja, die Alten können es sich leisten.«

Stefanie hüllte sich in Schweigen. Wieso ließ sie sich ausgerechnet von so einem Grottenmolch immer wieder aufs Neue provozieren? Privat hätte sie diesem Typen ohne Not nicht einmal für fünf Sekunden Aufmerksamkeit geschenkt. Netterscheid war das völlige Gegenteil zu Lukas, ihrem letzten Partner in Sachen Liebe. Ungewollt wechselte ihr Ärger in bleierne Melancholie.

 

Wäre sie ihrem Freund seinerzeit bloß nach Düsseldorf gefolgt, haderte sie stumm mit ihrem Schicksal. Der hockte inzwischen in einer angesehenen Anwaltskanzlei für Steuer- und Kapitalmarktrecht und verdiente sich dabei auch noch dumm und dusselig. Lukas hatte jedenfalls keinen Stress mit irgendwelchen durchgeknallten Oberstaatsanwältinnen oder Kripo-Beamten, denen der Dienst anscheinend sonstwo vorbei ging. Mehr und mehr sehnte sie sich nach ihrem früheren Leben zurück. Als sie gemeinsam mit ihrem Freund ausgedehnte Wanderungen in den Alpen unternahm oder abends einfach bloß um die Häuser zog. Der sie beinahe jede Nacht zärtlich in die Arme nahm und ihr dabei zeigte, was für eine begehrenswerte Frau sie doch war. Nichts mehr. Game over!

Ausgerechnet ihr alter Herr hatte seinerzeit davon abgeraten, Lukas nach Düsseldorf zu folgen. Was willst du, hatte er sie gefragt. Einen aufregenden Job oder von früh bis spät seitenlange Wertpapierprospekte auf etwaige Unstimmigkeiten hin kontrollieren? Immer mit der Furcht im Nacken, dass eine winzige Fehlinterpretation wegen der finanziellen Konsequenzen den sofortigen Rauswurf bedeuten konnte. Ihr Vater arbeitete selbst noch am Landgericht Köln. Aber der alte Herr hatte in einer Zeit Karriere gemacht, als der Weg die Leiter empor allenfalls von der Dienstaltersstufe und dann auch nur kurzfristig gestoppt werden konnte. Bist du alles selbst schuld, schimpfte sie stumm in sich hinein. Okay, sie war derzeit die jüngste Staatsanwältin im Land. Aber was konnte sie sich davon kaufen? Nichts. Tag für Tag strampelte sie gegen unwillige Ermittlungsbeamte, ihren Ekel vor der Rechtsmedizin und wachsende Aktenberge auf ihrem Schreibtisch an. So hatte sie sich den Job in der Strafverfolgung nicht vorgestellt.

Vorbild in Sachen Lifestyle war für sie allenfalls Lydia Sartorius. Gut zehn Jahre älter als sie, aber dafür taff bis in die Haarspitzen. Böse Stimmen behaupteten, über ihr stünde nur Gott und der Massenspektrometer. In Sachen Liebe schienen sie jedoch beide vom Pech verfolgt. Lydia starben die Lover weg, ihr selbst fehlte es an Gelegenheit, überhaupt erst welche kennenzulernen.

»Scheiße!« rutschte ihr heraus.

»Was ist los?« meldete sich Netterscheid zu Wort. »Sie sind ja auf eimal so einsilbig. Haben Sie schlecht geträumt?«

»Sorry«, meinte sie nur und bemühte sich von da an, möglichst gelangweilt aus dem Seitenfenster zu starren.

 

In Höhe von Remouchamps verließen sie die A26 und folgten der N697 nach Osten. Netterscheid hatte ein derartiges Tempo vorgelegt, als wären Geschwindigkeitsbeschränkungen in Luxemburg und Belgien neuerdings ein Fremdwort. In dieser Hinsicht stand er der Chefin der Trierer Spurensicherung jedenfalls in nichts nach. Die kannte in ihrem R8 auch nur Standgas und Vollgas. Stefanie hatte es längst aufgegeben, sich an ihrem Sicherheitsgurt festzukrallen. Einen Verkehrsunfall würde man bei diesem Tempo selbst mit acht Airbags um einen herum kaum überleben. Allerdings war ihr etwas aufgefallen.

»Warum staren Sie eigentlich andauernd in den Rückspiegel. So schön sind Sie nun auch wieder nicht.«

Netterscheid ging auf ihre Anspielung nicht ein.

»Mir schien, als würde uns ein Motorrad folgen.«

Stefanie winkte ab.

»Ein Motorrad? Hier auf der Landstraße? Nun ja, Motorräder sind in Belgien doch wohl wirklich nicht Ungewöhnliches.«

Trotzdem drehte sie sich um. Seit Remouchamps waren sie praktisch alleine auf der Landstraße unterwegs. Die Fahrspur hinter ihnen wirkte jedenfalls wie leergefegt. Trotzdem wurde sie unsicher.

»Wer sollte uns denn verfolgen?«

Netterscheid zuckte die Schultern.

»Sagen Sie's mir. Vielleicht die Typen von vergangener Nacht. Möglich ist alles.«

»Rasen Sie etwa deshalb wie ein Irrer durch die Gegend?«

»Natürlich nicht. Wenn tatsächlich jemand hinter uns her ist, dann weiß der inzwischen auch so, wo wir hin wollen. Ein Ermittlungsbeamter vom BKA und eine Staatsanwältin auf dem Weg nach Spa. Da braucht man nur Eins und Eins zusammenzuzählen.«

 

Langsam bog der Mercedes in die Rue Montagne ein. Diesmal mit gemäßigtem Tempo, denn Stefanie und der BKA-Beamte hielten nach der Hausnummer Dreiundvierzig Ausschau.

»Na, also«, brummte Netterscheid. »Da haben wir's ja.«

Er warf der Appartement-Anlage einen flüchtigen Blick zu und fuhr anschließend noch ein Stück weiter. Nach etwa hundert Metern parkte er den Wagen in einer Seitenstraße auf dem Grundstück einer Villa.

»Sind Sie verrückt?« beschwerte sich Stefanie, als Netterscheid Anstalten machte, den Wagen zu verlassen. »Wollen Sie riskieren, abgeschleppt zu werden?«

»Die Besitzer sind verreist.«

»Woher wollen Sie das wissen?« fragte sie verblüfft.

»Ach, Kindchen, Sie müssen noch viel lernen. Meinen Sie, ich überlasse meine Ermittlungsarbeit dem Zufall?«

Stefanie warf die Wagentür ins Schloss und stapfte missmutig hinter Netterscheid her.

 

Die Wohngegend, zu der auch die Rue Montagne gehörte, war schick aber nicht mondän. Entlang der schmalen Straße, die ein Stück bergauf führte, reihte sich Einfamilienhaus an Einfamilienhaus, hin und wieder von eleganten Appartement-Komplexen unterbrochen. Vor den Grundstücken parkten durchweg Mittelklassewagen. Die Vorgärten waren gepflegt, die Gehwege sorgfältig gekehrt. Ein junges Paar mit Kinderwagen kam ihnen entgegen. Netterscheid grüßte freundlich, die Leute nickten zurück.

»Nicht schlecht gewählt«, meinte er.

»Was meinen Sie damit?«

»Schauen Sie sich mal um. Hier wohnen durchweg gutsituierte Leute. Da hockt niemand stundenlang am Fenster, um die Nachbarn auszuspionieren. Desshalb muss hier auch nicht ständig die Polizei Patrouille fahren. Geradezu perfekt für Leute, die möglichst unbehelligt leben wollen.«

Sie erreichten die Hausnummer Dreiundvierzig. Es handelte sich um einen etwa fünfzehn Jahre alten Gebäudekomplex mit vier Stockwerken. Eine hohe Hecke schützte die Bewohner des Erdgeschosses vor neugierigen Blicken, die oberen Geschosse besaßen Balkone mit Sichtschutz. Im zweiten Stockwerk waren die Jalousien heruntergelassen. Netterscheid betrat den gepflasterten Zugangsweg und ging zielstrebig auf die Eingangstüre zu. Ein flüchtiger Blick auf das Klingelschild verschaffte letzte Gewissheit.

»Bingo. Zweiter Stock. Wer sagt's denn.«

»Okay, Sie Profi«, beschwerte sich Stefanie. »Jetzt stehen wir also vor dem Haus der Toten aus dem Yachthafen. Und nun? Wollen Sie bei der etwa einbrechen?«

Netterscheid schaute sich um. Kurz darauf deutete er auf einen schmalen Pfad aus Steinplatten, der um das Haus herumführte.

»Wo es einen Haupteingang gibt, da existiert in aller Regel auch ein Nebeneingang. Belgier sind genauso wie die Niederländer viel mit dem Fahrrad unterwegs. Haben Sie hier irgendwo Abstellmöglichkeiten gesehen? Na, also. Suchen wir doch mal nach dem Fahrradkeller.«

Seufzend folgte ihm Stefanie um das Haus herum. Wenige Augenblicke später blieben sie vor einer Treppe stehen, die zu einer schweren Holztür hinab führte. Netterscheid nestelte in seiner Hosentasche herum und zog ein Etui heraus.

»Eine Kellertreppe«, stellte Stefanie fest. »Wollen wir die jetzt eintreten, oder was?«

Netterscheid ging vor der Kellertür in die Hocke und begann mit zwei Metallstiften in dem Schloss herumzufingern.

»Auch noch Einbruch«, maulte die Staatsanwältin. »Sie haben Nerven.«

Im nächsten Augenblick sprang die Tür aus dem Schloss.

»Wieso? Die Tür stand doch praktisch offen.«

 

Kopfschüttelnd folgte sie dem BKA-Beamten ins Untergeschoss der Appartementanlage. Sie durchquerten den Fahrradkeller und erreichten den Zugang zum Treppenhaus. Was sie im Augenblick machten, war zumindest Hausfriedensbruch. Kein Vorgesetzter dieser Welt würde sie in Schutz nehmen, falls ihr unerlaubtes Treiben aufflog. Die Schwarze Mamba am allerwenigsten. Ein paar Augenblick später standen sie bereits auf dem Treppenabsatz im zweiten Obergeschoss. Eine der beiden Türen trug einen deutlich sichtbaren Klebestreifen mit amtlichem Siegel. Darauf stand irgendwas von 'Entrée interdit!' und 'Police judiciaire'.

»Und nun?« fragte Stefanie mit deutlich gesenkter Stimme. Netterscheid zückte schon wieder das Etui. Stefanie packte seinen Arm.

»Da mache ich nicht mit. Das ist Missachtung einer amtlichen Anordnung verbunden mit Einbruch. Wollen Sie, dass wir beide im Knast landen?«

»Warum flüstern sie eigentlich?« fragte Netterscheid. »Haben Sie Angst, uns belauscht jemand? Meine Güte, mit euch Sesselfurzern macht man vielleicht was mit.«

»Ich gebe Ihnen gleich...« brauste Stefanie auf, verschluckte jedoch den Rest des Satzes. Auf der gegenüberliegenden Seite schwang die Eingangstür zum Nachbarappartement auf. Hinaus trat eine etwa fünfzigjährige Frau. Im Arm hielt sie einen Yorkshire-Terrier. Er hatte, wie es sich für eine Hundedame aus der oberen Mittelschicht gehört, ein rosa Schleifchen im Haar.

Die Frau runzelte erwartungsgemäß die Stirn.

»Excuse-moi. Cherchez-vous quelqu'un?«

»Bonjour, Madame.«

Netterscheid zückte seine Dienstmarke und fuhr in etwas holperigem Französisch fort: »Wir sind von der deutschen Finanzpolizei. Die hier ist Madame la Procureur d'État Michels. Wie Sie vielleicht gehört haben, ist Ihre Nachbarin, Madame Leinfeld, vergangene Woche ums Leben gekommen.«

Die Frau riss die Augen auf. Der Hund auf ihrem Arm wurde auch schon ganz unruhig. Sie setzte ihn ab. Neugierig begann das Tier an den Hosenaufschlägen der beiden Neuankömmlinge zu schnuppern.

»Tot? Mon dieu, wir haben uns schon über die Klebestreifen an der Wohnungstür gewundert.«

»Mit Rücksicht auf unsere belgischen Kollegen darf ich Ihnen dazu leider keine genauen Auskünfte erteilen. Auf jeden Fall müssen wir noch dringend Unterlagen sichten. Die Kollegen in Brüssel können uns wegen eines anderen dringenden Falls im Augenblick leider nicht unterstützen.«

Die Frau runzelte erneut die Stirn.

»Darf ich bitte mal Ihre Dienstausweise sehen?«

Netterscheid hatte auf eine solche Reaktion gewartet und zückte seine Dienstmarke. Auch Stefanie hielt ihren Dienstausweis in die Höhe. Trotzdem blieb die Frau misstrauisch.

»Und Sie ermitteln bei uns in Belgien?«

»Länderübergreifende Amtshilfe«, erwiderte Netterscheid. »Das ist in der EU neuerdings so üblich.«

Die Miene der Frau hellte sich schlagartig auf.

»Ja, ja, die Deutschen. Immer bei der Arbeit. Kein Wunder, dass es euch so gut geht. Wie kann ich Ihnen helfen?«

»Ich war felsenfest davon überzeugt, die Wohnungsschlüssel dabei zu haben, die man mir vorsorglich aus Brüssel geschickt hat, aber leider habe ich sie in der Eile wohl im Büro liegenlassen. Sagen Sie, Madame, haben Sie zufällig den Ersatzschlüssel zur Wohnung Ihrer Nachbarin? Sonst müssen wir tatsächlich noch einen Schlüsseldienst kommen lassen.«

Die Frau nickte.

»Da haben Sie Glück. Der steckte im Schloss. Keine Ahnung, warum Sie den nicht abgezogen hat. Madame Leinfeld war in diesen Dingen eigentlich immer sehr sorgfältig. Weil Madame auf mein Klingeln nicht öffnete, habe ich den Schlüssel vorsichtshalber an mich genommen.«

»War das vor oder nachdem die Versiegelung der Wohnung vorgenommen wurde?«

Die Frau überlegte einen Moment.

»Das war, da bin ich mir sicher, bevor die Klebestreifen angebracht wurden.»

Sie verschwand im Flur ihrer Wohnung und kam kurz darauf mit einem schmalen Lederetui zurück.

Netterscheid ratschte den Klebestreifen entzwei und schloss auf. Als erstes schlüpfte Stefanie hinein. Als die Frau Anstalten machte, ihnen in die Wohnung zu folgen, schubste Netterscheid sie höflich aber bestimmt zurück.

»Das geht leider nicht. Sie würden unter Umständen Spuren verwischen. Aber sowas kennen Sie doch sicherlich aus dem Fernsehen.«

Beleidigt machte sie auf dem Absatz kehrt und stieg samt Hund die Treppe hinab. Netterscheid zog die Tür ins Schloss. Stefanie fühlte sich mehr als unwohl in ihrer Haut.

»Nochmal mache ich das jedenfalls nicht mehr. Das hier kann uns den Job kosten. Wohneigentum ist in Belgien heilig.«

»Klar, genauso wie Kindesmissbrauch«, knurrte Netterscheid.

 

~~~~~~~

 

Gemächlich rollte die Limousine in die Parkgarage. Die Fahrerin suchte eine freie Lücke und stieg aus. Anschließend öffnete sie eine der hinteren Türen und nahm ihr weinrotes Cape vom Kleiderhaken. Sie warf es über, drückte auf die Fernbedienung für die Zentralverriegelung und verließ die Parkgarage über eine breite Rampe. Oben angekommen schob sie sich als erstes die dunkle Sonnenbrille vor die Augen. Hier in der Innenstadt von Luxemburg konnte sie relativ sicher sein, keinem ihrer Bekannten über den Weg zu laufen. Sie musste sich entspannen, und das gelang ihr immer noch am besten bei einem Schaufensterbummel.

Allerdings hatte sie die Temperaturen unterschätzt. Bereits nach wenigen Metern zog sie sich das Cape von den Schultern und legte es sich lässig über den Arm. Vor einem Schaufenster blieb sie stehen und betrachtete sich im Spiegelbild. Was ihr dabei ins Auge fiel, konnte sich durchaus sehen lassen. Für ihr Alter sah sie eigentlich ganz gut aus. Von erfahrener Hand gestylte Frisur, durchtrainierter Körper, Brüste, an denen kein einziger Schönheitschirurg irgendwas zu mäkeln gehabt hätte, cellulitefreie Oberschenkel und gertenschlanke Waden. Nur der beginnende Haarausfall, für den bisher noch kein Dermatologe ein Gegenmittel hatte finden können, bereitete ihr neuerdings Kopfzerbrechen.

 

Ihr Smartphone meldete sich. Sie warf einen Blick auf das Display. Unbekannter Anrufer. Sie drückte das Gespräch weg. Doch nach wenigen Augenblicken meldete sich ihr Smartphone erneut. Diesmal war eine Nummer eingeblendet. Der Anruf kam von einem Mobilfunkanschluss. Seufzend nahm sie das Gespräch an.

»Ja, bitte?«

»Da sind Sie ja endlich«, keuchte eine Männerstimme. »Herrgott, sind Sie überhaupt noch irgendwann zu erreichen?«

»Wer sind Sie überhaupt?« fragte sie knapp, obwohl sie ahnte, wer sich am anderen Ende der Leitung befand.

»Na, wer wohl? Sagen Sie mal, sind Sie eigentlich noch bei Trost? Sie geben mir den Auftrag, eine Disco abzufackeln, erwähnen aber mit keinem Wort, dass im Obergeschoss vielleicht noch Leute schlafen.«

Der Anrufer schien sichtlich nervös. Die Frau dachte einen Augenblick nach.

»Das war eine Tat mit eindeutig ausländerfeindlichem Hintergrund. Wer dafür infrage kommt, liegt doch wohl klar auf der Hand. Wo ist also Ihr Problem?«

»Was mein Problem ist? Ich habe zwei Tote an der Backe. Wenn die Kripo irgendwelche Spuren findet, gehe ich wegen zweifachen Mordes hinter Gitter. Das ist mein Problem!«

Die Stimme der Frau wurde eisig.

»Was habe ich damit zu tun?«

»Ich muss abhauen. Dafür brauche ich Geld. Sehr viel Geld.«

»Sie haben Geld von mir bekommen. Wenn bei dem Auftrag was schief gegangen sein sollte, ist das Ihre Sache. Wir hatten eine klare Abmachung.«

»Ich gebe Ihnen gleich Abmachung! So einfach kommen Sie mir jedenfalls nicht davon. Ich schwöre Ihnen, wenn die mich schnappen, sind Sie mit dran.«

Die Frau drehte sich unauffällig nach allen Seiten um. Das hätte noch gefehlt, wäre sie in diesem Augenblick belauscht worden.

»Sie wollen mir drohen? Denken Sie mal nach. Wem wird man eher glauben, einem mehrfach wegen Eigentumsdelikten vorbestraften Gelegenheitsganoven oder mir?«

»Dich mach ich fertig, du Schlampe!«

Die Frau überlegte einen kurzen Augenblick. Das Gespräch war an einem Punkt angelangt, wo es hieß, höllisch aufzupassen.

»Okay, welche Summe schwebt Ihnen denn so vor?«

Erwartungsgemäß blieb es erst einmal stumm in der Leitung. Mit einem solch schnellen Einlenken hatte der Typ anscheinend nicht gerechnet.

»Hunderttausend«, erhielt sie nach einer Weile zur Antwort.

Sie lachte hell auf und verlieh dabei ihrer Stimme einen bewusst hysterischen Klang.

»Aber sonst geht's Ihnen gut, oder? Hunderttausend. Für die Summe kann ich ja einen Profikiller anheuern, der stattdessen Sie um die Ecke bringt. Dann habe ich nämlich anschließend wirklich meine Ruhe.«

»Okay, Fünfzigtausend«, meinte der Mann. »Aber das ist mein letztes Angebot. Überlegen Sie es sich gut. Andernfalls...«

Er ließ die Konsequenz offen.

»Andernfalls, andernfalls«, äffte die Frau den Anrufer nach. »Pass mal auf, du Spinner. Du kannst von mir aus Zehntausend haben. Aber dann machst du dich gefälligst vom Acker. Andernfalls, da kannst du sicher sein, mache ich meine Drohung ernst und heuere tatsächlich noch einen Profi an. Und dann möchte ich nicht in deiner Haut stecken. Haben wir uns verstanden?«

Erneut blieb es für ein paar Augenblicke stumm in der Leitung.

»Wo treffen wir uns?«

»Kommen Sie heute Abend gegen zehn Uhr dreißig zum Kai. Dort, wo gewöhnlich die Ausflugsschiffe anlegen. Und keine Bange, ich bringe das Geld mit. Aber seien Sie pünktlich. Ich verspüre wenig Lust, mir wegen Ihnen die Beine in den Bauch zu stehen.«

Ein Klicken unterbrach das Gespräch. Unwillkürlich kramte sie in ihrer Handtasche herum. Ihr Finger berührten einen metallenen Gegenstand. Ein Grinsen huschte über ihre Mundwinkel.

 

~~~~~~~

 

Während Netterscheid das Arbeitszimmer der Toten nach brauchbaren Hinweisen duchstöberte, schaute sich Stefanie Michels im Wohnzimmer um. Sie fühlte sich mehr als unwohl in ihrer Haut. Was, wenn sich die Nachbarin eines Besseren besann und die örtliche Gendarmerie über die seltsamen Besucher informierte? Dann hockten sie gewaltig in der Klemme, denn ihr war klar, dass es absolut keine rechtliche Handhabe gab, sich Zutritt zu einer versiegelten Wohnung zu verschaffen. Erst recht nicht im Ausland. Aber der BKA-Beamte hatte sämtliche ihrer Bedenken mit einer Handwegung beiseite gewischt. Am Schreibtisch bekäme man diesen Fall jedenfalls nicht gelöst, waren seine Worte. Gleichzeitig hatte er ihr von dem Achtundvierzig-Stunden-Ultimatum berichtet, das wie ein Damokles-Schwert über seinen Ermittlungen schwebte.

Seufzend öffnete sie die sämtliche Schränke und Schubläden, stöberte ziellos hier und da herum, ahnte jedoch bereits nach kurzer Zeit, dass bei jemandem wie Erna Leinfeld kompromittierende Unterlagen mit Sicherheit nicht irgendwo im Wohnzimmer herumlagen. Bald darauf ließ sie sich seufzend auf der Couch nieder. Völliger Schwachsinn, die Wohnung dieser Frau auf den Kopf zu stellen. Ihr leuchtete zwar ein, dass jemand, der Gelder aus einem Stiftungsvermögen und vermutlich auch noch an der Steuer vorbei an Dritte verteilte, grundsätzlich verdächtig war, aber möglicherweise gab es hierfür eine plausible Erklärung. Andererseits hatte sie stutzig gemacht, dass die Stiftung in all den Jahren bisher noch kein einziges wissenschaftliches Projekt finanziert oder zumindest begleitet hatte. Sowas deutete schon irgendwie auf Unregelmäßigkeiten hin.

Durch Zufall glitt ihre rechte Hand in den Spalt zwischen zwei Polsterblöcke der Couch. Plötzlich berührten ihre Finger einen flachen harten Gegenstand. Sie stand auf, schob das Polster beiseite, konnte auf den ersten Blick jedoch nichts entdecken. Deshalb drehte sie das Polster herum und tastete es erneut ab. Tatsächlich, im Innern des Polsters musste sich irgendwas Hartes befinden. Sie suchte den Reißverschluss und riss ihn auf. In der Polsterfüllung steckte ein Ultrabook. Eines dieser extrem flachen Notebooks mit leistungsstarkem Akku, wie sie inzwischen zur Grundausstattung jedes Geschäftsreisenden gehörten. Stefanie zog das Gerät hervor, legte es auf den Couchtisch und klappte den Bildschirm auf. Der Rechner fuhr automatisch hoch. Schließlich erschien die Eingabeaufforderung für das Passwort. Sie probierte ein paar Mal herum, erntete jedoch immer nur den lapidaren Hinweis, dass sie es noch einmal probieren solle.

»Netterscheid!« rief sie.

»Was ist?« kam es aus dem Arbeitszimmer zurück. »Brauchen Sie jemanden zum Händchenhalten?«

»Ich habe was gefunden. Kommen Sie her und schauen Sie gefälligst selbst.«

Wenige Augenblicke später erschien Netterscheids Kopf im Türrahmen. Als er den tragbaren Computer auf dem Couchtisch entdeckte, hellte sich sein Gesicht schlagartig auf.

»Ja, was haben wir denn da?« murmelte er und nahm das Ultrabook in die Hand.

»Wonach sieht's denn aus?« meinte die junge Staatsanwältin schnippisch.

»Tolles Gerät. Sowas wollte ich mir selbst immer schon mal zulegen.«

»Ihre Begeisterung in allen Ehren, aber ohne Passwort kommen wir sowieso nicht weiter. Ich habe schon alles Mögliche ausprobiert. Die Dame war diesbezüglich auf Zack.«

»Lassen Sie mich mal.«

Netterscheid zückte einen Datenstick, stöpselte ihn in eine der freien USB-Buchsen und startete den Rechner neu. Nachdem auf dem Bildschirm zunächst nur ein paar kryptische Begriffe aufgetaucht waren, blieb er anschließend schwarz wie die Nacht.

»Hoffentlich haben Sie ihn jetzt nicht kaputt gemacht.«

 

Netterscheid warf ihr einen missbilligenden Blick zu. Nach einer Weile rasten zahlreiche Steuerbefehle über den Bildschirm, ehe schließlich ein dunkelblauer Desktop mit ein paar wenigen Icons erschien. Stefanie hatte sowas noch nie gesehen. Sie kannte nur den Begrüßungsbildschirm ihres Computers mit dem wild gemischten Sammelsurium an Apps, von denen sie ohnehin nicht wusste, wofür die überhaupt alle da waren. Solch ein aufgeräumter Bildschirm war ihr jedenfalls gänzlich fremd.

»Das ist ein Programm zur Kontrolle von Windows und seiner Komponenten. Es basiert auf Linux. Na, egal. Sie wollen das Passwort zurücksetzen? Kein Problem. Schauen Sie hier...«

Gekonnt wirbelten seine Finger über die Tastatur.

»So, das war's schon. Diese Hilfsfunktion ist eigentlich für Leute gedacht, die Ihr eigenes Passwort vergessen haben sollten. Natürlich kann man damit auch jeden anderen Rechner entsichern. Es sei denn, derjenige hat das BIOS... Sorry, ich langweile Sie. Na ja, ist halt was anderes als die Bestellplattform von Zalando.«

Stefanies Augen verzogen sich erneut zu schmalen Schlitzen.

»Sagen Sie, haben Sie vielleicht ein Problem mit Frauen? Können Sie eigentlich auch was anderes, als nur eklig zu sein?«

Netterscheid ignorierte ihren erneuten Wutausbruch. Gleichzeitig ließ er Windows wieder hochfahren, und kurze Zeit erschien die Desktop-Oberfläche des Betriebssystems.

»Wenigstens Windows XP«, seufzte Netterscheid. »Das einzig vernünftige System, das die in Redmond je zusammengebastelt haben, auch wenn es demnächst den Heldentod sterben dürfte.«

Er klickte den Ordner 'Eigene Dateien' an. Es erschienen ein paar Unterordner, die jedoch nur Urlaubsbilder, private Korrespondenz und PDF-Dateien mit überwiegend Betriebsanleitungen enthielten. Netterscheid suchte noch eine Weile auf der Festplatte herum, fand jedoch nichts, was ihnen auch nur ansatzweise hätte weiterhelfen können.

»Mist! Jetzt müsste Doro hier sein. Die würde bestimmt was finden.«

»Wer ist Doro?«, wollte Stefanie wissen. »Ihre Frau?«

»Quatsch! Doro Breitner ist die Forensikerin in meinem Team. Was die nicht findet, das findet niemand.«

»Außer vielleicht Lydia Sartorius«, rutschte Stefanie heraus.

»Die Lesbe mit dem Angeberauto? Machen wir uns nichts vor, die kocht auch bloß mit Wasser.«

Jetzt wurde es Stefanie zu bunt. Sie erhob sich von der Couch und warf Netterscheid einen vernichtenden Blick zu.

»Sie sind wirklich das größte Arschloch, der mir je über den Weg gelaufen ist. Ich dachte bisher, der Schäfer wäre ein eingebildeter Blödhammel, aber gegen Sie ist der ein Klosterschüler.«

»Schäfer ist ein Großmaul«, winkte Netterscheid ab. »Riesenklappe, nichts dahinter. Okay, er hatte in Mainz ein paar Fahndungserfolge, aber glauben Sie, wenn er wirklich so taff wäre, wie er ständig tut, würde der immer noch in einem Nest wie Trier hocken? Andererseits verstehe ich, dass einer mit Porsche bei Mädels wie Ihnen natürlich Eindruck hinterlässt.«

 

Stefanie holte bereits tief Luft, um diesem eingebildeten Idioten mal so richtig den Marsch zu blasen, als ihr Netterscheid urplötzlich die Hand auf den Mund legte. Sie versuchte sich zu wehren, aber er hielt ihren Kopf mit aller Kraft fest.

»Still!« meinte er halblaut.

Stefanie begann zu strampeln.

»Still, verdammt nochmal, oder muss ich grob werden?»

Seine Stimmlage senkte sich zu einem heiseren Flüstern.

»Hören Sie das nicht, oder haben Sie was an den Ohren?«

Stefanie warf ihrem Begleiter einen verängstigten Blick zu. Sie fühlte sich hilflos, regelrecht ausgeliefert. Seit diesem Nachmittag war Netterscheid für sie der Gipfel an Antipathie. Gegen den war ja sogar die Breuer noch irgendwie sympathisch. Als Stefanie schließlich aufhörte herumzuzappeln, löste Netterscheid seine Hand von ihrem Mund.

»Da ist einer an der Tür.«

Gleichzeitig erhob er sich.

»Ich hab's doch geahnt. Mit Sicherheit der Kerl auf dem Motorrad.«

»Was machen wir jetzt?« flüsterte Stefanie zurück.

Netterscheid griff nach hinten in seinen Hosenbund. Einen kurzen Augenblick später lag eine Heckler & Koch in seiner rechten Hand. Energisch zog er den Schlitten zurück und entsicherte die Waffe.

»Was haben Sie vor?«

»Verschwinden Sie hinter die Couch. Wenn es hier gleich rund geht, möchte ich Sie nicht in der ersten Reihe sitzen sehen.«

»Machen Sie keinen Blödsinn!« rief Stefanie, huschte dann aber wie befohlen in den Hintergrund.

»Ich würde noch lauter herumbrüllen«, wisperte Netterscheid. »Und Kopf runter!«

Im gleichen Augenblick tauchte eine Gestalt in schwarzer Motorradmontur und Sturmhaube im Türrahmen auf. Hinter den schmalen Sehschlitzen funkelte ein Paar bernsteinfarbener Augen. Netterscheid riss seine Waffe hoch. Sein Gegenüber stutzte, wirbelte auf dem Absatz herum und war im nächsten Moment genauso schnell verschwunden, wie er kurz vorher aufgetaucht war. Netterscheid ließ die Pistole wieder sinken.

»Was war denn das?« keuchte Stefanie.

»Das war einer von der Gegenseite. Vermutlich hatte der Typ nicht damit gerechnet, hier jemanden mit einer Knarre in der Hand anzutreffen. Umso besser. Eine Schießerei in einer fremden Wohnung und dann auch noch im Ausland hätte mir wirklich gerade noch gefehlt.«

»Und was machen wir jetzt?«

»Na, was wohl? Wir verschwinden. Habe keine Lust, noch hier zu sein, falls gleich die Kavallerie anrückt. Im Treppenhaus geht's nämlich bereits rund.«

 

Draußen vor der Wohnungstür war lautes Geschimpfe zu hören. Allem Anschein nach war der Vermummte mit der Frau von nebenan zusammengestoßen, als sie gerade von ihrem Spaziergang mit dem Hund heimkehrte. Während Netterscheid die Wohnungstür hinter sich zuzog, schrie die Frau immer noch Zeter und Mordio.

»Gehört der etwa zu Ihnen? Ist der noch bei Trost? Beinahe hätte der mich über den Haufen gerannt.«

Sie beugte sich zu dem Fellknäuel hinunter und nahm es auf.

»Armes Putzilein. Hat dich der böse Mann etwa getreten?«

»Tut mir leid«, meinte Stefanie. »Der Mann gehört nicht zu uns. Vielleicht ein Einbrecher.«

»Ein Einbrecher? In unserer Wohngegend? Am helllichten Tag?«

Netterscheid schob seine Begleiterin die Treppe hinunter. Draußen auf der Straße tippte er ihr auf die Schulter und deutete auf das schmale Notebook, das er sich unter den Arm geklemmt hatte.

»Vielleicht hat sich unser Ausflug ja doch gelohnt. Alles weitere sollen gefälligst die Forensiker herausfinden.«

 

Sie eilten die Straße hinunter, bogen in die Seitengasse ein und fanden den Mercedes unversehrt in der Einfahrt zu der anscheinend unbewohnten Villa stehen. Netterscheid griff in seine Hosentasche, zog die Funkfernbedienung hervor und öffnete die Zentralverriegelung. Er warf das Notebook auf den Rücksitz und umrundete den Wagen, um auf der Fahrerseite einzusteigen. Im diesem Moment tauchte neben Stefanie wie aus dem Nichts eine Gestalt in Motorradkleidung auf. Ohne Warnung feuerte er auf ihren Begleiter. Dabei machte es jedoch nur dreimal leise 'Plopp!'. Die Waffe besaß allem Anschein nach einen Schalldämpfer. Keines der drei Projektile schien ihr Ziel zu verfehlen, jedenfalls stürzte Netterscheid wie ein Mehlsack zu Boden. Ohne sich um den Schwerverletzten zu kümmern, stob der Angreifer auf den Mercedes zu, riss den hinteren Wagenschlag auf und zerrte das Notebook von der Sitzbank. Ein paar Augenblicke später war der Spuk bereits vorüber. Alles, was die junge Staatsanwältin noch wahrnahm, war das Aufheulen einer schweren Geländemaschine.

 

Es dauerte eine Weile, ehe sie überhaupt begriff, was sich da gerade abgespielt hatte. Ein Überfall auf offener Straße und das am helllichten Tag. Wie im Wilden Westen. Schluchzend stolperte sie um die Kühlerhaube der Limousine herum. Netterscheid lag auf dem Bauch, den Kopf auf den Asphalt gepresst. Es kostete sie einige Überwindung, sich zu ihm hinabzubeugen und an seiner Schulter zu rütteln.

»Herr Netterscheid! Hören Sie mich? Sind Sie verletzt?«

Blöde Frage.

»Blöde Frage«, stammelte der BKA-Beamte.

»Was ist mit Ihnen?« keuchte Stefanie. »Soll ich die Rettung rufen? Natürlich, ich rufe 112 an. Hier wird es doch wohl hoffentlich eine Klinik geben.«

Inzwischen wurden um sie herum Stimmen laut, die irgendwas auf Französisch riefen. Hier und dort wurden Fenster aufgerissen, und neugierige Gaffer streckten ihre Köpfe nach draußen. Netterscheid wälzte sich auf die Seite und versuchte aufzustehen.

»Bleiben Sie um Himmelswillen liegen! Sie sehen doch, dass ich bereits nach einem Rettungswagen telefoniere.«

Netterscheid griff nach ihrem Arm und erhob sich mühsam.

»Keinen Krankenwagen, keine Polizei«, keuchte er.

Es dauerte erneut eine gefühlte Ewigkeit, ehe er den Wagen erreichte. Stöhnend ließ er sich auf die Rücksitzbank fallen.

»Tür zu und ab durch die Mitte. Sie brauchen nur auf den Start-Knopf zu drücken. Mit einem Mercedes werden Sie ja wohl hoffentlich umgehen können.«

Stefanie zögerte einen Augenblick. Als die Stimmen um sie herum jedoch immer näher kamen, nahm sie sich ein Herz, warf die hintere Türe zu und schlüpfte hinter das Lenkrad. Sekunden später brauste sie die Rue Montagne hinunter in Richtung Landstraße.

 

Ihre Stimme klang immer noch gehetzt.

»Sagen Sie mal, was war das denn da eben?«

»Was soll schon gewesen sein?«

Zur gleichen Zeit bemühte sich Netterscheid, seinen Pullover über den Kopf zu streifen. Stefanie beobachtete ihn im Rückspiegel. Plötzlich stutzte sie.

»Sie bluten ja gar nicht! Es müssen Sie doch mindestens drei Kugeln getroffen haben.«

»Immer dasselbe. Ich sollte den Job wechseln. Scheiße, tut das vielleicht weh«, schimpfte der BKA-Beamte mit zusammengekniffenen Augenlidern.

Nachdem er sich den Pullover heruntergezogen hatte, begann er an einer mattschwarz schimmernden Weste zu nesteln.

»Kevlar. Standardausrüstung bei BKA-Einsätzen. Seien Sie bloß froh, dass Sie nicht mit Schäfer und Kroppke unterwegs waren.«

Netterscheid hatte die schusssichere Weste inzwischen vollständig abgestreift und zog sich das T-Shirt bis zum Hals hoch. Besorgt tastete er seine dicht behaarte Brust ab. Auf der zeichneten sich drei handtellergroße schwarz verfärbte Flecken ab. Zwei in Höhe des Herzens, einer oberhalb des Bauchnabels.

»Das war hundert Prozent eine Ceska. Eine Ceska mit Schalldämpfer. Na ja, wenigstens haben wir was für die ballistische Untersuchung.«

Ein Grinsen huschte über seine Mundwinkel.

»Ein unübertroffener Vorteil dieser Schutzbekleidung: Anschließend muss man einem nicht erst mühsam die Kugeln aus dem Leib popeln. Den Rechtsmedizinern gefällt sowas natürlich ganz und gar nicht.«

 

Währenddessen raste Stefanie auf der N697 in Richtung Autobahn. Netterscheid hatte sich den durchlöcherten Pullover wieder übergestreift und streckte sich auf dem Rücksitz aus.

»Wo soll ich überhaupt hinfahren?« wollte Stefanie wissen.

»Nach Trier. In Meckenheim ist im Augenblick niemand von meiner Truppe. Die sind bekantlich beim Brenner oben auf dem Weingut. Eure KTU soll die Projektile und die Notebookdaten mal unter die Lupe nehmen. So kommen wir am schnellsten zu einem Ergebnis.«

»Aber das Notebook hat der Kerl doch mitgenommen.«

Netterscheid fischte den USB-Stick aus seiner Hosentasche.

»Hat mir Doro beigebracht. Das Erste, was man macht, wenn einem ein Computer in die Hände fällt, ist eine Blindkopie der gespeicherten Daten. Sie sehen ja selbst, was alles passieren kann.«

»Muss ja eine tolle Frau sein, diese Doro«, grunzte Stefanie.

Netterscheid winkte ab.

»Meine Frau ist da ganz anderer Meinung.«

 

 

 

 

 

Kapitel 19

 

 

Grimmig starrte ich durch die Frontscheibe, über die der Scheibenwischer inzwischen pausenlos rotierte. Nachdem wir die A7 erreicht hatten, setzte prompt Nieselregen ein. Wir hatten in der Hütte oberhalb von Berwang erst den Gewitterschauer abgewartet und waren dann kurz vor Einbruch der Dunkelheit aufgebrochen. Mit Lena im Rollstuhl und Miss Sophie wäre eine Übernachtung in dieser gottverlassenen Kate tatsächlich etwas beschwerlich, um nicht zu sagen unmöglich gewesen, zumal man dort oben auf dem Berg wahrlich nicht auf Gäste eingerichtet schien. Miss Sophie hätte zur Not gemeinsam mit diesem 'Nannerl' im Nachbarraum schlafen können, aber Lena wollte ich eine Nacht im Rollstuhl auf jeden Fall ersparen. Für mich wäre sowieso nur die Holzbank als Nachtlager übrig geblieben. Auch nicht gerade das reine Vergnügen.

Eigentlich hatten wir vorgehabt, erst einmal in ein Hotel zu gehen. Als wir jedoch endlich wieder deutschen Mobilfunkempfang hatten, begannen sich nach und nach unsere Sprachboxen zu melden. Ich warf einen Blick auf das Display meines Handys. Was wollte der denn von mir? Und dann gleich zehnmal hintereinander. Seufzend drückte ich die Wahlwiederholung.

»Was gibt's?«

»Wo steckst du, zum Henker?« keuchte Lanzerath. »Du bist seit Stunden nicht erreichbar.«

»Wir waren in Tirol. Dort liegt vereinzelt sogar noch Schnee.«

»Wer wir, und was treibst du ausgerechnet in Österreich?«

»Miss Sophie und Lena hatten Lust auf einen Ausflug in die Berge. Du weißt doch selbst, auf was für Ideen die Weiber manchmal kommen.«

»Auaah!« fügte ich hinzu, weil sich der Ellenbogen meiner Beifahrerin in meine Hüfte bohrte. Lena schaltete mein Handy auf Lautsprecher.

»Ausflug in die Berge? Sagt mal, habt ihr sie noch alle? Wisst ihr eigentlich, was bei uns los ist? Der Balfelderin ist angeblich in eine Schwarzgeldaffäre verstrickt, und bei dir auf dem Weingut ist das BKA aufgetaucht und hat alles auf links gedreht.«

»Wie bitte?« riefen Lena und ich beinahe gleichzeitig.

»Soweit ich mitbekommen habe, stehst du gemeinsam mit deinem Onkel im Fall Gregor Weisz ganz oben auf der Liste der üblichen Verdächtigen.«

»Spinnen die jetzt komplett, oder was?«

»Keine Ahnung. Jedenfalls sind vorhin zwei Gestalten aus Meckenheim bei dir aufgetaucht und haben das Unterste zu oberst gekehrt.»

»Wonach haben die denn gesucht? Nach einem Flaschenöffner?«

»Nach Pentobarbital. An dem Zeug ist Gregor Weisz angeblich gestorben.«

»Ich dachte, der hätte sich aufgeknüpft.«

»Was weiß ich, was die vom BKA inzwischen alles herausgefunden haben. Auf jeden Fall hat bei seinem angeblichem Selbstmord jemand kräftig nachgeholfen.«

»Was habe ich denn mit Pentobarbital am Hut? Soweit ich informiert bin, ist das ein Tierarzneimittel. Sowas kriegt man bei uns nicht mal auf Rezept. Schon gar nicht in der Apotheke.«

»Bei uns vielleicht nicht«, gab Lanzerath zu bedenken. »Aber vielleicht in Frankreich. Denk mal nach. Dein Onkel war schließlich jahrelang in der Rinderzucht beschäftigt.«

 

»Was ist denn eigentlich genau passiert?« wollte Lena wissen.

Lanzerath holte tief Luft.

»Nicht viel. Gegen vier Uhr nachmittags haben wir die Bude abgesperrt, Caddy machte noch rasch die Abrechnung...«

»Was hat denn Caddy immer noch bei uns zu suchen?« unterbrach ich seinen Redefluss. »Der soll gefälligst erst mal bei sich daheim aufräumen, ehe er bei mir alles durcheinander bringt.«

»Der kam irgendwann bei mir vorbei, wahrscheinlich, weil ihm daheim langweilig war. Er meinte, in seinem Laden wäre eh nichts mehr zu retten, und pleite sei er inzwischen sowieso. Wir sind dann zu euch aufs Weingut gefahren. Karl meinte, es sei schönes Wetter, und da könnte man den Laden ruhig aufsperren. Caddy hat sich dann aus lauter Langeweile hinter deinen Computer geklemmt. Von Buchführung versteht der jedenfalls was, das muss man dem alten Kramwarenhändler lassen. Alle Achtung.«

»Und die Leute waren tatsächlich vom BKA?« mischte sich Lena ein. »Nicht etwa vom Ordnungsamt?«

Sie warf mir einen vielsagenden Blick zu.

»Bei illegaler Straußwirtschaft verstehen die nämlich überhaupt keinen Spaß.«

»Sagt mal, rede ich so undeutlich? Also, nochmal zum Mitschreiben: Die letzten Kunden waren gerade gegangen, da meinte Karl, er hätte noch einen Rest Lasagne im Kühlschrank und den wollte er für uns in den Backofen schieben. Wir sperrten also zu und gingen hinüber ins Haus. Das Essen stand kaum auf dem Tisch,...«

»Welch ein Jammer!« platzte ich heraus. Wenn es ganz schlecht gelaufen war, dann hatte der arme Kerl auch noch mit knurrendem Magen alles über sich ergehen lassen müssen.

»...da platzt so eine wild gewordene Tussi mit einem Typen im Trenchcoat bei uns rein, hält Karl einen Durchsuchungswisch unter die Nase und fängt sofort damit an, deine Bude auf links zu drehen. Ich habe mehrmals versucht, dich zu erreichen, aber du warst wie vom Erdboden verschluckt.«

»Wir hatten dort oben keinen Empfang.«

»Wo, dort oben? Seid ihr etwa tatsächlich zum Skilaufen aufgebrochen? Ihr habt vielleicht Nerven!«

»Wir waren zwar auf einer Alm, aber keineswegs zu unserem Vergnügen. Aber das erkläre ich dir später. Was ist danach passiert?«

»Wie gesagt, die haben bei dir im Laden herumgewühlt, als wärst du ein stadtbekannter Drogendealer oder zumindest der Clubchef von Bayern München.«

»Und? Haben sie was gefunden?«

»Nö. Das habe ich den beiden Spaßvögeln auch von Anfang an prophezeit. Aber die waren so dienstgeil, das kannst du dir gar nicht vorstellen. Hinterher hat ihnen Karl ein paar Schnittchen zurecht gemacht, und zum Schluss waren sie fast schon handzahm.«

»Haben die einen konkreten Grund für die Durchsuchung genannt?«

Lanzerath machte einen kurze Pause.

»Na ja, bei uns ist es an dem Abend vor Weisz' Tod schließlich ganz schön hoch her gegangen. Anscheinend hat die Sartorius aus dem Nähkästchen geplaudert. Ich sag's ja immer: Bloß keine fremden Weiber zum Abendessen einladen. Das gibt nix als Ärger. Nachdem Margarete und Marianne den Autounfall hatten und kurz darauf auch noch Gregor Weisz tot aufgefunden wurde, sind die beim BKA natürlich hellhörig geworden. Besonders deshalb, weil sie herausbekommen haben, dass Karl wegen irgendeiner Ossi-Geschichte ein paar Jahre im Knast saß. Weißt du eigentlich, worum es dabei genau ging?«

»Schnee von gestern«, erwiderte ich mit Blick auf Lena, die mir einen fragenden Blick zuwarf. »Keinen blassen Schimmer, wie die das herausgefunden haben. Das liegt beinahe dreißig Jahre zurück und überhaupt, wegen sowas bringt man auch niemanden um. Abgesehen von ein paar Gläschen, die Gregor vielleicht zuviel getrunken hatte, war er jedenfalls putzmunter, als er uns verließ.«

Ich überlegte fieberhaft, was danach passiert sein konnte. Karl und ich hatten die Küche aufgeräumt, ich genehmigte mir noch einen Absacker, er hingegen ging kurz mit Robespierre Gassi, und anschließend legten wir uns schlafen. Ob vielleicht Karl irgendwann nachts mit dem Volvo...? Der stand schließlich wie üblich unverschlossen in der Garage. Unwillkürlich schüttelte ich den Kopf. Absurd! Wie hätte er denn Gregor mitten in der Nacht ausfindig machen sollen? Allerdings lag dessen Schule als Übernachtungsort durchaus auf der Hand. Sein Mörder schien jedenfalls den richtigen Riecher gehabt zu haben.

»Ach ja, und noch was«, fügte Lanzerath nach einer Weile hinzu. »Du bist übrigens zur Fahndung ausgeschrieben, wenn ich das richtig verstanden habe.«

»Was sagst du da? Was soll denn der Unfug?«

»Angeblich auf Weisung von diesem Netterscheid. Er hätte uns alle ausdrücklich davor gewarnt, in nächster Zeit irgendwelche Verwandte im Ausland zu besuchen. Von wegen Flucht- und Verdunklungsgefahr. Du bist mir aber auch einer. Haut einfach bei Nacht und Nebel nach Österreich ab. Ja, geht's noch?«

»Was ist mit Karl?«

Es blieb einen kurzen Moment stumm in der Leitung.

»Mit Karl? Was soll mit dem schon sein? Wie ich bereits sagte, der hat den beiden Hanseln zum Schluss sogar noch ein Abendbrot zurecht gemacht.«

»Hat er sich zu Gregor geäußert?«

»Nö, wieso? Was hätte er denn sagen sollen?«

Mir fiel ein Stein vom Herzen. Zum Glück hatte mein Onkel Details zu dem heftigen Streit mit Gregor unerwähnt gelassen. Sonst wäre er in der Liste der Hauptverdächtigen sofort an die Pool-Position gerückt. Von wegen stichhaltiges Motiv und passende Gelegenheit. Gregor zu allem Überfluss auch noch in sturzbetrunkenem Zustand, was alleine schon dadurch den Vorwurf der Heimtücke begründete. Uff! Nochmal gut gegangen!

»Was ist anschließend passiert?«

»Als die beiden Komiker verschwunden waren, versuchte Karl als Erstes, Lena zu erreichen. Fehlanzeige. Danach habe ich es bei Miss Sophie probiert, allerdings mit demselben Ergebnis. Kein Wunder, wenn ihr zu dritt im Niemandsland zwischen Villaribo und Villabajo unterwegs seid. Wir haben dann alles verriegelt und verrammelt und sind runter zum Ballensiefen. Der hatte Wildschweinbraten auf der Tageskarte. Ein Gedicht, sage ich dir. Robespierre jedenfalls schleckt dem Tuttifrutti immer noch pausenlos die Finger ab.«

»Wir sind spätestens Morgen früh zurück«, brummte ich.

 

Neben mir atmete Lena tief durch.

»Ich werde das Gefühl nicht los, dass neuerdings ständig was an mir vorbeiläuft. Wieso saß dein Onkel in Haft, und was hätte er den BKA-Beamten zum Thema Mord an Gregor Weisz überhaupt sagen können?«

Mist! Jetzt hatte sie mich. Die Kleine war aber auch sowas von ausgeschlafen. Kein Wunder, umsonst war die jedenfalls nicht Strafverteidigerin. Auch Sophia beugte sich vor. Was sollte ich tun? Einen auf schweigsam machen? Die beiden Frauen anlügen? Ich entschied mich für einen Mittelweg.

»Viel weiß ich auch nicht. Nur soviel, dass Karl in grauer Vorzeit eine Freundin in Leipzig hatte, mit der er 1983 in den Westen fliehen wollte. Alles schien perfekt vorbereitet. Er hatte sogar für viel Geld einen gefälschten Reisepass für sie besorgt. Leider hatten die beiden aber die Rechnung ohne die Stasi gemacht, denn im Haus der Freundin meines Onkels gab es einen Spitzel. Gregor. Der hat letztlich den Fluchtversuch verraten. Den Rest könnt ihr euch ja denken. Karl landete für vier Jahre in Bautzen, seine Freundin wurde in Hoheneck eingesperrt.«

»In Hoheneck?« meinte Sophia. »Zufälle gibt's.«

Lena wurde nachdenklich.

»Ein Glück, dass man bei euch nichts gefunden hat. Sonst wäre es selbst für mich schwierig geworden, dem alten Herrn die Untersuchungshaft zu ersparen. Motiv und Gelegenheit. Besser geht's nicht. Im schlimmsten Fall hätte man ihn sogar noch mit dem Mord an dieser Leinfeld in Verbindung gebracht.«

Schmunzelnd griff sie zu ihrem Smartphone.

»Egal. Das hier lasse ich mir jedenfalls nicht entgehen.«

 

»Sind Sie eigentlich noch bei Sinnen?« bellte Lena, nachdem sich die Verbindung aufgebaut hatte, »Lassen Sie Ihrer Praktikantin inzwischen alles ungestraft durchgehen?«

Lena hielt den Sprechschlitz zu.

»Deine Bekannte aus Bochum«, raunte sie mir zu.

»Nein, jetzt hören Sie mir mal zu, Gnädigste. Das sind bei euch ja inzwischen Zustände wie im alten Rom! Erst die angeblich richterlich genehmigte Zeugenbefragung in Verbindung mit dieser mehr als zweifelhaften Speichelprobe, heute Nachmittag die Hausdurchsuchung bei den Brenners. Karl Brenner ist schwer krank. Die Ärzte geben ihm höchstens noch ein paar Wochen, wie man hört. Und ausgerechnet bei dem sucht man nach Pentobarbital? Aus welchem Grund? Weil er sich mit Weisz ein bisschen über die deutsch-deutsche Vergangenheit gezofft hat? Dann können Sie auch gleich den halben Bundestag verhaften lassen. Zumindest Teile der Regierungskoalition und die komplette Mannschaft der Linkspartei.«

Die darauf folgende Stille wurde nur vom unablässigen Schlagen der Scheibenwischer und vom dumpfen Gebrumm des Motors unterbrochen. Schließlich ging der Schlagabtausch weiter.

»Wie, Sie wissen nicht, wo Frau Michels steckt? Das ist doch nicht mein Problem. Ich will hier und jetzt erfahren, was es mit dieser hirnrissigen Aktion bei den Brenners auf sich hat und wer dafür verantwortlich ist. Und des weiteren möchte ich wissen, was euch dazu einfällt, Hagen Brenner auch noch zur Fahndung auszuschreiben.«

Erneut trat für einen kurzen Augenblick Stille ein.

»Ja, Sie haben ganz richtig gehört. Ihr ehemaliger Mitarbeiter aus Bochum ist zur Fahndung ausgeschrieben. Warum? Fragen Sie das doch diese junge Hippe oder diesen Schmalspur-Schimanski.«

Erneut kurze Stille.

»Ach, hören Sie mir doch auf mit dringenden Verdachtsmomenten! Und es ist mir, gelinde gesagt, sowas von schnurz, in welcher Theateraufführung Sie im Augenblick hocken. Federführend im Fall Grafenstein ist die Staatsanwaltschaft Trier. Das BKA wird ja wohl kaum ohne Absprache mit euch tätig werden. Falls doch, meine Liebe, haben Sie anscheinend Ihren Laden nicht im Griff. Irgendjemand muss ja wohl den Durchsuchungsbeschluss und den Fahndungsaufruf unterschrieben haben, oder macht sowas bei euch inzwischen die Putzfrau?«

Lena deutete auf ihr Smartphone.

»Die Alte will mit dir reden«, meinte Lena und koppelte das Gerät mit der Freisprecheinrichtung.

»Die 'Alte' habe ich gehört!« fauchte meine ehemalige Chefin.

»Jung sind sie aber auch nicht«, bellte Lena zurück.

 

»Wo stecken Sie?«

»Auf der A7 irgendwo zwischen Kempten und Memmingen«, gab ich bereitwillig zur Auskunft. »Jetzt tun Sie uns bitte den Gefallen und nehmen diesen dämlichen Fahndungsaufruf zurück. Ich habe keine Lust, die Nacht vielleicht noch in irgendeiner Zelle zu verbringen, sollten wir unterwegs in eine Polizeikontrolle geraten. Hören Sie, Sabine, ich habe mit Gregor Weisz' Tod nicht das Geringste zu tun. Mein Onkel übrigens auch nicht. Für den lege ich meine rechte Hand ins Feuer.«

»Wir stritten bei uns auf dem Weingut ganz allgemein über die damaligen Verhältnisse in der DDR«, fuhr ich schließlich fort. »Zugegeben, Margarete Sandhoff und Gregor Weisz vertraten dabei ziemlich kontroverse Ansichten, besonders als es um die damaligen Verhältnisse in den einzelnen Haftanstalten ging, aber das ist doch letztlich alles Schnee von gestern. Deswegen bringt man sich doch nicht gegenseitig um. Wer überhaupt ein Motiv hätte, wäre allenfalls Margarete Sandhoff, aber die hatte kurz vor Gregors Tod selbst diesen tragischen Verkehrsunfall. Also fällt sie als Tatverdächtige flach. Tja, da muss Ihre Frau Michels wohl noch ein bisschen weiter recherchieren.«

»Warum sind Sie kurz nach dem Mord an Gregor Weisz, ohne einen Ton zu sagen, ins Ausland verschwunden? Nicht einmal Ihr näherer Bekanntenkreis wusste Bescheid. Wie hätten Sie an unserer Stelle reagiert?«

»Vermutlich genauso«, räumte ich ein. »Es sei denn, die Chefin der Staatsanwaltschaft kennt den Verdächtigen und weiß, dass der zu so einem Verbrechen niemals fähig wäre.«

»Hören Sie schon auf«, lachte meine ehemalige Vorgesetzte, doch ihr Lachen klang irgendwie hohl. »Meine Güte, wie oft haben wir beide uns solche Sprüche nicht schon anhören müssen? Ich war es nicht, Herr Kommissar. Sie müssen mir glauben, Frau Staatsanwältin, ich bin unschuldig.«

»Dann kann ich euch auch nicht helfen«, seufzte ich.

Es blieb einen Augenblick stumm in der Leitung.

»Ich werde sehen, was sich machen lässt, aber von jetzt an bitte keine Alleingänge mehr, verstanden? Es würde übrigens einen guten Eindruck machen, wenn Sie sich nach Ihrer Rückkehr bei der Staatsanwaltschaft melden würden.«

»Mit welcher Begründung?« fuhr meine Beifahrerin dazwischen.

Ich beendete das Gespräch und warf meiner Beifahrerin einen beruhigenden Blick zu.

»Lass mal gut sein, Lena. Manchmal ist es besser, nicht mit dem Kopf durch die Wand zu gehen, sondern nach deren Spielregeln zu spielen. Deine Qualitäten als Strafverteidigerin in allen Ehren, aber Sabine Breuer möchte ich für nichts auf der Welt zur Gegnerin haben. Glaube mir, ich weiß, wovon ich spreche. Ich habe lange genug mit ihr zusammengearbeitet«

Seufzend gab ich dem Geländewagen die Sporen.

 

~~~~~~~

 

Verblüfft starrte Lydia Sartorius auf die Kevlarweste, die ihr Netterscheid etwas wortkarg entgegenhielt. Gleichzeitig fiel ihr Blick auf den Pullover des BKA-Beamten. Die drei Einschusslöcher im Brustbereich waren kaum zu übersehen. Dass ein Polizist nach überstandenem Kugelhagel als erstes bei der Staatsanwaltschaft auftauchte und sich nicht etwa zur Behandlung in eine Notfallklinik begab, hatte sie jedenfalls noch nicht erlebt. Als sie den Anruf von Stefanie Michels erhielt, war sie gerade auf dem Weg ins Theater. Jetzt hockte sie im Büro der Staatsanwältin. In paillettenbesetztem Abendkleid und silberfarbenen Riemchensandalen. Zum ersten Mal kam sie sich ziemlich deplatziert vor.

»Das ist erstklassiges Spurenmaterial, meine Liebe. Machen Sie sich ans Werk! Ich möchte wissen, ob die Kugeln aus der gleichen Waffe stammen, mit der in Grafenstein herumgeballert wurde.«

»Und der Kerl hat auf Sie geschossen? Aus nächster Nähe?«

Aufstöhnend ließ sich Netterscheid in einen der Besuchersessel sinken.

»Ich sage Ihnen, wenn ich den erwische, der kann sich auf was gefasst machen. Das war ein glasklarer Mordversuch. Auf solch kurze Distanz hätte ohne Schutzweste keiner eine Chance gehabt. Im übrigen war der Kerl vermummt. Weder Frau Michels noch ich hätten ihn anschließend identifizieren können. Ein Schuss wäre nach meiner Ansicht vollkommen ausreichend gewesen, um mich auszuschalten. Aber nein, der Typ veranstaltet da förmlich ein Ego-Shooting.«

Einer von Lydias Mitarbeitern betrat das Büro. Die Einschusslöcher in Netterscheids Pullover beachtete er kaum, als er jedoch von der Leiterin der Kriminaltechnik die Weste in Empfang nahm, pfiff er anerkennend durch die Zähne. Lydia grinste verlegen.

»Wir brauchen das Ergebnis so rasch wie möglich. Das bekommt ihr doch hin, oder?«

»Kein Problem.«

Er wollte bereits auf dem Absatz kehrt machen, als ihn Netterscheid zurückpfiff.

»Nicht so schnell, junger Freund.« Gleichzeitig hielt er den Datenstick in die Höhe. »Wo Sie schon dabei sind, werfen Sie doch mal einen Blick auf die Dateien, die ich vom Notebook der Toten heruntergeladen habe. Vielleicht finden Sie ja was Interessantes.«

Der Mann nickte, nahm den Datenträger entgegen und verschwand.

 

Netterscheid griff nach dem Telefon.

»Was habt ihr in der Zwischenzeit herausgefunden?« fragte er übergangslos und massierte gleichzeitig die Körperpartien, wo sein Pullover Einschusslöcher aufwies. »Warte, ich stelle auf Lautsprecher. Ich sitze gerade mit der Chefin der Trierer Spusi im Büro der Staatsanwältin.«

Er deckte kurz die Sprechmuschel ab.

»Unsere Forensikerin.«

»Ah, die geheimnisvolle Doro«, frotzelte Stefanie. Lydia warf ihr einen verständnislosen Blick zu.

»Erkläre ich Ihnen bei Gelegenheit.«

Die Frau am anderen Ende der Leitung räusperte sich.

»Nachdem man uns den Durchsuchungsbeschluss zugefaxt hatte, bin ich gemeinsam mit Klaus zum Weingut vom Brenner gefahren. Allerdings waren nur dessen Onkel und zwei Einheimische vor Ort. Dieser Moutussi erscheint mir unverdächtig. Schließlich ist der Typ ja selbst überfallen worden. Er trägt immer noch einen Verband um den Kopf. Der Dritte im Bunde war der örtliche Bestatter. Auch niemand auf unserer Prioritätenliste.«

»Hat die Durchsuchung was ergeben?«

»Nichts. Wohnhaus und Verkaufsraum waren absolut clean. Ehrlich gesagt, hatte ich auch nichts anderes erwartet.«

Netterscheid seufzte.

»Langsam kriege ich die Krise. Was ist eigentlich mit diesem Hagen Brenner? Läuft die Fahndung?«

»Wurde auf Weisung der Oberstaatsanwältin zurückgenommen. Angeblich ist er auf dem Weg zurück nach Grafenstein.«

»Wo hat der sich denn herumgetrieben?«

»Soweit ich weiß irgendwo in Österreich.«

»In Österreich? Was wollte der denn da? Skilaufen? Bisschen spät für die Jahreszeit.«

»Keine Ahnung. Das müssen Sie ihn schon selber fragen. Aus der Breuer war jedenfalls nichts herauszubekommen.«

Netterscheid verzog das Gesicht.

»Ich komme Morgen später ins Büro. Vielleicht auch gar nicht. Ich muss mich erst mal auskurieren.«

»Wieso?« grunzte Doro. »Hat etwa schon wieder einer auf Sie geschossen?«

»Kannst du Gedanken lesen?«

»Wie oft?«

»Dreimal.«

»Sie steigern sich. Sollen wir jemanden zur Fahndung ausschreiben?«

»Einen vermummten Motorradfahrer auf einer Geländemaschine mit einem geklauten Notebook unterm Arm. Viel Glück.«

»Gute Besserung, Chef.«

 

Netterscheid legte den Hörer zurück auf die Gabel und verzog das Gesicht. Lydia erhob sich, stöckelte auf den BKA-Beamten zu und forderte ihn auf, den Pullover abzustreifen und das T-Shirt hochzuziehen.

»Was soll das werden, Gnädigste? Eine verdammte Strip-Show?«

»Quatschen Sie hier nicht lange herum, Sie Held. Also, wird's bald?«

»Sind Sie neuerdings auch Ärztin?«

»Ich bin ausgebildete Rettungssanitäterin. Damit habe ich mir seinerzeit das Studium finanziert.«

Netterscheid fasste mit den Händen in den Halsausschnitt und versuchte den Pullover über den Kopf zu ziehen. Nach der Hälfte musste er aufgeben, so heftig waren die Schmerzen.

»Warten Sie, ich mache das schon«, meinte Lydia und riss ihm mit Schwung den Pullover vom Körper.

»Auaah! Können Sie nicht ein bisschen vorsichtiger sein?«

»Wehleidig ist er auch noch. Los, das T-Shirt hoch.«

Als seine dicht behaarte Brust zum Vorschein kam, wich Lydia instinktiv einen Schritt zurück. Körperbehaarung war ihr ein Gräuel. Schon alleine deshalb wäre es ihr niemals möglich gewesen, mit einem Mann intim zu sein. Sie selbst ging jeden Monat zum Entwachsen in eine Beautyklinik. Auch wenn es noch so unangenehm war.

»Was haben Sie denn? Ich dachte, Sie wären immer die Erste am Tatort. Da sollte ihnen ein halbnackter Mann doch wohl nicht fremd sein. Im übrigen haben Sie gewollt, dass ich mich vor Ihnen ausziehe.«

Ohne zu antworten, drückte Lydia zielsicher auf eine der drei pechschwarzen handtellergroßen Hämatome.

»Scheiße!« jaulte Netterscheid auf. »Wollen Sie mich umbringen, oder was?«

»Sie Ärmster«, antwortete Lydia ohne jedes Mitgefühl und drückte gleichzeitig auf das nächste Hämatom. Beinahe wäre Netterscheid an die Decke gesprungen.

»Deutliche Krepitationsgeräusche. Palpation ergibt jedoch keine Anzeichen von Dislokation.«

»Im Klartext?«

»Schwere Rippenprellung und minder schweres Bauchfelltrauma. Keine Fraktur tastbar. Ich würde sagen, täglich drei Aspirin, eine Kanne Kamillentee, und der Patient ist in zwei Wochen schmerzfrei.«

»Kamillentee?«

»Von mir aus auch Cognac. Was ihnen besser schmeckt.«

»Da bin ich aber erleichtert.«

Mit vorsichtigen Bewegungen streifte er sich wieder Pullover und T-Shirt über die Schultern.

»Ich denke, ich bringe Sie jetzt erst mal ins Krankenhaus«, mischte sich Stefanie ein. »Zumindest die Rippenverletzung sollte sich ein Arzt anschauen.«

»Wenn überhaupt«, seufzte Netterscheid »dann aber ins Marienhospital. Ich möchte unbedingt mal einen Blick auf das andere Unfallopfer werfen.«

»Und ich kümmere mich solange um den Datenstick«, nickte Lydia. »Möchte zu gerne wissen, was diese Erna Leinfeld so Interessantes auf ihrem Notebook gespeichert hat, dass man dafür nicht einmal vor einem Mordversuch zurückschreckt.«

 

~~~~~~~

 

Als Stefanie Michels auf den Parkplatz des Marienhospitals einbog und eine freie Lücke suchte, herrschte längst Dunkelheit. Im Zwielicht der Straßenbeleuchtung war ihr daher der Geländewagen dicht neben dem Fahrradunterstand zunächst gar nicht aufgefallen.

»Halten Sie an!« rief der BKA-Beamte und öffnete noch im Fahren die Beifahrertür. Während sie für den Mercedes eine freie Lücke suchte, ging Netterscheid bereits um den Geländewagen herum.

»Bingo«, meinte er, als Stefanie hinzukam. Gleichzeitig deutete er auf die Halterung in Höhe der Stoßstange, die zerschrammte Motorhaube und den nur notdürftig ausgebeulten rechten Kotflügel. Auch die Beifahrertür hätte dringend ausgetauscht werden müssen.

»Dort war jedenfalls mal ein Rammschutzbügel montiert. Man erkennt es ganz deutlich an den vorstehenden Verschraubungen. Wollen wir wetten? Das ist der SUV, mit dem man...«

Stefanie schaute ihn entsetzt an. Ihm fiel es in diesem Augenblick genauso wie Schuppen von den Augen.

»Die Sandhoff!« riefen beide gleichzeitig. Netterscheid hatte wegen seiner Brustverletzung einige Mühe, der Staatsanwältin zu folgen.

»Wo liegt das Unfallopfer von vergangener Nacht?« keuchte Stefanie, als sie den Empfang erreichten. Ein junger Mann, dem Anschein nach Sozialdienstleistender, schaute mürrisch von seinem Schreibtisch hoch. Offenbar hatten sie ihn beim Chatten im Internet gestört.

»Wer will das wissen?«

Stefanie zückte ihren Ausweis, Netterscheid legte demonstrativ seine Dienstmarke auf den Tresen.

»Machen Sie flott!« rief er. »Auf welcher Station liegt Frau Sandhoff?«

Der junge Mann zuckte die Schultern. Typisch Generation Stuttgart-21. So jemanden beeindruckte höchstens Pfefferspray oder ein Hochdruck-Wasserwerfer.

»Weder verwandt noch verschwägert? Da muss ich erst mal nachfragen, ob ich Ihnen überhaupt...«

»Hören Sie mit dem Quatsch auf!« fauchte ihn Netterscheid an. »Die Dame neben mir ist von der Staatsanwaltschaft Koblenz, und ich bin Ermittlungsbeamter beim Bundeskriminalamt. Jetzt mal fix, junger Freund! Wo finden wir die Patientin?«

Der junge Mann warf einen gelangweilten Blick in eine Liste.

»Keine Ahnung. Ich finde jedenfalls keine Frau Sandhoff in meinen Unterlagen. Aber wir hatten heute zwei Verkehrsunfälle. Fragen Sie am besten auf der Intensivstation nach. Zweiter Stock links. Ich muss aber trotzdem erst...«

Netterscheid packte Stefanie am Ärmel ihres Mantels. »Machen Sie schon! Da vorne ist der Aufzug.«

Eine gefühlte Ewigkeit später erreichten sie den zweiten Stock. Vor der Intensivstation wurden sie von einer geschlossenen Tür mit Gegensprechanlage gestoppt. Netterscheid drückte wie wild auf den Klingelknopf.

»Habt ihr sie nicht mehr alle?« beschwerte sich eine ungehaltene Stimme. »Das hier ist die Intensivstation. Was wollen Sie überhaupt? Besuchszeiten sind...«

»Netterscheid vom BKA. Machen Sie sofort die Tür auf. Eine Ihrer Patientinnen ist in Gefahr.«

»Bundeskriminalamt«, gluckste die Stimme. »Geht's vielleicht noch eine Spur dramatischer?«

»Wenn Sie nicht sofort öffnen, breche ich die Tür auf.«

»Moment.«

Mit einem satten Zischen glitt die Tür zur Seite. Vor ihnen stand eine korpulente Frau in grünem OP-Outfit mit Mundschutz, der locker vor ihrem Kinn baumelte.

»Erst mal ein bisschen ruhiger, meine Herrschaften«, schnaufte sie. »Unsere Patienten schlafen bereits. Darf ich mal Ihren Dienstausweis sehen?«

Netterscheid kam auch diesmal der Aufforderung nach und zeigte seine Dienstmarke.

»Sowas kriegt man bei Ebay an jeder Ecke für fünf Euro«, meinte sie verächtlich.

Jetzt verlor Stefanie die Geduld. Sie zückte ihren Dienstausweis und hielt ihn der Frau direkt unter die Nase.

»Kriegt man sowas vielleicht auch im Internet?«

Die Frau wich einen Schritt zurück.

»Staatsanwaltschaft? Mitten in der Nacht?«

»Da sehen Sie mal. Das Gesetz schläft nie. Wo also finden wir das Unfallopfer von vergangener Nacht?«

Die Frau im grünen Kittel kratzte sich das Kinn.

»Welche meinen Sie? Das waren zwei. Die sind, soweit ich weiß, längst auf Station verlegt worden. Fragen Sie mal auf der Chirugischen nach.«

»Und wo finden wir die Chirurgie?« wollte Netterscheid wissen.

»Ein Stockwerk tiefer. Herrje, Sie sind schon der Zweite, der sich nach einer der beiden Frauen erkundigt. Hat die etwa was ausgefressen?«

»Wer hat sich sonst noch nach der Frau erkundigt?«

»Ein Mann. Angeblich ein entfernter Verwandter. Weil er sich aber nicht ausweisen konnte, wurde er weggeschickt. Wir haben da so unsere Vorschriften, verstehen Sie?«

»Brav«, rief Netterscheid über die Schulter hinweg und schob Stefanie erneut zum Aufzug.

 

Die Chirugische Abteilung des Marienhospitals schien wie ausgestorben. Jedenfalls sahen sie weit und breit kein Pflegepersonal geschweige denn einen Arzt. Auch das Stationszimmer schien verwaist. Am Ende des Gangs entdeckte Netterscheid einen Uniformierten. Er hockte auf einem Stuhl. Also war man seiner Bitte, dem Unfallopfer Personenschutz zu gewähren, nachgekommen. Allerdings machte der Mann keinen besonders wachen Eindruck. Er hing halb zurück gekippt in seinem Stuhl.

»Jetzt pennt der Kerl auch noch!«

Doch der Uniformierte schlief nicht. Als der Kriminalhauptkommissar an der Schulter des Uniformierten rüttelte, glitt der Andere widerstandslos zu Boden. Stefanie beugte sich über ihn.

»Betäubt!« meinte sie verblüfft.

Netterscheid zog seine Dienstwaffe und zog demonstrativ den Schlitten zurück.

»Sie bleiben gefälligst draußen«, rief er, doch Stefanie hatte sich längst wieder erhoben und bereits die Klinke zum Patientenzimmer heruntergedrückt.

Schon als sie den Raum betrat, merkte sie, dass da etwas nicht stimmte. Die Gestalt in grünem Kittel und OP-Maske beugte sich gerade über eine offenbar schlafende Frau. Als er die Staatsanwältin eintreten sah, wirbelte er herum. Zwar konnte man nur seine Augenpartie erkennen, aber die sprach Bände. Hinter der OP-Maske funkelte ein Paar bernsteinfarbener Augen. Dieselben Augen, die sie ein paar Stunden zuvor auf dem Parkplatz in Spa angefunkelt hatten. Bruchteile von Sekunden später lag eine Waffe in seiner Hand. Eine Ceska mit Schalldämpfer.

»Zur Seite!« brüllte Netterscheid und stieß Stefanie zu Boden. Doch sein Gegenüber reagierte eiskalt. Er hielt die Waffe an die Schläfe der Patientin.

»Kanone auf den Boden legen! Ganz langsam! Und dann mit dem Fuß zu mir hinüberschieben.«

Netterscheid überlegte. Kam er der Aufforderung nach, würde der Kerl anschließend trotzdem ein Blutbad anrichten. Wegen des Schalldämpfers würde niemand vom Stationspersonal etwas merken, und dadurch konnte er sich anschließend in aller Seelenruhe aus dem Staub machen. Netterscheid war klar, dass der Kerl keine Zeugen brauchte. Er hob seine Waffe und schoss. Auch sein Gegenüber drückte ab. Das abgefeuerte Projektil riss den BKA-Beamten förmlich von den Beinen.

 

~~~~~~~

 

Nachdem sie einen kräftigen Schluck zu sich genommen hatte, griff sie zu dem Handy mit der noch unbenutzten Prepaidkarte.

»Laurin lässt grüßen.«

»Gut, dass Sie anrufen«, meldete sich eine männliche Stimme. »Wir haben ein Problem.«

»Probleme habe ich selber«, schnaubte die Anruferin. »Was ist denn jetzt schon wieder los?«

»Unser Mann ist der Zielperson gefolgt. Leider gab es einen Zwischenfall.«

Der Mann schilderte die Ereignisse.

»Der hat einen BKA-Beamten umgelegt? Ist der noch bei Trost? Konnte man das nicht irgendwie eleganter lösen?«

»Leider nein. Dafür haben wir aber wenigstens dieses gottverdammte Notebook.«

»Soll mich das jetzt etwa beruhigen? Was ist mit den Dateien? Konnte die vorher vielleicht noch jemand auslesen?«

»Die sind gesichert.«

»Ein Datentresor mit Passwort?«

»Nein, viel besser. Und wesentlich unauffälliger. Aber das würde im Augenblick zu weit führen. Die Frage ist nur, wie halten wir die Kleine aus der Angelegenheit heraus?«

»Welche Kleine?«

»Ihre junge Mitarbeiterin.«

»Der Typ vom BKA war mit der Michels unterwegs?«

»Keine Ahnung, warum die den begleitet hat. Vielleicht ist sie ja in ihn verknallt.«

»Toll!« meinte die Frau. »Jetzt haben wir einen toten BKA-Ermittler und vermutlich auch noch eine Augenzeugin.»

»Nicht zu ändern«, fuhr sie nach kurzem Überlegen fort. »Ich hoffe, Sie wissen, was zu tun ist.«

»Koslowsky ist einer meiner besten Leute«, jammerte der Mann.

»Aber anscheinend nicht gut genug. Ich denke, wir sollten für alle Eventualitäten gewappnet sein.«

»Na schön, aber erst, nachdem er seinen Job erledigt hat. Dieses kleine Miststück wird auf jeden Fall noch eliminiert. Sonst haben wir vor der noch in fünfzig Jahren keine Ruhe. Anschließend sehen wir weiter. Ich lasse mir was einfallen.«

Zufrieden grunzend legte sie auf.

 

~~~~~~~

 

»Wie sieht's aus, Stefan? Hast du was herausgefunden?«

Der Mann hinter dem Computerbildschirm drehte sich zu Lydia herum und pfiff leise durch die Zähne.

»Himmel, wo hat man Sie denn hergeholt? Waren Sie bei der Oscar-Verleihung?«

Ihre Mundwinkel verzogen sich zu einem Schmunzeln.

»Ich war auf dem Weg ins Theater, als mich ein Anruf der Staatsanwältin erreichte. Sie und dieser Netterscheid haben in der Wohnung von Erna Leinfeld ein bisschen herumgestöbert. Dabei fiel ihnen ein Notebook in die Hände. Das allerdings wurde ihnen kurze Zeit später von irgendeinem wild gewordenen Pistolero auf offener Straße wieder abgenommen. Zum Glück konnte Netterscheid vorher noch eine Kopie der Daten herunterladen.«

»Ach, deshalb«, murmelte ihr Mitarbeiter. »Ich habe mich schon gewundert.«

»Mach's nicht so spannend! Was hast du herausgefunden?«

»Mal der Reihe nach. Das Schriftgut ist unwichtig. Korrespondenz mit der Hausverwaltung, ein paar Fachwerkstätten und anderer belangloser Kram. Das Übliche halt. Ansonsten ein paar Gebrauchsanleitungen im PDF-Format. Jedenfalls nichts von Bedeutung. Dafür jedoch jede Menge Urlaubsfotos.«

»Urlaubsfotos?«

»Genau. Von der belgischen Küste, den Ardennen, der Maas-Region. Schnappschüsse halt. Mit irgendeiner Billigkamera aufgenommen.«

Er schaute seine Chefin verschmitzt an.

»Ich gebe Ihnen einen Tipp. Wozu eignen sich JPEG-Bilddateien sonst noch?«

Lydias Mundwinkel zogen sich nach oben.

»Secrets?«

»Genau. Versteckte Datensätze, eingebettet in JPEG-Bilder. War eine mühsame Suche, denn nur ein einziges Bild weist derartige Hinweise auf. Ein Laie hätte sich da zum Schänzchen gesucht. Wie ich darauf gekommen bin? Es ist das einzige Foto, das mit einem Bildbearbeitungsprogramm verändert wurde. Auf die Idee muss man erst mal kommen. Bestimmt fünfhundert Bilder auf der Festplatte, und nur eines besitzt ein verstecktes Skript.«

»Was enthält der Datensatz?«

»Benutzernamen und Passwort für eine Cloud. Das Passwort ist ziemlich gut. Eine Reihenfolge aus sechsunddreißig Zahlen, Buchstaben und Sonderzeichen. Sowas kann man sich wirklich kein Schwein auf Dauer merken. Zum Glück war das Passwort unverschlüsselt, und hier hat die Gegenseite zum ersten Mal einen wirklich eklatanten Fehler begangen. Zum Dechiffrieren solch einer Zeichenreihe hätte es Tage gebraucht. In der Cloud befindet sich jede Menge Schriftverkehr mit Leuten aus dem In- und Ausland, aber auch zahlreiche Kontoauszüge und Depotbescheinigungen.«

Er notierte ihr die Zugangsdaten auf einen Zettel.

»Schauen Sie sich das am besten mal in aller Ruhe an. Ich werde nicht recht schlau aus diesem Sammelsurium. Das meiste ist in französisch und flämisch.«

Als die Uhr in Lydias Büro den folgenden Tag einläutete, dämmerte ihr langsam, dass Stefanie Michels mit ihrem Besuch in Belgien einen ganz dicken Fisch an Land gezogen hatte. Diese Unterlagen würden einer Menge Leute den Kopf kosten. Mit wenigen Mausklicks mailte sie die Ergebnisse sowohl ans BKA als auch an die Staatsanwaltschaft Trier. Ein folgenschwerer Fehler, wie sich kurz darauf herausstellen sollte.

 

~~~~~~~

 

Erst als der Kerl bereits geraume Zeit verschwunden war, traute sie wieder unter dem Nachbarbett hervor. Zur Untätigkeit verdammt, war ihr nichts anderes übrig geblieben, als unter dem Bett der Dinge zu harren, die sich über ihrem Kopf abspielten. Gleichzeitig mit dem Schuss aus Netterscheids Waffe vernahm sie erneut das eigentümliche Ploppen, das sie zum ersten Mal auf dem Parkplatz in Spa gehört hatte. Der Vermummte schoss anschließend zwar auch noch in ihre Richtung, doch die Projektile verfehlten zum Glück ihr Ziel und prallten von dem gebohnerten Fußboden richtungslos ab.

»Hilfe!« brüllte sie aus voller Kehle, denn Netterscheid lag inzwischen inmitten einer breiten Blutlache. Unwillkürlich stöhnte sie auf. Der BKA-Beamte war dem Kerl ungeschützt gegenüber getreten. Seine Kevlarweste befand sich bekanntlich in der KTU.

»Hilfe!« brüllte sie erneut. Mit zitternden Händen suchte sie den Notrufknopf. Dabei fiel ihr Blick auf das Unfallopfer. Die Frau schaute sie mit weit aufgerissenen Augen angsterfüllt an.

»Keine Sorge, wir sind von den Guten«, versuchte sie die Patientin zu beruhigen. Die Frau nickte nur stumm und schloss wieder die Augen.

Die Tür flog auf. Eine Krankenschwester mit weißem Kittel und den unvermeidlichen Birkenstock-Sandalen stürmte in den Raum.

»Was machen Sie da?«

In gleichen Moment bemerkte sie den blutüberströmten Mann auf dem Fußboden.

»Ich bin Staatsanwältin, und der Mann hier am Boden ist Beamter beim BKA. Wir sind wegen Frau Sandhoff hier.«

Die Frau in weißer Schwesterntracht runzelte kurz die Stirn.

»Welche Frau Sandhoff?«

Stefanie deutete auf die Frau, die vor ihr im Bett lag.

»Die heißt doch nicht Sandhoff«, murmelte die Krankenschwester und beugte sich gleichzeitig über den verletzten Kriminalhauptkommissar. Gleichzeitig zückte sie ein tragbares Telefongerät und wählte eine mehrstellige Nummer.

»Macht mal einen OP frei! Ich habe hier auf der Eins eine Schussverletzung. Nein, das ist kein Witz! Also, macht hinne! Der versaut mir noch den ganzen Fußboden.«

Anschließend wandte sich sie wieder an die Staatsanwältin.

»Die Frau heißt Maria Nowitzky. Sie wurde heute Vormittag mit einem Schädelhirntrauma eingeliefert. Motorradunfall auf der B53. Überhöhte Geschwindigkeit. Der Fahrer ist tot.«

Ihr Blick fiel auf das Nachbarbett.

»Verdammt nochmal, wohin ist die denn auf einmal verschwunden? Die war doch frisch operiert!«

»Wer?«

»Eine Frau, die gestern Nacht eingeliefert worden ist. Autounfall mit Fahrerflucht. Herrje, mit Kassenpatienten macht man vielleicht was mit.«

»War das vielleicht Margarete Sandhoff?« wollte Stefanie wissen.

»Keine Ahnung. Als sie bei uns auf Station kam, hatte sie jedenfalls keinerlei Papiere bei sich. Aber das ist Sache der Verwaltung.«

Instinktiv riss Stefanie den Kleiderschrank auf. Eine Schrankhälfte war leer. Die Frau, hinter der dieser Kerl in Wirklichkeit her war, hatte anscheinend im letzten Augenblick noch die Kurve gekriegt. Beinahe hätte dafür eine Unschuldige dran glauben müssen. Das durfte doch alles nicht wahr sein.

 

 

 

 

 

Kapitel 20

 

 

Dienstag

 

Als ich die Augen aufschlug, beschlich mich das Gefühl, als hätte ich die vergangene Nacht unter einer Planierraupe verbracht. Was heißt schon Nacht? Allenfalls zwei Stunden hatte ich geschlafen, ehe mich ein fremder Kerl in dunklem Anzug und hochnäsigem Butlergehabe aus den Federn trommelte und sich als erstes danach erkundigte, wie ich denn mein Frühstücksei zubereitet haben wolle. Ich lag in einem breiten Doppelbett, die Betthälfte neben mir schien jedoch unbenutzt. What else! Langsam kehrte die Erinnerung zurück. Nach der langen Autobahnfahrt hatte Lena vorgeschlagen, den Rest der Nacht auf dem Landsitz der Gräfin zu verbringen. Da auch Sophia nichts dagegen einzuwenden schien, stimmte ich schließlich notgedrungen zu.

Es war eine anstrengende Rückfahrt gewesen. Auf halber Strecke wäre ich am liebsten abgefahren und hätte ein vernünftiges Hotel gesucht, aber angesichts der Ereignisse, die sich bei uns daheim abspielten, schien es doch angeraten, so schnell wie möglich wieder vor Ort zu sein. Nicht auszudenken, was die Michels unter Umständen noch alles anstellte, falls ich nicht bald in Grafenstein wieder auftauchte. Im übrigen musste ich mich um das Weingut kümmern. Marianne konnten meine Leute auf Dauer jedenfalls nicht ersetzen.

Seufzend schälte ich mich aus den Laken, schlich ins Bad und ließ zehn Minuten abwechselnd warmes und kaltes Wasser auf meinen Schädel prasseln. Langsam verschwand meine Benommenheit. Ich trocknete mich ab und warf einen Blick in den Spiegel. Schön war anders. Hoffentlich lief ich der Gräfin nicht über den Weg. Die hätte vermutlich den Schock ihres Lebens erlitten.

Als ich ins Gästezimmer zurückkehrte hingen wie von Geisterhand meine Klamotten fein säuberlich gefaltet über einem stummen Diener. Ich nahm Poloshirt und Pulli in die Hand und schnüffelte. Das gab's ja wohl nicht. Frisch gewaschen und aufgebügelt. Das Gleiche galt für meine Jeans. Sogar die beiden Löcher in den Hosenbeinen, die von dem Gebiss eines gewissen irischen Wolfshundes stammten, waren fein säuberlich gestopft. Nicht einmal vor den Schuhen hatte die gute Fee Halt gemacht. Meine Stiefel, die ich normalerweise auch im Weinberg trug, waren geradezu auf Hochglanz poliert, und das sollte bei den alten Galoschen etwas heißen.

Die Türe schwang auf und Lena rollerte, ohne sich auch nur ansatzweise an dem Mann mit dem wunderlichen Gesichtsausdruck zu stören, herein. Der Gräfin Tochter sah mal wieder umwerfend aus. Elegante Seidenbluse, Röhrenjeans, Stiefeletten, breite Panzerkette und mehrere feine Armreifen am rechten Handgelenk. Haare gewellt wie frisch aus der Dauer. Gemeinsam mit dem Butler jedenfalls der Traum aller Junggesellen.

»Zieh dich gefälligst an«, meinte sie, ohne mich auch nur für einen Moment aus den Augen zu lassen.

»Hier?« fragte ich verblüfft.

»Wo sonst, oder seit wann bist du auf einmal so genierlich.«

Kopfschüttelnd schlüpfte ich in meine Sachen. Geil, so ein privater Wäscheservice. Kein Wunder, das manche Männer einzig und allein aus diesem Grund heirateten, wenn sie Hotel Mama schon notgedrungen aufgeben mussten.

»Dreh dich mal.«

Ich kam ihrer Aufforderung nach und legte brav eine Pirouette hin.

»Na gut, Mama wird schon keinen Schlaganfall bekommen.«

»Mama?«

»Wir frühstücken immer zusammen, wenn ich auf der Burg bin.«

»Ist sie eigentlich immer noch sauer, dass ich ihr mein Weingut nicht verkaufen will?«

Lena zuckte die Schultern.

»Keine Ahnung. Frag sie doch selber.«

»Na, das wird was werden«, seufzte ich, packte die Handgriffe ihres Rollstuhls und schob sie hinaus auf den Korridor.

 

~~~~~~~

 

Vor ihr hockte ein etwa vierzigjähriger Mann von eher schmächtiger Statur. Seine bernsteinfarbenen Augen wirkten matt, und er sah blass aus. Kein Wunder. Noch in der Nacht hatte man die Schusswunde versorgt. Es war zum Glück nichts Ernstes. Ein simpler Streifschuss, der noch nicht einmal besonders stark blutete. Stefanie Michels rückte ihre Unterlagen zurecht. Der Mann hatte mehrere Schüsse auf einen BKA-Beamten abgefeuert. Es war noch nicht sicher, ob er überlebte. Empathie war somit das Letzte, was sie in diesem Augenblick empfand.

»Also, nochmal«, wiederholte sie. »Sie sind Hubert Koslowsky, angeblich wohnhaft in Köln-Klettenberg, Manderscheider Platz 68. Pech für Sie, dass rund um den Manderscheider Platz niemand einen Hubert Kosloswky kennt. Wo wohnen Sie wirklich, für wen arbeiten Sie, und was hatten Sie in Spa und bei uns in Trier zu suchen? Wieso haben Sie das Notebook aus Kriminalhauptkommissar Netterscheids Dienstwagen entwendet und insgesamt vier Schüsse auf ihn abgefeuert? Ihnen ist schon klar, dass die Anklage auf Mordversuch lauten wird.«

Der Schmächtige schaute sie nur kurz an, grinste breit und verlangte zum wiederholten Mal seinen Anwalt zu sprechen. Stefanie hatte sein Ansinnen bereits mehrfach abgelehnt, weil der Mann partout nicht damit herausrücken wollte, wen er anzurufen gedachte und zudem auch noch sein eigenes Handy verlangte. Die Schussverletzung war einem Taxifahrer aufgefallen. Da der aber weder Lust auf versaute Polster hatte noch Ärger mit der Polizei riskieren wollte, warf er den Kerl kurzerhand wieder aus seinem Wagen und informierte zur Sicherheit die Taxizentrale. Daraufhin wurde eine Großfahndung eingeleitet, und so dauerte es nur eine knappe halbe Stunde, ehe man den Kerl in der Nähe der Mosel dingfest machen konnte.

»Hören Sie zu, das war gestern ein langer Tag, und ich verspüre absolut keine Lust, mich mit Ihnen hier weiter herumzuärgern. Sie haben vier Schüsse auf einen Beamten des BKA abgegeben. Ich selbst war beide Male Zeugin der Tat. Wenn Sie sich weiter so verstockt zeigen...«

Der Mann schaute sie missmutig an.

»Was haben Sie denn gesehen? Mich etwa? Können Sie das beschwören? Würden Sie unter Eid von Gericht aussagen, dass ich und niemand anderer auf diesen Kommissar, wie hieß der noch gleich, geschossen hat? Können Sie mich als Täter wirklich zweifelsfrei identifizieren? Gibt es weitere Zeugen oder wenigstens DNA-Spuren?«

Demonstrativ fletschte er die Zähne.

»Überlegen Sie sich also ganz genau, was Sie sagen. Falls Sie bei Ihrer infamen Anschuldigung bleiben, kriegen wir Sie wegen Falschaussage und Meineid dran.«

Stefanie beugte sich ein Stück weit vor.

»Wer, wir?«

Der Mann lehnte sich zurück, deutete mit Daumen und kleinem Finger das allgemein übliche Zeichen für Telefonieren an und grinste breit.

»Mein Anwalt und ich.«

»Wer ist ihr Anwalt?«

Ihr Gegenüber hüllte sich erneut in Schweigen.

»So kommen wir nicht weiter. Noch einmal: Wer sind Ihre Hintermänner? Was hat Sie dazu bewogen, nach Spa...«

»Ich bin in meinem ganzen Leben noch nie in Belgien gewesen«, schnauzte der Mann zurück. »Falls Sie anderer Meinung sind, weisen Sie mir das gefälligst nach. Im übrigen verlange ich, augenblicklich aus der Untersuchungshaft entlassen zu werden. Sollten Sie sich weiterhin weigern, mich mit meinem Anwalt telefonieren zu lassen, werde ich mich an höherer Stelle über Sie beschweren.«

»Etwa bei der Generalbundesanwaltschaft?« grunzte Stefanie.

Der Typ grinste erneut.

»Lassen Sie sich überraschen.«

»Und wie erklären Sie sich die Schussverletzung im Oberschenkel?«

»Jagdunfall.«

»Seit wann benutzt man eine Heckler & Koch bei der Jagd?«

»Keine Ahnung. Ich verstehe nichts von Waffen.«

»Dass ich nicht lache. Wo steckt die Ceska mit dem Schalldämpfer?«

Der Mann lachte.

»Die bitte was?«

»Die Waffe, mit der Sie auf Kriminalhauptkommissar Netterscheid gefeuert haben.«

»Welcher Netterscheid? Ich sagte bereits, ich kenne keinen Netterscheid.«

»Machen Sie sich doch nicht lächerlich.«

»Wer sich hier lächerlich macht, das wird sich noch herausstellen.«

Stefanie gab Kroppke und dem Uniformierten, der sich mit verschränkten Armen vor der Tür postiert hatte, ein unmissverständliches Zeichen.

»Abführen!«

Als sie den Vernehmungsraum verließ, um in der Kantine rasch einen Happen zu sich zu nehmen, lief ihr die Schwarze Mamba über den Weg. Die hatte ihr gerade noch gefehlt.

«Wo wollen Sie hin?« fragte die Oberstaatsanwältin. »Ich suche Sie schon die ganze Zeit.«

Mit knappen Worten berichtete Stefanie von den Vorfällen der vergangenen Nacht und von der erfolgten Festnahme.

»Um diesen Motorradfahrer kümmere ich mich«, meinte ihre Vorgesetzte in einem Ton, der keinen Widerspruch zuließ. »Sie machen sich jetzt gefälligst auf den Weg nach Grafenstein. Dort gibt es schon wieder einen Toten. Diesmal bei den Landungsbrücken für die Fahrgastschiffe. Der Schäfer und die Sartorius sind bereits auf dem Weg.«

»Eine weitere Leiche? Schon wieder in Grafenstein?«

»Rede ich so undeutlich? Schwingen Sie die Hufe, mein Kind. Anschließend erwarte ich einen ausführlichen Bericht.«

Stefanie ging zurück in ihr Büro, schnappte sich den Mantel und machte sich auf den Weg. Wenn das in diesem Tempo so weitergeht, knurrte sie leise vor sich hin, dann ist Grafenstein demnächst genauso ausgestorben wie der Trierer Friedhof bei Nacht.

 

~~~~~~~

 

Es war sein Smartphone, das ihn aus dem bleiernen Dämmerschlaf riss. Mühsam schlug er die Augen auf und schaute an sich herunter. An seinem linken Arm hingen eine Menge Schläuche und Elektroden. Er fasste sich an die Nase und entdeckte einen dünnen Sauerstoffschlauch. Instinktiv fuhr die Hand seines rechten Arms in Richtung Brust. Sein Oberkörper war dick bandagiert. Als er tief Luft holte, ließ ihn ein brennender Schmerz zusammenzucken. Diesmal hatte der Kerl jedenfalls ganze Arbeit geleistet. Den Apparaturen zufolge, die um sein Bett herum aufgebaut waren, schien es sich wohl kaum um einen simplen Streifschuss zu handeln.

Der Vibrationsalarm ließ das Smartphone in der Nachttischschublade förmlich um die eigene Achse rotieren. Er holte es heraus und nahm das Gespräch an.

»Netter...«

Der Rest ging in ein müdes Krächzen über. Seine linke Schulter tat ihm weh, die Lungenflügel brannten bei jedem Atemzug, kurz, er fühlte sich lausig. Beim Schiffe versenken hätte es jetzt geheißen: Treffer, versenkt!

»Rechtsanwaltskanzlei Kellermeister Degen und Partner, Anita Schneider am Apparat. Spreche ich mit Herrn Netterscheid?«

Im nächsten Moment vernahm er ein nur mühsam unterdrücktes Glucksen.

»Habe ich Sie etwa aus dem Bett geholt? Das tut mir leid.«

Netterscheid schluckte ein paarmal, um die Stimmbänder zu schmieren und sich wieder halbwegs verständlich ausdrücken zu können.

»Nein, Sie haben mich nicht aus dem Bett geholt«, krächzte er. »Ich liege immer noch drin. Was kann ich für Sie tun, Lady?« Von diesem Rechtsanwaltsbüro hatte er noch nie etwas gehört. Mit einem Mal beschlich ihn ein mulmiges Gefühl. Machte Helen vielleicht doch Ernst?

»Nun, ich vertrete Frau Helen Netterscheid, Ihre Ehefrau.«

»Wollen Sie mich verarschen? Ich weiß selbst, wie meine Frau heißt.«

Anita Schneider blieb sachlich.

»Wie gesagt, ich vertrete Ihre Frau in der anstehenden Scheidungssache. Ich würde gerne mit Ihrem Anwalt zwecks Terminabsprache Kontakt aufnehmen. Wo kann man Sie erreichen, nachdem Sie nicht mehr bei Ihrer Familie wohnen? Oder würden Sie mir vielleicht Namen und Anschrift Ihres Rechtsbeistands zukommen lassen?«

Unwillkürlich wollte sich Netterscheid aufrichten. Erneut durchzuckte ihn ein scharfer Schmerz, und der rührte nicht alleine von den Infusionsschläuchen her, die sich an seinem linken Arm spannten. Im nächsten Moment wurde ihm schwarz vor Augen. Er schien vergangene Nacht ganz eindeutig ein paar Liter Blut zuviel verloren zu haben. Netterscheid atmete mehrmals ein und aus, ehe er antworten konnte.

»Was für eine Scheidungssache?« keuchte er. »Ich weiß nichts von einer Scheidungssache.«

Die Stimme der Rechtsanwältin wechselte von verbindlich in zuckersüß. Sie flötete die Sätze förmlich heraus.

»Oh, dann hat Ihre Frau Sie offensichtlich noch nicht ereicht. Nun, wenn das so ist, dann teile ich Ihnen das an dieser Stelle mit. Ihre Frau hat mich beauftragt, bei Gericht die Scheidung einzureichen. Der Grund dafür dürfte Ihnen ja hinlänglich bekannt sein.«

»Hören Sie, meine Liebe«, erwiderte Netterscheid. »Mir ist überhaupt nichts bekannt. Ich liege im Augenblick in einer Klinik. Man hat gestern viermal auf mich geschossen, und die letzte Kugel hätte Helen beinahe zur Witwe gemacht. Also verschonen Sie mich gefälligst mit irgendwelchem Geschwätz von Scheidung.«

Die Anruferin schwieg für einen kurzen Moment. Anscheinend hatte die Rechtsanwältin mit dieser Situation nicht gerechnet.

»Man hat auf Sie geschossen?«

»Ich bin Polizeibeamter, meine Teuerste. In meinem Job kommt sowas schon mal vor. Ist auch nicht das erste Mal.«

»Oh, das tut mir leid«, erwiderte die Frau mit zögerlicher Stimme. »Aber es ändert leider nichts an der Tatsache...«

»Richten Sie Helen aus, das Foto von mir und Doro Breitner ist ein Fake. Das habe ich inzwischen amtlich. Unsere Forensiker sind nämlich keine solche Hitzköpfe wie Helen und meine Schwiegereltern. Und sagen Sie ihr, ich möchte auf der Stelle meine Kinder sehen. Ansonsten kriege ich sie wegen Kindesentzug dran. Und jetzt habe ich, ehrlich gesagt, keinen Bock mehr, mich mit Ihnen über solchen Killefitz zu unterhalten. Ich muss jetzt erst mal sehen, dass ich wieder auf die Beine komme.«

Ehe die Frau noch etwas sagen konnte, hatte Netterscheid das Gespräch bereits weggedrückt.

Die Tür wurde aufgerissen. Ein Uniformierter stand im Türrahmen und schaute ihn verblüfft an.

»Haben Sie gerade eben telefoniert?«

Blöde Frage.

»Blöde Frage«, knurrte Netterscheid. »Sehen Sie hier vielleicht noch jemanden? Aber wo Sie gerade da sind, rufen Sie doch eine Schwester. Ich brauche was gegen die Schmerzen. Scheiße, aber auch! Was ist eigentlich passiert, und was treiben Sie überhaupt auf dem Gang da draußen?«

Der Polizist kam näher und drückte ihm vorsichtig den Arm. Leider den falschen. Netterscheid jaulte förmlich auf.

»Sorry«, entschuldigte sich sein Gegenüber und wich gleichzeitig einen Schritt zurück. »Aber Glückwunsch, das Sie endlich aufgewacht sind. Sie sind angeschossen worden. Das Projektil ging zum Glück haarscharf an ihrem Herzen vorbei. Allerdings soll Ihr linker Lungenflügel was abbekommen haben. Aber wie gesagt, das habe ich nur am Rande aufgeschnappt. Mein Kollege und ich sind zu Ihrem Schutz hier. Zumindest solange, bis man den Typen gefasst hat, der auf Sie geschossen hat.«

»Der ist noch auf freiem Fuß?« stöhnte Netterscheid und sank dabei in sein Kissen zurück. Andauernde Blackouts vor den Augen waren auch nicht gerade erheiternd.

»Scheint so«, murmelte der Uniformierte und schlich sich wieder aus dem Patientenzimmer.

 

Sauber, seufzte Netterscheid vor sich hin. Da hatte ihn die Gegenseite aber fein ausgeknockt. Jetzt lag er in dieser gottverdammten Klinik, die Uhr lief ab, und die Anderen konnten in aller Ruhe die Karten neu mischen. Denn eines war klar: Schäfer, Kroppke und diese Staatsanwältin waren mit der Situation in Grafenstein völlig überfordert. Im übrigen standen den Dreien bei weitem nicht die Möglichkeiten zu Verfügung, auf die er im BKA zurückgreifen konnte. Sowas war ihm in seiner gesamten Polizeilaufbahn bisher noch nicht passiert, und genau das machte ihn so wütend. Hilflos im Bett liegen zu müssen in dem Bewusstsein, langsam aber sicher die Fäden aus der Hand zu verlieren.

Er überlegte, was er tun konnte. Eigentlich nichts. Außer, sich wenigstens über die weiteren Ermittlungen auf dem Laufenden zu halten. Sofern überhaupt noch ermittelt wurde. Trotz seiner Schmerzen in der Brust wählte er die Nummer des Polizeipräsidiums.

 

~~~~~~~

 

Ich bog auf unseren Kundenparkplatz ein und stellte den Mercedes ab. Kaum, dass Lena die Beifahrertür geöffnet hatte, stürmte auch schon der irische Bettvorleger auf sie zu. Mich hingegen strafte er ausnahmsweise nur mit Verachtung. Nicht einmal ein müdes Knurren drang aus seiner Kehle. Meine frisch aufgebügelte Jeans dankte es ihm jedenfalls. Ob Lenas Butler mein Beinkleid vielleicht mit Pfefferspray imprägniert hatte?

»Da seid ihr ja endlich«, rief uns Lanzerath von der Eingangstür aus entgegen.

»Was soll die Ungeduld?« brummte ich zurück.

Lena schlang ihre Arme um meine Schultern und wartete, bis ich ihre Oberschenkel umfasst hatte. Ich hob sie vorsichtig an und wuchtete sie vom Beifahrersitz. Dabei bemerkte ich, wie sich ihre Muskeln spannten und der Griff um meine Schultern fester wurde. Das häufig so unnahbare Geltschergrün ihrer Augen verwandelte sich für einen kurzen Moment in ein sanftes Lagunentürkis. Behutsam hob ich sie in der Rollstuhl, rückte ihr die Fußrasten zurecht und schloss die Beifahrertür. Lena schaute mich erwartungsvoll an. Normalerweise hätte sie sich längst selbst auf den Weg gemacht. So beugte ich mich zu ihr hinab, löste die Bremshebel und packte die beiden Handgriffe.

»Hier ist vielleicht was los«, meinte Lanzerath übergangslos. »Aber kommt erst mal rein.«

 

An Mariannes Schreibtisch hockte Caddy und hämmerte gleichzeitig wie wild auf der Computertastatur herum. Er schaute kaum auf, als ich den Raum betrat. Inzwischen sah der ehemalige Hohepriester Imhotep wieder halbwegs manierlich aus. Seine Nase zierte zwar noch eine Bandage, aber wenigstens heilten die Schrammen im Gesicht langsam ab. Jedenfalls wirkte er nicht mehr wie ein Bürgerkriegsopfer im Flüchtlingscamp.

»Das war's, Alter!«

Gleichzeitig hieb er ein letztes Mal auf die Tastatur. Offenbar die Enter-Taste. Wenn der so weitermachte, musste ich mir wohl bald eine Tastatur aus Edelstahl anschaffen.

»Fünfzig Kartons. Eh, ich schwör'!«

Unwillkürlich ließ ich die Handgriffe des Rollstuhls los und stürzte auf ihn zu.

»Was für Kartons?«

Der Tunesier lachte.

»Eh, voll dieser Riesling Auslese von Anno soundsoviel. Keine Ahnung. Jou, Alter, ist verkauft. Der Typ sitzt irgendwo in Prag. Und klick, und tschüss und weg!«

Unwillkürlich stöhnte ich auf. Keine Ahnung, wie man fünfzig Kartons mit zerbrechlichem Weinflaschen unversehrt in die osteuropäische Walachei verschickt bekam. Um solche Nebensächlichkeiten hatte sich bislang Marianne gekümmert.

»Bringst du die etwa selbst nach Tschechien?« fragte ich müde.

Caddy schaute mich an, als hätte ich einen blöden Witz über Ausländer gemacht.

»Eh, dafür gibt's DHL. Schon mal gehört? Die Jungs mit den großen gelben Lieferwagen? Und zahlen muss das sowieso der Kunde.«

Er zog mit dem Zeigefinger das Lid seines rechten Auges herunter.

»Voll die Vorkasse. Bin doch nicht blöd!«

Langsam beschlich mich das Gefühl, dass ich immer mehr die Kontrolle verlor. Karls unerwartetes Auftauchen, sein wandelnder Bettvorleger, der mich ständig dazu veranlasste, neue Klamotten zu kaufen, der nächtliche Überfall, Mariannes unvorhergesehener Tod, die Tote im Yachthafen, die beiden seltsamen Damen Sandhoff und jetzt auch noch Caddy, der meinen ganzen Laden durcheinander brachte. Ich hockte mich an meinen Schreibtisch und zündete mir erstmal eine Moods an.

»Kaffee?« ertönte von hinten eine Stimme. Mein Onkel trug zwei doppelte Espressi in den Händen.

»Und jetzt lasst gefälligst mal hören, was ihr in den Bergen getrieben habt.«

 

Als Lena und ich mit unserem Bericht fertig waren, schüttelte Lanzerath den Kopf.

»Nur, dass ich das richtig verstehe: Die richtige Margarete Sandhoff war in Wirklichkeit Mitte Sechzig und ist inzwischen verstorben. Sie lebte bis zu ihrem Tod auf einer Tiroler Alm gemeinsam mit einer Autistin namens Nannerl. Soweit kann ich ja noch folgen, aber wer zum Henker ist dann die Frau, die Marianne bei uns angeschleppt hat?«

»Frag nicht mich, frag sie selbst, sobald sie aus der Klinik entlassen wird. Ich habe keinen blassen Schimmer.«

»Habt ihr Fotos gemacht? Von der Hütte und von diesem 'Nannerl'?«

Ich schaute Lena an. Sie schüttelte den Kopf.

»Wenn überhaupt, dann Miss Sophie. Die lief ständig mit ihrem Tablet in der Hand herum. Durchaus möglich, dass sie ein paar Bilder geschossen hat.«

Ein aufdringlicher Klingelton ließ Lanzerath zu seinem Smartphone greifen. Anschließend wurde er richtig hepperich.

»Ich muss weg, Leute. Das war die Sylvia. Man hat in Grafenstein die nächste Leiche gefunden. Wenn das so weitergeht, muss ich ernsthaft darüber nachdenken, zusätzlich Leute einzustellen. Man kommt ja zu nichts mehr. Hoffentlich schaffe ich das überhaupt bis zum Mittag.«

»Tuttifrutti stellt dir sein Rehragout bestimmt warm«, grinste mein Onkel.

»Rehragout?« jaulte der Totengräber auf. Jeder bei uns im Ort wusste, dass Wildgerichte Lanzeraths große Leidenschaft waren.

Ich hielt ihn am Ärmel zurück.

»Wieder jemand aus Grafenstein?«

Lanzerath zuckte die Schultern.

»Schon etwas über die näheren Umstände bekannt?« mischte sich Lena ein.

»Sylvia meinte nur, man hätte den Toten unmittelbar neben dem Fahrkartenhäuschen bei den Landungsbrücken gefunden. Todesursache angeblich Herzanfall. Kommt mir alles ziemlich seltsam vor. Angeblich soll der Tote Mitte Dreißig und dazu auch noch ziemlich durchtrainiert sein. Selbst wenn der einen über den Durst getrunken haben sollte, so jemand bekommt doch nicht so mir nichts dir nichts auf offener Straße einen Herzkaschperl.«

Wenig später hörten wir den Motor seines Leichenwagens anspringen.

 

Mein Onkel pfiff anerkennend durch die Zähne.

»Mann, bei dem brummt ja vielleicht das Geschäft.«

Lena drehte sich zu mir herum.

»Apropos Geschäft. Wie soll das eigentlich bei euch weitergehen, jetzt, wo Marianne tot ist?«

Ich deutete auf den Tunesier, der sich wie auf Kommando zu uns gesellte.

»Keine Panik. Du siehst doch, es läuft.«

Lena runzelte die Stirn.

»Herr Moutussi soll bei dir einspringen?«

»Warum nicht? Wer völlig überteuerte Heizdecken an den Mann bringt, wird ja wohl auch ein paar Kistchen Wein über den Ladentisch schieben können.«

»Eh, ich geb dir gleich 'überteuerte Heizdecken', Alter. Und jetzt rück endlich den Haustürschlüssel raus. Ich kann schließlich nicht ständig auf deine Leute warten, damit die mir aufmachen.«

»Wir fahren nachher noch zum Ballensiefen. Kommst du mit?«

Der Tunesier winkte ab.

»Keine Chance. Da hat sich eine Wandergruppe angemeldet. Die sind ganz scharf auf eine Weinprobe.«

»Hoffentlich hast du ein schickes Kleidchen dabei«, grinste ich. »Marianne hat bei dieser Gelegenheit immer ihr Geblümtes mit dem legendären Rundausschnitt getragen. Das kam an. Besonders bei den Senioren.«

»Jou, Mann«, nickte er eifrig. »Sag dem Ballensiefen, er soll mir die Julia vorbeischicken. Jetzt, wo der Weisz tot ist, haben die doch bestimmt schulfrei.«

»Du hast vielleicht Ideen. Ich dachte, du wolltest den nächsten Ramadan noch erleben.«

 

~~~~~~~

 

Diesmal musterte Stefanie Michels den Toten etwas genauer. Endlich eine Leiche, die nicht in ihrem eigenen Blut lag und bei der sich auch noch alle wesentlichen Körperteile an der richtigen Stelle befanden. Sie schätzte den Mann, der mit verdrehten Gliedmaßen hinter einem der Fahrkartenschalter für die Rundfahrtschiffe lag, auf Mitte Dreißig. Papiere trug er keine bei sich. Auch keinen Schlüsselbund. Entweder war er Tourist und hatte seine Wertsachen im Hotel gelassen, oder man hatte ihn beraubt. Oder jemand wollte partout verhindern, dass man ihn auf die Schnelle identifizieren konnte. Doch da hatte der Täter die Rechnung ohne Lydia gemacht.

»Nur noch eine Sache von wenigen Minuten«, schmunzelte die Chefin der Trierer Kriminaltechnik und zupfte sich dabei die Latexhandschuhe von den Fingern. »Mit diesem neuen Fingerabdruck-Scanner haben wir den Toten in kürzester Zeit identifiziert, sofern er mal auffällig geworden sein sollte. Meine Leute sind bereits dabei, seine Fingerabdrücke mit denen aus der Referenzdatenbank zu vergleichen.«

Stefanie nahm das unscheinbare Gerät in die Hand. Es besaß etwa die Größe eines Scheckkartenlesers, wie man sie von den Supermarktkassen her kannte.

»Was es alles gibt«, murmelte sie kopfschüttelnd. Früher hätten solche Abgleiche Stunden, mitunter sogar Tage gedauert. Lydia lächelte und deutete auf das Smartphone der Staatsanwältin.

»Irgendwann gibt es sowas auch als App.«

»Irgendwann sind Sie arbeitslos.«

»Jemand muss immer noch die praktische Arbeit erledigen«, widersprach Lydia energisch. »Bei blutverschmierten Händen ist so ein Scan nämlich ziemlich problematisch.«

Hasso Schäfer trat hinzu. Er hatte gegenüber Sylvia, die ständig versuchte, Fotos von der Leiche zu schießen, zuletzt ziemlich hemdsärmelig werden müssen. Nachdem auch Stefanie ein Machtwort gesprochen hatte, verzog sich die Reporterin schmollend zu ihrem Wagen.

»Was denken Sie?« fragte er. »Raubüberfall? Der Mann hat weder Ausweispapiere, Schlüssel noch Handy bei sich.«

»Wäre nicht auszuschließen«, meinte Lydia. Sie warf ihm einen auffordernden Blick zu. »Ihr Job, mein Bester.«

Schäfer ließ sich nicht beirren

»Todeszeitpunkt?«

»Ich möchte der Rechtsmedizin nicht vorgreifen, aber ich schätze irgendwann in den späten Abendstunden.«

»Todesursache?«

»Da wird es komplizierter. Der Mann ist erstickt.«

»Erstickt?« wunderte sich Stefanie. Lydia nickte.

»Man erkennt es an den Petechien, punktförmige Blutungen, die zumeist in den Augenbindehäuten, im Augapfel und im Bereich der Augenlider entstehen.«

»Sie meinen, er wurde erwürgt? Aber dann müsste sein Gesicht doch blau angelaufen sein.«

Lydia schüttelte den Kopf.

»Von Erwürgen niemand was gesagt. Es liegen zumindest keinerlei Anzeichen einer Zyanose vor. Wenn es nicht so absurd wäre, würde ich vermuten, man hat dem Opfer solange Mund und Nase zugehalten, bis er aufgehört hat zu atmen. Wenn Sie mich fragen, sollte alles auf Herzstillstand hindeuten. Genaueres wie üblich nach der Obduktion.«

 

Lydia richtete sich wieder auf und deutete gleichzeitig auf die Absperrung, wo die Beamten der Grafensteiner Polizeiinspektion Stellung bezogen hatten. »Da kommt ja auch schon der Leichenwagen.«

Zwei Männer schlängelten sich mit einem Zinksarg unter dem Flatterband hindurch.

»Wie sieht's aus? Können wir den Toten mitnehmen?«

Schäfer nickte.

»Sofort nach Trier in die Rechtsmedizin. Die Herrschaften dort warten schon.«

Lanzerath warf einen flüchtigen Blick auf die Leiche.

»Wenigstens mal einer, der uns nicht alles versaut.«

Beim Versuch, den Toten in den Zinksarg zu hieven, stutzte Lanzerath.

»Moment mal. Den kenne ich doch.«

Stefanie und Schäfer wirbelten herum.

»Woher?«

»Keine Ahnung, aber das Gesicht kommt mir irgendwie bekannt vor. Warten Sie mal. Das muss an dem Abend gewesen sein, bevor die Disco vom Öztürk abgebrannt ist. Ich kam gerade aus dem Krankenhaus und musste noch Miss Sophie...«

»Sekunde«, unterbrach ihn Schäfer. »Das geht mir alles ein bisschen zu schnell. Disco, Krankenhaus, Miss Sophie. Können Sie das mal der Reihe nach erklären?«

Lanzerath seufzte und berichtete von dem Abend bei Ballensiefen, als Abdelkader Moutussi blutüberströmt in dessen Lokal hereinplatzte, sie ihn gemeinsam in die Klinik brachten und er anschließend den Auftrag erhielt, die alte Dame nach Hause zu begleiten.

»Ich hatte aber keine Lust auf langweiliges Fernsehprogramm, und so fuhr ich noch in die Disco auf einen Absacker.«

Schäfer runzelte die Stirn.

»Auf einen Absacker. Mit dem Auto. Na, toll.«

Lanzerath zog die Stirn in Falten.

»Darf ich fortfahren, oder wollen Sie mich erst noch über Alkohol am Steuer aufklären?«

Ein scharfer Seitenblick von Stefanie genügte. Schäfer hob ergeben die Arme.

»In der Disco ging es an diesem Abend hoch her. Ziemlich laute Musik, jede Menge Leute, darunter viele Jugendliche.«

Erneut runzelte er die Stirn und deutete auf die beiden Polizeibeamten, die breitbeinig vor dem Flatterband Wache schoben.

»Bei sowas sollte die Grafensteiner Polizei mal Präsenz zeigen und nicht immer nur bei Geschwindigkeitskontrollen. Jugendschutz, das ist für den Öztürk doch ein Fremdwort. Die halbe Realschule ging bei dem am Wochenende ein und aus. Hauptsache, der Rubel rollte.«

»Woher wollen Sie das wissen?«

»Von Ballensiefens Tochter. Im übrigen kenne ich meine Pappenheimer. Der junge Balfelder war Stammgast im 'Klub'.«

»Und was passierte dann?« fragte Stefanie.

»Ich hocke also munter und vergnügt am Tresen«, fuhr Lanzerath fort, »schlürfe meine Caipirinha...«

»... während draußen auf dem Parkplatz Ihr Wagen stand ...«, merkte Schäfer kopfschüttelnd an.

»... als dieser Typ plötzlich auftauchte. Ich hatte ihn bisher noch nie in dem Laden gesehen. Der bestellte ein Wasser, schaute sich nach allen Seiten um und verschwand kurz darauf wieder. Als ich am frühen Morgen den Laden verließ, sah ich den Kerl ein zweites Mal. Er trat gerade aus einem Gebüsch. Ich habe mir nichts dabei gedacht. Vermutlich wollte der nur mal pinkeln. Aber heute frage ich mich natürlich, was der so kurz vor dem Brand im Gebüsch hinter der Disco zu suchen hatte.«

Bevor er den Sargdeckel über den Leichnam legen konnte, beugte sich Lydia noch einmal kurz zu dem Toten hinunter und zupfte mit einer Pinzette ein Haar von dessen Oberhemd. Das Haar ließ sie anschließend in ein Glasröhrchen gleiten.

»Sie können den Toten jetzt mitnehmen.«

Wenige Augenblicke später sprang sie in ihren Sportwagen und machte sich ebenfalls auf den Weg in die Rechtsmedizin.

 

»Irgendeine Idee?« fragte Schäfer, als er und die Staatsanwältin alleine am Tatort standen.

»In meinen Augen passt das alles nicht zusammen«, gab Stefanie zu. »Nehmen wir mal an, der Tote hier steckt tatsächlich hinter dem Brandanschlag auf die Disco von diesem Öztürk. Aber was sollte er ausgerechnet mit der Toten im Yachthafen und diesem Gregor Weisz zu tun haben? Von dem Verkehrsunfall mit den beiden Frauen mal ganz zu schweigen.«

»Vielleicht besitzt der Kerl ja einen Geländewagen.«

»Dann finden Sie es gefälligst heraus«, meinte Stefanie. »Was ich Sie überhaupt noch fragen wollte: Gibt es eigentlich neue Ergebnisse in Sachen Prostituierte?«

Schäfer grinste.

»Als ich unseren französischen Kollegen ein offizielles Amtshilfeersuchen in Aussicht stellte, wurden die plötzlich äußerst kooperativ. Offenbar nehmen die es in Metz nämlich mit den Einwanderungsbestimmungen nicht so genau. Jedenfalls haben die Kollegen dem Puff einen Besuch abgestattet und die beiden Mädels gleich mit aufs Revier geschleppt. Wie sich herausstellte, besaßen die für Frankreich keine gültige Arbeitserlaubnis.«

»Und? Gibt's hierbei vielleicht auch eine Pointe?«

»Das könnte man so sagen. Als den Damen mit sofortiger Abschiebung nach Rumänien gedroht wurde, rückten sie damit heraus, dass sie von einem Typ aus Grafenstein dazu animiert worden seien, dem Ehemann der Bürgermeisterin mal ihre Briefmarkensammlung aus der Nähe zu zeigen.«

Stefanie runzelte die Stirn.

»Bleiben Sie bitte sachlich!«

»Schon gut. Jedenfalls deuteten sie bei der Vernehmung an, sie hätten dem Balfelder so richtig einheizen sollen. Mit allem Komfort und komm nach. So eine richtig heiße Pornoshow vor laufender Kamera. Dafür hätte angeblich jede von ihnen tausend Euro erhalten.«

Schäfer konnte sich ein Lachen nicht verkneifen.

»Das wäre harte Arbeit gewesen, meinte eine der Frauen. Der Balfelder hätte nämlich erst keinen hoch gekriegt, wenn Sie verstehen, was ich meine. Den hätten sie förmlich mit Viagra aufpumpen müssen. Arme Socke. Na ja, bei so einer Ehefrau muss man ja auf kurz oder lang impotent werden.«

»Hat man herausfinden können, wer hinter dieser Aktion steckt?«

»Hmm.«

»Jetzt reißen Sie sich gefälligst zusammen!«

»Okay, okay. Es kommt nur einer infrage: Axel Schröder, der Intimfeind von Melanie Balfelder.«

Stefanie runzelte die Stirn.

»Der Schröder soll den Mann von der Bürgermeisterin in die Arme zweier rumänischer Prostituierten getrieben haben?«

Schäfer nickte.

»Einen Teil des Honorars erhielten sie vorab im Beisein von zwei Glatzköpfen. Angeblich waren die Typen einschlägig tätowiert. Im übrigen konnte eine der Frauen den Schröder ziemlich gut beschreiben. Für mich besteht da jedenfalls kein Zweifel. Schröder war es angeblich auch, der den Mädels anschließend den Job in Metz besorgt haben soll.«

»Moment mal. Die beiden Frauen entdecken die Leiche im Yachthafen, und kurz darauf werden sie von Axel Schröder nach Frankreich weitervermittelt? Ob der etwa hinter dem Mord an dieser Erna Leinfeld steckt?«

»Nicht unbedingt. Vermutlich wollte er mit der Weitervermittlung nach Frankreich nur verhindern, dass sie auspacken, sofern ihnen bei uns das Ordnungsamt auf die Schliche kommt. Dadurch hätte er nämlich riskiert, dass die Affäre zu guter Letzt doch noch auffliegt. Politisch wäre er damit jedenfalls erledigt gewesen. Grafenstein-Gate? Okay, geschenkt. Zumal die Bürgermeisterin wegen dem Sozialwohnungsbauprojekt bei zahlreichen Bürgern sowieso auf der Abschussliste steht. Aber ein Ratsmitglied mit Kontakten zur Rotlichtszene, sowas geht bei uns auf dem Land natürlich gar nicht.«

»Und Sie sind sich sicher, dass der Schröder nichts mit dem Überfall auf Moutussi und dem Brandanschlag zu tun hat?«

Schäfer nickte.

»Das ist eine ganz andere Baustelle, wenn Sie mich fragen. Ich werde schon seit geraumer Zeit das Gefühl nicht los, dass jemand gezielt versucht, dem Schröder irgendwas in die Schuhe zu schieben. Wer würde davon profitieren? Nur eine: die Bürgermeisterin von Grafenstein. Schröder gilt als ihr härtester politischer Konkurrent. Sie ist schließlich links angehaucht, und er steht ganz weit rechts. Ich habe da eine Theorie. Die Balfelder hat Leute engagiert, die in Grafenstein Delikte mit eindeutig fremdenfeindlichem Hintergrund verüben. Auf wen würde der Verdacht als Erstes fallen? Richtig, auf den Schröder. Pech nur, dass ausgerechnet der sowohl für den Überfall auf Moutussi als auch für den Disco-Brand ein geradezu wasserdichtes Alibi besitzt. Er hätte schon fliegen müssen, um rechtzeitig nach Nancy zu gelangen.«

»Haben Sie das nachgeprüft?«

»Ich bin zwar nicht beim BKA, aber auf der Nudelsuppe bin ich auch nicht daher geschwommen. Weder von Trier noch von Luxemburg ist zum fraglichen Zeitpunkt ein Flugzeug Richtung Nancy gestartet. Schröder ist auf jeden Fall raus aus der Nummer.«

»Aber wer war's dann?« seufzte Stefanie.

Schäfer machte ein nachdenkliches Gesicht.

»Vielleicht wurde der gerade eben im Leichenwagen abtransportiert. Mist, dass ausgerechnet dessen Handy verschwunden ist. Mich würde brennend interessieren, ob der in letzter Zeit mit Melanie Balfelder telefoniert hat.«

»Und selbst wenn dem so wäre, die beiden könnten sich auch von sonst woher kennen.«

»Alte Klassenkameraden, was?« meinte Schäfer und zog dabei mit dem Zeigefinger das Lid seines rechten Auges herunter. »Nee, was für ein Zufall!«

»Ich glaube, Sie verrennen sich da in was.«

»Kann sein, kann nicht sein. Jedenfalls sollten wir den Toten mal gründlich unter die Lupe nehmen. Das hier war jedenfalls keine spontane Handlung, wenn Sie mich fragen. Erst recht kein Raubüberfall, auch wenn Autoschlüssel und Brieftasche des Opfers fehlen. Bei einem Raubüberfall wird das Opfer niedergeschlagen, aber doch wohl kaum mit Hilfe einer übergestülpten Einkaufstüte erstickt. Allenfalls erwürgt, aber das kommt ja anscheinend nicht in Betracht. Vermutlich wollte jemand den Typ nur auf elegante Weise loswerden.«

Ein breites Grinsen zog sich über seine Mundwinkel.

»Mehr sage ich jetzt nicht mehr dazu. Sie glauben mir ja doch nicht.«

»Das mit dem Glauben überlasse ich dem Pfarrer«, erwiderte die Staatsanwältin.

 

Beethovens Neunte begann zu dudeln. Schäfer verzog das Gesicht. Lydia sollte mir tatsächlich langsam mal einen neuen Klingelton einstellen, dachte Stefanie bei sich.

»Danke, Kollegen. Erstklassige Arbeit.«

Sie steckte das Smartphone zurück in ihre Manteltasche.

»Das war die KTU. Anhand der gescannten Fingerabdrucks konnte man den Toten identifizieren. Es handelt sich um einen Carsten Maschner, 38, wohnhaft in Saarbrücken. Aufgewachsen in Berlin-Kreuzberg, abgebrochenes Jurastudium, Karriere als Taxifahrer, der linksextremer Szene zugeneigt, aufgefallen wegen zahlreicher kleinerer Delikte. Überwiegend Einbruch und Sachbeschädigung. Er betätigte sich zuletzt wenig erfolgreich als Privatdetektiv.«

Schäfer runzelte die Stirn.

»Was hat denn ein Privatdetektiv aus Saarbrücken hier in Grafenstein verloren?«

»Keine Ahnung. Kommen Sie, wir suchen jetzt erst einmal den Wagen des Toten. Angeblich ist ein Chevy Pick-up auf seinen Namen zugelassen. Wenn wir sowas dem Breitenbach überlassen, dann können wir warten, bis die Karre zum Verschrotten abgemeldet wird, ehe sie wieder auftaucht.«

Schäfer half der jungen Staatsanwältin unter dem aufgespannten Flatterband hindurch. Stefanie nahm es wohlwollend zur Kenntnis. Gemeinsam nahmen sie den Parkplatz unter die Lupe, doch von einem Auto mit Saarbrücker Kennzeichen fehlte jede Spur.

»Vielleicht hat der Täter das Fahrzeug geklaut«, meinte Schäfer. »Schließlich fehlt der Autoschlüssel.«

»Könnte durchaus sein«, meinte Stefanie. »Aber falls sich der Tote mitten in der Nacht mit jemandem verabredet hat, dabei aber vielleicht selbst unerkannt bleiben wollte, wird er den Wagen mit Sicherheit irgendwo unauffällig abgestellt haben. Gibt es in Grafenstein eine Parkgarage?«

Schäfer schüttelte den Kopf.

»Aber hinter der Sparkasse gibt es, soweit ich weiß, einen Kundenparkplatz. Der lässt sich von der Hauptstraße aus nicht so ohne weiteres einsehen.«

»Schau'n mer mal, dann seh'n mer scho«, äffte Stefanie ihre Chefin nach.

 

»Bingo!« grinste Schäfer, als sie einen ziemlich verdreckten Pick-up entdeckten. Nach ein bisschen Reiben kam unter dem Schmutz ein Saarbrücker Kennzeichen zum Vorschein.

»Da waren Sie ja mal richtig auf Zack«, fügte er respektvoll hinzu.

Stefanie konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen.

»Sehen Sie lieber zu, wie wir das Ding aufbekommen.«

Schäfer lief um den Wagen herum und rüttelte an den Türen. Vergeblich.

»Wäre ja auch zu schön gewesen, um wahr zu sein. Haben Sie eine Haarklammer dabei?«

»Was soll ich denn mit einer Haarklammer?«

Schäfer betrachtete die Frisur der Staatsanwältin.

»Auch wieder wahr. Aber vielleicht klappt's auch so.«

Er griff unter sein Jackett, nahm seine Dienstwaffe heraus und schlug mit dem Kolben die Seitenscheibe ein.«

»Na, also. Geht doch.«

Kopfschüttelnd beobachtete Stefanie, wie der Kripobeamte den Innenraum des Pick-ups durchstöberte. Kurz darauf krabbelte er wieder ins Freie. In seiner Rechten hielt er ein Tablet. Ein handliches Modell mit einem 7-Zoll-Bildschirm. Schäfer legte es auf die Motorhaube und drückte eine Taste. Der Bildschirm flackerte auf.

»Na, dann wollen wir doch mal sehen«, brummte er und begann sich durch das Menü zu hangeln. Doch bereits nach wenigen Augenblicken schwand sein anfänglicher Optimismus.

»Nichts, zum Teufel! Ich dachte, ich würde Bilder oder wenigstens ein paar Textdateien finden. Der Typ hat das Ding offenbar nur zum Daddeln benutzt.«

Im nächsten Moment erhellte sich jedoch sein Gesicht. Er öffnete an der Seite ein Fach und nahm ein winziges Plastikkärtchen heraus.

»Eine SIM-Karte. Mal schauen, ob er die Karte vielleicht auch zum Telefonieren benutzt hat.«

Im nächsten Moment riss er sein Smartphone aus der Hosentasche, entfernte seine eigene Karte und legte die des Opfers in das Fach. Sekunden später loggte sich sein Smartphone in das Netz eines Billigproviders ein.

»Wenigstens hat er auf ein Passwort verzichtet«, brummte der Kripobeamte, während seine Finger über das Display strichen. »Ah, da haben wir es schon. Die Liste der gewählten Telefonnummern. Mal schauen, mit wem er zuletzt telefoniert hat.«

»Was erwarten Sie?« meinte Stefanie. »Dass sich am anderen Ende der Leitung jemand meldet und 'Ups!' sagt?«

Schäfer warf der Staatsanwältin einen nachdenklichen Blick zu.

»Geben Sie mir mal Ihr Smartphone.«

Kopfschüttelnd kam Stefanie seiner Bitte nach. Sie hatte keinen blassen Schimmer, was Schäfer im Schilde führte. Der Kripobeamte tippte eine Rufnummer ein und reichte Stefanie das Mobiltelefon zurück.

»Bin gespannt, wer sich meldet. Aber wer es auch sei, lassen Sie sich was einfallen, damit derjenige keinen Verdacht schöpft.«

Stefanie wartete, bis sich die Verbindung aufbaute. Wenige Augenblicke fror ihr Gesicht ein. Hastig entschuldigte sie sich dafür, dass sie sich angeblich verwählt habe und beendete das Gespräch.

»Das glaube ich jetzt nicht«, stammelte sie mit weit aufgerissenen Augen. Sie nannte ihm den Namen.

»Hmm«, murmelte Schäfer. »Jetzt müssen wir nur noch nachweisen, dass der Tote den Brand in der Disco gelegt hat und eventuell sogar als einer der Raufbolde in Moutussis Laden in Frage kommt. Dann hat die Bürgermeisterin aber ein richtiges Problem.«

 

~~~~~~~

 

 

 

Die Stimme des Anrufers klang gehetzt.

»Ein Glück, dass Sie Ihre Prepaid-Karte nicht getauscht haben, sonst hätte ich Sie nicht erreichen können. Wo stecken Sie? Wissen Sie eigentlich, was heute Morgen passiert ist?«

Die Frau, die zuweilen den Namen des legendären Zwergenkönigs mit der Tarnkappe benutzte, grinste breit. Im gleichen Augenblick passierte sie die luxemburgisch-belgische Staatsgrenze. Jetzt sucht mal schön, knurrte sie grimmig vor sich hin. Laurin lässt grüßen.

»Machen Sie sich um mich mal keine Sorgen, Genosse«, erhielt der Anrufer zur Antwort. »Was regen Sie sich auf? Wir haben alle gewusst, dass der Spuk auch mal ein plötzliches Ende finden könnte. Aber dass sich der Oberst gleich aufhängen muss! Was ist mit Ihnen? Kommen Sie soweit klar?«

»Ich bin bereits auf dem Flughafen Schiphol. Mein Flieger nach Bratislawa geht in einer knappen Stunde. Treffen wir uns in Belgrad?«

»Ich würde es noch lauter heraus posaunen, Sie Idiot! Was, wenn wir abgehört werden?«

»Ein unregistriertes Prepaid-Handy? Wie soll das gehen?«

Frag die verdammte NSA, knurrte sie stumm in sich hinein. Die zeigen dir schon, wie sowas geht.

»Auch wieder wahr«, fuhr sie nach einer Weile fort. »Was Ihre Frage anbelangt: Das mit Belgrad ist mir zu riskant. Zu dicht an Österreich. Eigentlich wollte ich auf die Kanaren und von dort ein Boot nach Tanger nehmen. Machen Sie's gut. Man sieht sich.«

Nachdem sie das Gespräch beendet hatte, ließ sie die Scheibe auf der Fahrerseite hinuntergleiten und warf das Handy in hohem Bogen auf den Asphalt. Im Rückspiegel konnte sie erkennen, wie das Gerät in tausend Teile zersplitterte.

»Scheiße, Scheiße, Scheiße!« schrie sie und hämmerte dabei wie wild auf ihrem Lenkrad herum.

»So ein blödes Arschloch! Warum können solche Dilettanten nicht für fünf Minuten mal ihre verdammte Klappe halten!«

Nach Stand der Dinge lag es durchaus im Bereich des Möglichen, dass jemand ihre Gespräche abhörte. In dem Fall wusste die Gegenseite spätestens jetzt, wie ihre Fluchtpläne aussahen. Aber was sollte sie machen? Das Ticket nach Belgrad hatte sie in der Tasche. Vor Tagen in Luxemburg auf falschem Namen in einem Reisebüro besorgt. Sie trug inzwischen zwar eine Perücke und hatte sich mit Hilfe von Theaterschminke älter gemacht, aber sie war sich nicht sicher, ob diese Maskerade inzwischen noch ausreichte, um Flughafenpolizei und Check-in-Personal zu täuschen. Energisch gab sie Gas. Sie musste früher als geplant am Flughafen eintreffen. Vielleicht konnte sie ja noch etwas an ihrer Flugroute ändern. Serbien war nach den Balkankriegen sowieso keine wirkliche Option.

 

Kurz vor Brüssel hielt sie an einer Raststelle an und bat einen Fernfahrer um sein Handy. Der Mann rückte es erst heraus, als sie versprach, nur ein kurzes Gespräch nach Holland zu führen.

»Rijkspolitie Amsterdam. Goede middag. Hoe kan ik U van dienst zijn?«

»Ganz kurz. Ich habe leider keine Zeit. Lassen Sie ein Band mitlaufen?«

Im Hintergrund hörte sie das hektische Klicken auf einer Tastatur.

»U bent duitser? Mag ik het eerst Uw naam weten, alstublieft?«

»Später. Seit heute morgen wird in Deutschland nach einem hohen Regierungsbeamten gefahndet. Der Mann befindet sich bereits auf niederländischem Staatsgebiet und wird in etwa einer halben Stunde vom Flughafen Schipol aus einen Flieger nach Bratislawa besteigen. Vorsicht! Der Mann ist bewaffnet. Ich rate Ihnen dringend, sich mit dem deutschen BKA in Verbindung zu setzen.«

Ohne eine Antwort abzuwarten, drückte sie das Gespräch weg, wischte unbemerkt mit dem Jackenärmel über die Tastatur und reichte das Handy seinem Besitzer zurück. Schmunzelnd kletterte sie in ihren Wagen. Wieder ein Schmarotzer weniger. Auf den Kerl war in letzter Zeit sowieso kein richtiger Verlass mehr gewesen. Und überhaupt, was hatte der Kerl überhaupt in der Slowakei verloren? Nur der Brummifahrer tat ihr irgendwie leid. Der würde einiges zu erklären haben, sobald Interpol herausbekam, von welchem Anschluss das Gespräch geführt worden war.

 

~~~~~~~

 

»Wie kommen Sie darauf, dass sich der Todeszeitpunkt auf die Minute genau feststellen lässt?« wollte Lydia wissen.

Professor Steinhagen lächelte indigniert.

»Eigentlich ist das Ihr Job. Jetzt stimmen Sie mir hoffentlich zu, weshalb auch die beste Kriminaltechnik niemals die Arbeit eines Rechtsmediziners ersetzen kann. Sehen Sie hier.«

Er nahm das linke Handgelenk des Toten und deutete auf dessen Armbanduhr. Sie stand auf zehn Uhr fünfunddreißig. Lydia schaute genauer hin. Die Zahlen für die Sekundenangabe veränderten sich nicht. Die Uhr war entweder defekt oder die Batterie hatte im entscheidenden Moment den Geist aufgegeben. Ihr war das am Tatort gar nicht aufgefallen. Wo war sie bloß mit ihren Gedanken?

»Merken Sie was? Die Uhr ist stehengeblieben. Und warum hat sie das getan?«

»Sie werden es mir bestimmt gleich verraten«, seufzte Lydia.

Steinhagen zog eine Starklichtlampe herbei und deutete auf den Dreitagebart des Toten, der auch den gesamten Halsbereich bedeckte.

»Schauen Sie her. Winzige Brandspuren, hervorgerufen durch einen sogenannten Elektroschocker. Der Mann ist allem Anschein nach zunächst betäubt und anschließend erstickt worden.«

»Mit einem Elektroschocker?«

Steinhagen nickte.

»Das ist der Grund dafür, warum die Armbanduhr des Toten stehen geblieben ist und ich somit den Todeszeitpunkt beinahe auf die Minute genau bestimmen kann. Beim Einsatz einer Elektroimpulswaffe entstehen Hochspannungsentladungen im mittleren sechsstelligen Volt-Bereich. Aber sowas brauche ich Ihnen als Spurensicherungsexpertin ja wohl nicht zu erklären. Jedenfalls reagiert eine Digitalanzeige sehr empfindlich auf solche elektrischen Entladungen.«

Demonstrativ zog er die linke Manschette seines blütenweißen Oberhemdes ein Stück nach oben. Darunter erschien silberne Rolex.

»Die hier hätte solch einen Elektroimpuls natürlich problemlos weggesteckt. Ist schließlich eine Automatik und nicht solch ein Billigkram aus Fernost.«

Die letzten Worte kamen geradezu verächtlich über seine Lippen.

»Jedenfalls lagen Sie richtig mit Ihrer Vermutung. Das Opfer starb tatsächlich durch Ersticken, denn der Elektroimpuls selbst war nicht tödlich. Jemand hat dem Opfer anschließend eine Plastiktüte über den Kopf gestülpt. Es sollte nach einem Herzanfall aussehen. Was natürlich Unfug ist. Der Tote verfügte über eine recht gute körperliche Konstitution.«

Lydia dachte für einen kurzen Augenblick nach.

»Wurde er gewaltsam festgehalten?«

Steinhagen schüttelte den Kopf.

»Alles muss sich ziemlich rasch und für das Opfer unerwartet abgespielt haben. Abwehrverletzungen sind jedenfalls keine erkennbar. Nun strengen Sie mal Ihr hübsches Köpfchen an. Ich gebe Ihnen einen Tipp: Als Täterin könnte auch eine Frau infrage kommen. Ziemlich wahrscheinlich sogar. Neben Pfefferspray werden gerade Elektroimpulswaffen häufig von Frauen zur Selbstverteidigung benutzt.«

Was du nicht sagst, brummte Lydia still in sich hinein. Sie besaß selbst eine Taser-Waffe. Die hatte sie sich vor ein paar Jahren in der Schweiz besorgt, nachdem sie auf einem Autobahnparkplatz in Südfrankreich beinahe vergewaltigt worden wäre. Die Waffe war in Deutschland für Privatpersonen zwar verboten. Aber lieber riskierte sie eine saftige Geldstrafe, als noch einmal in solch eine Situation zu geraten. Zum Glück hatte sie den Taser noch nie benutzen müssen.

 

»Ich hätte da noch was«, sagte sie und hielt dem Professor das Glasröhrchen entgegen. »Können Sie für mich herausfinden, ob die DNA registriert ist?«

Steinhagen drehte sich auf dem Absatz herum.

»Frankenstein!«

Professor Steinhagens Assistent kam wie gewohnt mitsamt Bürostuhl in den Untersuchungsraum gerollt.

»Was kann ich für Ihro Spectabilität tun?«

Steinhagen schüttelte den Kopf.

»Nun werden Sie mal nicht kindisch. Hier, ein Frauenhaar. Massenspektrometer-Analyse und zwar ein bisschen flott, wenn ich bitten darf. Wir wollen die Dame nicht unnötig warten lassen.«

Er wandte sich wieder an Lydia.

»Mich entschuldigen Sie bitte. Ich habe Wichtigeres zu tun.«

Man hätte es auch als Rausschmiss erster Klasse bezeichnen können.

 

»Wie sieht's aus?« fragte Lydia und beugte sich dabei über die Schultern des Rechtsmediziners.

»Geduld.«

Der Computer auf Steins Schreibtisch arbeitete inzwischen auf vollen Touren. In Bruchteilen von Sekunden wurden die DNA-Werte mit den Angaben in den verschiedenen Datenbanken verglichen. Schließlich wurde eine Übereinstimmung angezeigt.

»Melanie Balfelder, 48, wohnhaft in Grafenstein...«

Überrascht war Lydia nicht. Seit der Mail, die darauf hindeutete, dass Melanie Balfelder allem Anschein nach Beziehungen zu Erna Leinfeld gehabt hatte, wunderte sie sowieso nichts mehr.

»Moment«, murmelte der Rechtsmediziner. »Da haben wir noch was. Die Übereinstimmung liegt allerdings im Bereich von unter siebzig Prozent.«

Er grinste.

»Für eine Vaterschaftsfeststellung würde es jedenfalls nicht reichen.«

»Um wen handelt es sich?«

Stein drehte sich zu ihr herum.

»Sie erinnern sich an den Brand in der Disco? Sie stellten uns seinerzeit eine DNA-Probe zur Verfügung. Sie war wegen der Hitze zwar kaum noch zu gebrauchen, aber wenn mich nicht alles täuscht, lassen sich gewisse Übereinstimmungen mit der DNA des Toten herauslesen.«

»Sie meinen...?«

Der Rechtsmediziner winkte ab.

»Ich meine erst mal gar nichts. Das herauszufinden ist Ihr Job, oder besser gesagt, Aufgabe der Kripo. Eigentlich lehne ich mich ohnehin schon viel zu weit aus dem Fenster. Die Beweislage ist nämlich mehr als dünn. Ob die DNA-Probe überhaupt gerichtsverwertbar ist, das muss die Staatsanwaltschaft entscheiden. Allerdings deutet einiges darauf hin, dass der Tote mit der Flasche, in der sich der Brandbeschleuniger befand, irgendwann mal in Berührung gekommen sein muss.«

 

Wenige Augenblicke später verließ sie die Rechtsmedizin und zückte ihr Smartphone. Sie tippte eine kurze Zusammenfassung der Untersuchungsergebnisse in eine Email und schickte die Nachricht ans BKA und an die Staatsanwältin. Anschließend schwang sie sich in ihrem Sportwagen und fuhr nach Hause. Dort wartete die nächste Baustelle.

»Schön, dass Sie auf mich gewartet haben«, meinte sie beim Betreten ihres Appartements.

»Wohin hätte ich denn Ihres Erachtens verschwinden sollen?« drang es etwas gepresst aus dem Gästezimmer.

»Auch wieder wahr.«

Lydia ging in die Küche, stellte eine Espressotasse in den Kapselautomaten und betätigte den Startknopf. Während sie mit gespitzen Lippen die Crema abschlürfte, zog sie gleichzeitig ihr Smartphone aus der Jackentasche, um ihre Mails zu checken. Stefanie Michels bedankte sich für ihren Hinweis und deutete dabei an, dass sie gemeinsam mit Schäfer auf dem Weg ins Rathaus sei, um Melanie Balfelder zur Vernehmung abzuholen. Der Verdacht, Carsten Maschner könne etwas mit dem Brandanschlag auf die Disco in Salmfeld zu tun gehabt haben, verlieh den Verstrickungen der Bürgermeisterin in die Affäre Grafenstein eine völlig neue Dimension. Zum Schluss wies sie noch darauf hin, dass nach dem Hals über Kopf aus der Klinik getürmten Verkehrsunfallopfer inzwischen landesweit gefahndet würde. Nach Lage der Dinge sei nicht mehr auszuschließen, das die Frau, die sich in Grafenstein und Trier eindeutig unter falschem Namen aufhielt, in die Mordfälle verwickelt ist.

»Mist!« fluchte sie halblaut vor sich hin. Andererseits, was hatte sie erwartet? Dass Kripo, BKA und Staatsanwaltschaft nicht Eins und Eins zusammenzählen konnten? Die Frau tauchte kurz vor der Ermordung von Erna Leinfeld in Grafenstein auf und knüpfte auch Kontakt zu Gregor Weisz, der inzwischen ebenfalls in der Rechtsmedizin lag. Doch wer mochte ein Interesse daran haben, Marianne und deren Bekannte aus dem Weg zu räumen? Zudem aus welchem Grund? Das herauszufinden war einer der Gründe, warum sie die Fremde bei sich untergebracht hatte. Im übrigen wollte sie unbedingt in Erfahrung bringen, was in Wirklichkeit hinter der mysteriösen Internetbekanntschaft zwischen den beiden ungleichen Frauen steckte. Sie musste sich Gewissheit verschaffen. Schon um ihres eigenen Friedens Willen.

 

»Schlechte Nachrichten?« meinte eine Stimme aus Richtung Türrahmen.

»Herrje, Sie sollen doch liegen bleiben! Lassen Sie mal sehen. Ich sehe schon, der Verband muss dringend gewechselt werden.«

»Ich wollte die Klinik nicht Knall auf Fall verlassen«, beschwerte sich die Frau und ließ sich stöhnend auf einen der Küchenstühle sinken. »Das war Ihre Idee.«

»Die Alternative wäre eine Kugel zwischen die Rippen gewesen. Einen BKA-Beamten hat es jedenfalls erwischt. Wenigstens ist Ihrer Bettnachbarin nichts passiert.«

Lydia öffnete eine Kunststoffbox und zog Verbandsmaterial hervor. Mit geübten Handgriffen wickelte sie die blutgetränkten Verbände vom Oberkörper der Frau ab und kontrollierte die Wunde. Die blutete immer noch ziemlich stark, und das bereitete ihr Sorge. Eigentlich hätte sie längst in die Hände eines erfahrenen Facharztes gehört. Beim übereilten Abtransport der Frischoperierten aus dem Marienhospital muss irgendwas schief gegangen sein. Entweder hatten sich Wundnähte gelöst, oder sie hatte sich eine Infektion eingehandelt.

»Nicht so fest!« beklagte sich die Frau, als Lydia den Brustverband neu anlegte. Es war ihr deutlich anzumerken, dass sie sich nur äußerst ungern von Lydia behandeln ließ. Aber was sollte sie machen? Einen Bereitschaftsarzt konnte sie nicht herbeirufen. Der hätte sofort Verdacht geschöpft und mit Sicherheit die Polizei informiert.

»Das ist nicht fest«, widersprach Lydia ohne besonderes Empathie. »Das ist normal. Und stellen Sie sich gefälligst nicht so an. Ich tue Ihnen schon nichts. Brauchen Sie was gegen die Schmerzen?«

Die Frau nickte. Lydia drückte zwei Kapseln aus einem Blister und reichte sie ihr mit einem Glas Wasser.

»Das ist Dormicum. Ein Einschlafmittel. Für die Schmerzen gebe ich Ihnen noch eine Spritze. Ein Präparat, das in der Kieferchirurgie verwendet wird. Fragen Sie mich besser nicht, wie ich seinerzeit dran gekommen bin.«

Mit Lydias Hilfe schleppte sie sich zurück ins Gästezimmer und sank dort aufs Bett. Lydia hockte sich neben sie und kontrollierte ihren Blutdruck.

»Warum tun Sie das eigentlich?« fragte ihr Gegenüber nach einer Weile.

»Warum, fragen Sie? Nun, wie Sie wissen bin ich Leiterin der Kriminaltechnik. Das bedeutet, ich bin schon von Natur aus neugierig. Sie scheinen die Einzige zu sein, die überhaupt noch Licht in das Dunkel bringen kann. Anderen Leuten scheint das inzwischen auch aufgefallen zu sein, oder was denken Sie, warum man Ihretwegen nicht einmal vor einem Mordanschlag in einer Unfallklinik zurückschreckt? Ich konnte es jedenfalls nicht verantworten, Sie weiterhin einer solchen Gefahr auszusetzen.«

»Warum habe ich eigentlich keinen Polizeischutz erhalten?«

»Den hatten Sie ja. Aber alleine den Polizeibeamten abzulenken, der zu Ihrem Schutz abkommandiert war, war für mich bereits ein Kinderspiel. Ich denke nicht, dass die Polizei momentan dazu in der Lage ist, Ihre Sicherheit zu garantieren. Wie ich hörte, hat der Kerl, der hinter Ihnen her ist, den Polizeibeamten mit Chloroform ausgeschaltet. Wie im Kino. Bei mir sind Sie im Augenblick jedenfalls sicher. Kein Mensch käme auf die Idee, Sie ausgerechnet bei der Leiterin der Trierer Kriminaltechnik zu vermuten.«

Die Frau schüttelte den Kopf.

»Ich verstehe das trotzdem nicht. Sie können mich nicht ausstehen. Weshalb also plötzlich dieses übertriebene Samaritertum?«

»Ich hatte mit Marianne zwar nur eine kurze, dafür jedoch wunderbar harmonische und zudem auch noch aufregende Beziehung. Meine erste seit über fünf Jahren. Ich war verliebt. Wenn ich mit Marianne auch nur telefonierte, färbte sich der Himmel rosarot. Und plötzlich poltern Sie in mein Leben. Genauso alt wie ich, ungemein attraktiv, sexy, angeblich hetero, obwohl ich da gar nicht so hundertprozentig sicher bin. Plötzlich drehte sich in Mariannes Leben alles nur noch um Sie. Margarete hier, Margarete da. Marianne verabredete sich mit Ihnen, reiste Ihnen hinterher, ohne mich an ihren Plänen teilhaben zu lassen. Mir gegenüber deutete sie nur mal ganz nebenbei an, es ginge um diese alte Geschichte. Ihre Jugend, die man ihr angeblich in der ehemaligen DDR gestohlen hätte, und dass sie durch einen Zufall ihre leiblichen Eltern ausfindig machen könne.«

Die andere Frau warf Lydia einen mitleidigen Blick zu.

»Ich dachte bisher, Männer wären schon eifersüchtig, aber ihr Lesben seid ja noch viel schlimmer.«

Lydia verzog keine Miene. Sie wollte nicht zugeben, dass ihre Gesprächspartnerin in diesem Punkt recht hatte.

»Und mit Samaritertum hat das im übrigen gar nichts zu tun, meine Liebe. Sie haben richtig beobachtet: Ich kann Sie auf den Tod nicht ausstehen. In meinen Augen sind Sie eine selbstverliebte arrogante Ziege. Aber ich bin Profi genug, um Privates von Beruflichem zu trennen. Sie sind im Mordfall Grafenstein, wie ich bereits andeutete, tatsächlich die Einzige, die zur Aufklärung beitragen kann.«

»Da überschätzen Sie mich aber gewaltig. Ich bin eigentlich nur durch Zufall in diesen ganzen Schlamassel hineingeraten.«

Lydia runzelte die Stirn.

»Das müssen Sie mir aber mal genauer erklären.«

Ihr Gegenüber winkte ab.

»Mache ich. Aber nicht jetzt. Ich bin müde. Ich möchte mich gerne etwas ausruhen.«

Lydia erhob sich.

»Natürlich. Ich habe sowieso noch zu tun. Bei mir im Büro stapelt sich nämlich die Arbeit. Aber eines möchte ich vorab wissen: Wer sind Sie wirklich?«

»Wie gesagt, das würde im Augenblick zu weit führen. Bitte, ich möchte im Augenblick nur ein wenig schlafen.«

»Verraten Sie mir wenigstens ihren wahren Vornamen.«

»Cornelia.«

Ihre Stimme wurde schläfrig.

»Aber jetzt lassen Sie mich bitte...«

Die Frau im Gästebett schloss die Augen. Kurz darauf atmete sie tief und gleichmäßig. Sie war allem Anschein nach eingeschlafen. Kein Wunder nach dieser Ladung Dormicum.

Lydia ging ins Wohnzimmer, zog ihr Notebook hervor und loggte sich ein. Anschließend suchte sie im Internet nach einer Cornelia Sandhoff. Sie fand keinen einzigen Eintrag. Weder bei Facebook, MyHistory oder sonstwo in einer Suchmaschine. Nicht einmal in einem einzigen lausigen Online-Telefonverzeichnis. Unverrichteter Dinge klappte sie ihr Notebook wieder zu. Cornelia würde ihr jedenfalls noch einiges zu erklären haben.

 

 

 

 

Kapitel 21

 

 

Als Stefanie gemeinsam mit Schäfer und der aufgebrachten Bürgermeisterin auf dem Rücksitz das Polizeipräsidium erreichte, umspielte ein siegessicheres Lächeln das Gesicht der jungen Staatsanwältin. Herrgott, hatte die Bürgermeisterin vielleicht einen Zirkus veranstaltet, als Schäfer sie aus der laufenden Gemeinderatssitzung heraus komplimentierte. Der Zeitpunkt war zumindest für die Delinquentin aber auch wirklich ungünstig gewählt, denn genau in diesem Augenblick stellte Axel Schröder ganz offiziell den Antrag, Melanie Balfelder wegen Korruptionsverdacht unverzüglich ihres Amtes zu entheben. Schäfer hingegen nahm von dem Tumult unter den Ratsmitgliedern keine Notiz. Er fragte nur lapidar, ob sie freiwillig mitkäme oder ob er seinen Edelstahlschmuck aus dem Gürtel ziehen müsse. Dementsprechend angefressen war die Dame, als sie in den Dienstwagen der Staatsanwaltschaft stieg. So aufgebracht, dass Stefanie den Kripobeamten bat, bei ihr im Passat mitzufahren.

Unterwegs versuchte Melanie Balfelder pausenlos per Smartphone mit irgendwelchen Leuten Kontakt aufzunehmen. Vergeblich, wie Stefanie schmunzelnd feststellte. Die Ratten verließen offenbar schneller das sinkende Schiff, als die Frau auf dem Rücksitz überhaupt Telefonnummern wählen konnte. Nur ihren Rechtsbeistand konnte sie anscheinend erreichen. Das Büro der Sozietät versprach, bei Gelegenheit einen Strafverteidiger vorbeizuschicken.

»Sie sind die letzte Zeit Staatsanwältin gewesen«, tobte die Bürgermeisterin. »Das gebe ich Ihnen schriftlich. Und der Kerl da neben Ihnen darf froh sein, wenn man ihn demnächst den Verkehr regeln lässt. Falls überhaupt.«

»Was Sie nicht sagen«, winkte Stefanie ab.

 

Im Polizeipräsidium wurde Melanie Balfelder sofort in einen Vernehmungsraum geführt. Dort hockte Kroppke und schien bereits auf sie und Schäfer zu warten. Seine Miene verhieß nichts Gutes.

»Was hat eigentlich die Vernehmung dieser Knalltüte auf dem Motorrad ergeben?« fragte Schäfer, während er der Bürgermeisterin gleichzeitig einen Stuhl zuwies.

Kroppke gab beiden ein Zeichen, ihm nach draußen auf den Gang zu folgen.

»Schießen Sie los!« forderte ihn die Staatsanwältin auf, nachdem die Tür hinter ihnen ins Schloss gefallen war.

»Houston, wir haben ein Problem. Der Typ ist wieder auf freiem Fuß.«

Stefanie schaute den Kriminalhauptmeister entgeistert an.

»Was sagen Sie da? Auf freiem Fuß? Wie konnte das passieren? Ist der etwa getürmt?«

Kroppke schüttelte den Kopf.

»Ihre Chefin hat ihn laufen lassen. Angeblich bestehe kein begründeter Anfangsverdacht. Die Tatwaffe sei ja schließlich auch nicht aufgetaucht.«

»Und seine Schussverletzung?«

Kroppke zuckte die Schultern.

»Keine Ahnung. Die Breuer hat mich während der eigentlichen Vernehmung sowieso hinausgeschickt. Keine Ahnung, was die da gemeinsam ausgekaspert haben.«

Stefanie drohte schwindelig zu werden.

»Das darf doch wohl alles nicht wahr sein. Wo zum Henker steckt die Alte?«

Kroppke zuckte erneut die Schultern.

»Keine Ahnung. Aber ist das nicht seltsam? Gerade unsere Oberstaatsanwältin lässt doch sonst niemanden aus, bei dem die Beweislage so eindeutig ist.«

Stefanie griff zu ihrem Smartphone. Mehrmals wirbelten ihre Finger über das Display, aber am anderen Ende der Leitung nahm niemand ab. Sie rief die Pforte an.

»Ist Frau Dr. Breuer aus dem Haus?«

»Ich denke schon. Ich sah sie vorhin zusammen mit einem jüngeren Mann das Dienstgebäude verlassen. Ihr Wagen steht auch nicht mehr auf ihrem Dienstparkplatz. Soll ich etwas ausrichten, falls sie wieder hereinkommt?«

Ja, sie soll sich auf der Stelle bei mir melden, wollte Stefanie schon losbrüllen, doch im letzten Moment biss sie sich auf die Lippen. Vielleicht gab es für das seltsame Verhalten ihrer Chefin ja tatsächlich eine plausible Erklärung.

»Falls Sie sie sehen, richten Sie ihr doch bitte aus, ich habe sie nicht erreichen können und bäte dringend um Rückruf.«

 

»Was ist mit der da?« fragte Kroppke, und deutete auf die Tür, hinter der Melanie Balfelder auf ihre Vernehmung wartete.

»Sie ist Tatverdächtige im Fall Carsten Maschner und damit aller Wahrscheinlichkeit nach auch im Zusammenhang mit dem Brand in der Disco.«

Kroppke runzelte die Stirn.

»Der Disco-Brand? Okay, aber wer um alles in der Welt ist Carsten Maschner?«

»Das wird Ihnen anschließend der Hauptkommissar erklären.«

Im nächsten Moment setzte sie Schäfer darüber in Kenntnis, was die Rechtsmedizin inzwischen herausgefunden hatte.

»Übernehmen Sie bitte mit Herrn Kroppke die Vernehmung der Bürgermeisterin. Und gnade euch Gott, wenn die uns auch noch durch die Lappen geht.«

 

Schäfer nickte, schob seinen immer noch ratlosen Kollegen in den Vernehmungsraum und schloss die Tür. Ohne großes Vorgeplänkel kam er gleich zur Sache.

»Vergangene Nacht ist bei den Landungsbrücken von Grafenstein ein Carsten Maschner umgebracht worden. Allem Anschein nach wurde er zunächst mit einem Elektroschocker betäubt und anschließend erstickt. Der Rechtsmedizin zufolge sollte das nach einem gewöhnlichen Herztod ausschauen. Schwachsinn. Der Typ war sportlich durchtrainiert und kerngesund.«

Melanie Balfelder lehnte sich zurück und verschränkte die Arme.

»Was habe ich damit zu tun? Ich kenne überhaupt keinen Carsten Maschner und bei den Landungsbrücken bin ich das letzte Mal bei der Einweihung eines Flusskreuzfahrtschiffes gewesen. Das war kurz nach Ostern. Was hätte ich denn dort Ihres Erachtens mitten in der Nacht verloren gehabt?«

»Sagen Sie's mir«, grinste Schäfer. »Und verraten Sie mir in diesem Zusammenhang auch gleich, wie ausgerechnet Haare mit Ihrer DNA auf das Oberhemd des Toten geraten konnten.«

Unwillkürlich biss sich Melanie Balfelder auf die Unterlippe. Ihre Augen funkelten.

»Was weiß denn ich? Ich habe keine Ahnung, wer der Mann ist und was er mitten in der Nacht bei uns in Grafenstein zu suchen hatte. Ich jedenfalls habe mit dessen Tod absolut nichts zu tun. Und jetzt sage ich gar nichts mehr. Jedenfalls solange mein Rechtsanwalt noch nicht aufgetaucht ist.«

»So, wie's momentan ausschaut, werden Sie den auch bitter nötig haben«, erwiderte der Hauptkommissar ungerührt.

 

Zurück im Büro streifte Stefanie als erstes ihren Mantel ab und legte ihn über die Lehne eines Besucherstuhls. Anschließend riss sie die oberste Schreibtischschublade auf und kramte einen Müsliriegel hervor. Notration für ganz bittere Zeiten. Heftig mit den Kiefern mahlend lehnte sie sich in ihrem Bürosessel zurück und schloss die Augen. Mit allem hatte sie gerechnet, aber bestimmt nicht damit, dass ausgerechnet die Oberstaatsanwältin einen Hauptverdächtigen laufen ließ. Was hatte sich die Alte dabei bloß gedacht?

Der Einzige, der ihr in dieser vertrackten Situation überhaupt noch hätte helfen können, war Netterscheid, aber der lag schwerverletzt im Marienhospital. Noch vor dem Zubettgehen hatte sie in der Chirurgie angerufen und sich nach dessen Zustand erkundigt. Erst wollte man ihr nichts sagen, aber als sich die Stationsschwester an sie erinnern konnte, rückte sie schließlich mit der Sprache heraus. Der Patient hätte grenzenloses Glück gehabt. Zwei Zentimeter weiter links, und er wäre ein Fall für die Rechtsmedizin gewesen. Er sei zwar mittlerweile über den Berg, die Operation war aber angeblich nicht so ganz komplikationslos verlaufen. Beim Zusammenflicken wichtiger Blutgefäße sei der Patient kurz weg gewesen. Der behandelnde Chirurg hätte ihn aber zum Glück reanimieren können.

»Kann ich ihn sprechen?«

»Tut mir leid, aber Herr Netterscheid hat noch kein Telefon angemeldet, und Handygespräche sind bei uns auf Station nicht erlaubt.«

»Aber ich werde ihn doch wohl besuchen dürfen.«

Die Stationsschwester überlegte einen Moment.

»In Ordnung, aber nur kurz. Und kommen Sie mir bloß nicht auf die Idee, Herrn Netterscheid heimlich aus der Klinik zu schaffen.«

Unwillkürlich runzelte Stefanie die Stirn.

»Wie kommen Sie denn auf die Idee?«

Die Frau am anderen Ende der Leitung lachte.

»Sie erinnern sich an das freie Bett in dem Patientenzimmer, wo die Schießerei stattfand? In dem das andere Unfallopfer liegen sollte? Da hat sich offenbar jemand eine Schwesterntracht besorgt und die Patientin vor aller Augen erst zum OP gefahren, dann aber heimlich aus der Klinik geschafft. Wie im Kino! Sowas ist uns ja noch nie passiert!«

Wenige Augenblicke später machte sich Stefanie auf den Weg ins Marienhospital.

 

~~~~~~~

 

Das Smartphone begann auf dem Nachttisch wie wild hin und her zu tanzen.

»Scheiße! Hat man hier nicht mal für fünf Minuten seine Ruhe?«

Gleichzeitig warf er einen Blick auf das Display. Doro. Na, wenigstens etwas.

»Herrje, Chef! Wie geht's Ihnen?«

»Ging schon mal besser. Was gibt's?«

»Werfen Sie mal einen Blick in Ihr Email-Postfach. Ich habe Ihnen was Interessantes zugemailt. Und der Boss will Sie sprechen.«

»Wenn's denn unbedingt sein muss«, seufzte Netterscheid. »Dann stell mich mal durch.«

»Na, also«, begrüßte ihn sein Chef. »Er weilt ja doch noch unter den Lebenden. Wie geht es Ihnen, mein Junge?«

Netterscheid runzelte die Stirn. Wenn der Alte erst einmal so anfing, dann war da was im Busch. Jedenfalls ließ sich sein Vorgesetzter erst einmal haarklein berichten, was sich die vergangenen vierundzwanzig Stunden zugetragen hatte.

»Herr im Himmel!» knurrte der Alte. »Lässt sich von irgend so einem durchgeknallten Spinner drei Kugeln verpassen und läuft dann anschließend ohne Schutzweste in der Gegend herum, als wäre nichts geschehen. Sie hätten doch damit rechnen müssen, dass der Kerl vielleicht noch einmal auftaucht.«

»Ich hatte aber keine Zeit, erst noch nach Meckenheim zu fahren und mir eine neue Weste zu besorgen«, versuchte er sich zu verteidigen. »Schließlich hatten Sie mir eine Frist gesetzt. Achtundvierzig Stunden. Schon vergessen?«

Die Stimme am anderen Ende der Leitung schnaufte heftig.

»Jedenfalls sind Sie erst einmal raus aus der Nummer!«

Netterscheid kam ein Verdacht, doch der war einfach ungeheuerlich.

»Bin ich wegen Belgien etwa suspendiert?«

»Unsinn! Sollte sich die belgische Polizei beschweren, dann halte ich dafür den Kopf hin. Verschafft sich einfach Zugang zu einer amtlich versiegelten Wohnung. Und das auch noch im Ausland. Man glaubt es nicht.«

»Wer kümmert sich eigentlich jetzt um den Fall?«

Dr. Braun legte eine kurze Pause ein. Als er fortfuhr, klang seine Stimme seltsam ernst.

»Niemand. Jedenfalls keiner von uns. Wir sind komplett raus aus der Nummer. Köln kümmert sich ab sofort um den Fall.«

Netterscheid kniff die Augen zusammen.

»Der Verfassungsschutz?«

Sein Gegenüber sog geräuschvoll die Luft ein.

»Nicht so laut! Kein Wort zu niemandem, hören Sie! Über Einzelheiten kann und will ich mich mit Ihnen im Augenblick und schon gar nicht am Telefon unterhalten. Nur soviel: In Karlsruhe hat sich heute Morgen ein hohes Tier bei der Bundesanwaltschaft aufgehängt. Soweit wir wissen, stand der mit auf der Liste dieser Stiftung für moderne Geschichte. Und im Innenministerium soll ein Abteilungsleiter nicht mehr zum Dienst erschienen sein. Auch einer, der offenbar Geld von dieser Erna Leinfeld angenommen hat. Im übrigen wollen unsere Schlapphüte über deren Luxemburger Kollegen erfahren haben, dass innerhalb der vergangenen vierundzwanzig Stunden erhebliche Summen von den Konten dieser Stiftung abgezogen worden sind. Die sind richtig fix, diese Strolche. Ich sage Ihnen, in Berlin brennt inzwischen die Hütte. Das Kanzlerbüro soll regelrecht getobt haben. Kein Wunder, bei deren Migrationshintergrund. Herr im Himmel, das würde noch fehlen! Aber Schluss mit lustig. Ich habe sowieso schon viel zuviel geplaudert. Sprechen Sie bitte einstweilen mit niemandem darüber. Auch nicht mit der Staatsanwaltschaft. Das ist eine dienstliche Weisung, haben wir uns verstanden?«

Kurz darauf wurde seine Stimme wieder verbindlicher.

»Sobald Sie transportfähig sind, lasse ich sie ins Bundeswehrkrankenhaus Koblenz bringen. Das scheint mir sicherer als der Aufenthalt in irgend so einem Wald-und-Wiesen-Hospital. Man sieht ja, was alles passieren kann. Ach ja, noch etwas. Ich habe mit der Personalstelle über Ihre Versetzung in den Innendienst gesprochen. Alt genug dafür sind Sie ja. Darüber hinaus habe ich mir das Recht herausgenommen, Ihre Frau über das gefakte Bild von Ihnen und Frau Breitner zu informieren. Ich glaube, Sie ist bereits auf dem Weg nach Trier. Also, halten Sie die Ohren steif und gute Besserung!«

Ein kurzes Klicken beendete das Gespräch. Zurück blieb ein verletzter BKA-Beamter mit einem wunderlichen Gesichtsausdruck.

 

»Ich frage mich, was ihre Chefin dazu veranlasst haben mag, den Typen einfach laufen zu lassen. Da stimmt doch was nicht. Wenn Sie mich fragen, wird sie entweder erpresst, oder sie steckt selbst mit in der Sache drin.«

Stefanie musste sich erst an seinen Anblick gewöhnen. Netterscheid war um die Brust herum dick bandagiert und an zahlreichen Strippen und Schläuchen angeschlossen. Am Kopfende des Bettes hing eine ganze Batterie von Überwachungsgeräten. Wäre Netterscheid ein Auto gewesen, hätte vermutlich eher ein Diagnosestecker ausgereicht. Obwohl der BKA-Beamte käsebleich war, wirkte er dennoch hellwach. Trotzdem, die Zeit drängte. Gerade mal zehn Minuten Besuchszeit hatte man ihr eingeräumt.

»Sie meinen, die Breuer hat was mit der Affäre Grafenstein zu tun?«

Netterscheid machte ein nachdenkliches Gesicht.

»Ich erhielt vorhin eine Mail von Doro. Eure KTU ist ja richtig auf Zack. Frau Sartorius hat die Daten auf dem Rechner dieser Erna Leinfeld mal einer eingehenden Prüfung unterzogen und ist dabei auf erstaunliche Zusammenhänge gestoßen. Eine der Dateien enthielt sehr gut versteckt die Zugangsdaten für eine Cloud. In dieser Cloud ist nicht nur der gesamte Schriftverkehr der Fondation pour l'histoire moderne gespeichert, die Cloud enthält auch Hinweise zu den Finanztransaktionen der Stiftung seit ihrer Gründung. Diese merkwürdige Stiftung für modere Geschichte ist im Prinzip ein Sammelbecken für seinerzeit beiseite geschafftes SED-Vermögen. In den vergangenen Jahren müssen Unsummen am Fiskus vorbei an deren ehemalige Leute geflossen sein. Offenbar finanzierte Erna Leinfeld von Belgien aus den Lebensunterhalt zahlreicher ehemaliger SED-Größen. Vornehmlich Stasi-Mitarbeiter oder Leute, die hohe Pöstchen im ehemaligen DDR-Regime bekleideten.«

Stefanie runzelte die Stirn.

»So richtig verstehen tue ich das immer noch nicht. Die Leinfeld hatte doch selbst ein Vermögen von ihrem Ehemann geerbt. Wozu dann noch diese Schwarzgeldgeschichte?«

»Das Geld vom ollen Leinfeld fungierte quasi als Startkapital, damit die anschließende Schweinerei nicht so schnell auffliegen konnte. Ist doch einleuchtend. Bei einem Konto, auf dem sich bereits bei der Eröffnung hohe achtstellige Summen befinden, wird niemand misstrauisch, sobald weitere Einzahlungen in größerer Höhe eintrudeln. Die Typen aus dem Osten hatten wahnsinniges Glück, dass sich Erna Leinfeld nichts aus Geld machte. Jeder andere hätte sich mit all dem Zaster vermutlich längst aus dem Staub gemacht. Mich würde es übrigens nicht wundern, sollte die Ehe mit Bernd Leinfeld von der Gegenseite geschickt eingefädelt worden sein. Doch darum sollen sich gefälligst andere kümmern.«

»Klarer Fall für die Steuerfahndung«, nickte Stefanie. »Aber was hat das alles mit meiner Chefin zu tun?«

Netterscheid antwortete nicht. Nur ein breites Grinsen huschte über seine Mundwinkel.

»Nee, ne?« stammelte die junge Staatsanwältin. »Das glaube ich jetzt nicht! Die Breuer? Ja, aber wieso? Die ist doch Oberstaatsanwältin!«

»Sind Sie so naiv, oder tun Sie nur so? Überlegen Sie mal. Woher stammt Ihre Chefin? Aus dem Osten. Zu DDR-Zeiten war sie hochdekoriertes SED-Mitglied. Sie arbeitete zwar nicht direkt für das Ministerium für Staatssicherheit, war allerdings für die Anklage von Dissidenten und sonstiger subversiver Elemente zuständig. Nach der Wende wechselte sie wie viele Andere aus ihrer Zunft in den Staatsdienst der Bundesrepublik. Und in welchem Bereich fand sie einen Posten? Bei der Staatsanwaltschaft Bochum, die, wie wir alle wissen, bundesweit auf Steuervergehen spezialisiert ist. Sozusagen die Ober-Ober-Steuerfahndung. Von dort her kennt sie übrigens auch diesen Hagen Brenner.«

Unwillkürlich schloss Stefanie die Augen. Der Verdacht, den Netterscheid da erhob, war so ungeheuerlich, dass es ihr förmlich die Sprache verschlug. Die Oberstaatsanwältin in eine Korruptionsaffäre verstrickt? Auch noch mit politschem Hintergrund? Noch vor einer Woche hätte sie jeden, der sowas behauptet hätte, auf seinen geistigen Zustand überprüfen lassen. Doch seit den Vorfällen der vergangenen Tage schien ihr inzwischen nichts mehr unmöglich. Die Breuer! Unfassbar!

»Meinen Sie, der Brenner steckt in dem Fall mit drin?«

Netterscheid zuckte die Schultern.

»Möglich ist alles. Glaube ich aber ehrlich gesagt nicht. Warum verschwindet der bei Nacht und Nebel nach Östereich und taucht dann anderntags wieder quietschfidel bei uns auf? Mit entsprechend Geld in der Tasche hätte der sich doch bequem ins außereuropäische Ausland absetzen können. Einmal in Österreich ist man schließlich ganz schnell in Kroatien oder sonst wo auf dem Balkan verschwunden. So ein Weingut lässt sich über einen gewieften Makler jederzeit verscherbeln. Im übrigen ist die Mutter dieser Rechtsanwältin, die ihm neuerdings nicht mehr von der Seite zu weichen scheint, bereits seit Jahren scharf auf dessen Betrieb.«

Stefanie runzelte die Stirn.

»Kroatien gehört zur EU.«

Netterscheid lachte.

»Ja, klar. Und im Vatikan herrscht das Zölibat.«

 

Stefanie erhob sich und ging ein paarmal auf und ab. Sie versuchte sich zu konzentrieren. Es gelang ihr nicht wirklich.

»Wenn ich Sie richtig verstehe«, meinte sie nach einer Weile, »dann verdächtigen Sie unsere Oberstaatsanwältin, mit ehemaligen SED-Seilschaften zu kooperieren und ihr Amt dahingehend zu missbrauchen, indem sie Korruption und Steuerhinterziehung deckt beziehungsweise erst möglich macht?«

Netterscheid nickte.

»Ich gehe sogar noch einen Schritt weiter. Eigentlich hat die Alte Sie doch ständig ausgebremst. Eine intensive Recherche im Mordfall Erna Leinfeld passte der Dame nämlich überhaupt nicht in den Kram. Deshalb hat sie auch die Unerfahrenste aus ihrer Truppe mit der Klärung der Angelegenheit betraut. Nun schauen Sie nicht wie eine Kuh bei Gewitter! Im Wirklichkeit sollte nämlich so rasch wie möglich Gras über die Sache wachsen, damit Zeit genug blieb, die Stiftungsaktivität in aller Ruhe neu zu organisieren. Schließlich gehörte sie mit zu dem Personenkreis, die von den Machenschaften dieser Leinfeld profitierte. Leider stolperte aber das BKA über diesen Mordfall, und damit bekam die Angelegenheit eine völlig neue Dynamik. Ohne mein Zutun wäre die Sache mit Sicherheit genauso über kurz oder lang im Sande verlaufen, wie das bei Ihnen geplant war. Hätten Sie beispielsweise einen Massengentest veranlasst? Oder wenigstens alle Beteiligten zu einer Zeugenbefragung ins Rathaus einbestellt? Wohl kaum, oder? Aber machen Sie sich nichts daraus, die Oberstaatsanwältin hätte Sie sowieso rechtzeitig aus dem Sattel geschossen. Anschließend wäre die Angelegenheit mangels weiterer Erkenntnisse hintenan gestellt worden, zumal ja auch noch der Brand in der Disco mit zwei weiteren Todesopfern und der Mordfall Weisz aufgeklärt werden musste. Wenigstens scheint die Sache Öztürk inzwischen geklärt zu sein.«

Er atmete tief durch. Es tat höllisch weh.

»Mich würde in diesem Zusammenhang interessieren, wer diese ominöse Mail mit dem Kontoauszug an Sie und das Grafensteiner Tageblatt verschickt hat. Wer konnte von den Geldtransfers etwas ahnen und kam überdies an die entsprechenden Kontoauszüge heran? Für mich kommt da nur jemand aus dem unmittelbaren Umfeld der Bürgermeisterin infrage.«

»Ihr Ehemann vielleicht? Von dem soll sie sich angeblich Knall auf Fall getrennt haben, wie man hört. Die beiden abgetauchten rumänischen Prostituierten haben sich, wie Schäfer inzwischen herausbekommen konnte, ausgerechnet mit Stefan Balfelder und das auch noch vor laufender Kamera ein Stelldichein gegeben.«

»Oder dieser kleine Bengel. Max Balfelder unterhält regen Internetkontakt zu Mitgliedern der Borussenkameradschaft, denen auch Axel Schröder nahesteht. Das wär's doch: Der Lausbub will seiner Mami eins auswischen, vielleicht, weil er zu wenig Taschengeld bekommt, und verschickt lustig und vergnügt Interna aus dem finanziellen Umfeld der Dame ausgerechnet an deren politischen Gegner. Tja, jetzt lernt Frau Balfelder mal am eigenen Leib kennen, wie es ist, wenn man sogar von der eigenen Verwandtschaft bespitzelt und denunziert wird.«

Stefanie schaute Netterscheid verblüfft an. Der winkte ab.

»Was treibt ihr eigentlich den ganzen Tag? Recherchiert ihr zwischendurch auch mal? Die gute Frau Balfelder war vor der Wende in der Verwaltung der Frauenhaftanstalt Hoheneck beschäftigt. Aus dieser Zeit kennt sie wohl auch die Tote aus dem Yachthafen und die Breuer. Die Leinfeld hat die Leute vernommen, die Breuer war für die Auswertung der Protokolle und die anschließende Anklageerhebung verantwortlich.«

»Die Balfelderin hat für die Stasi gearbeitet?« keuchte Stefanie.

Netterscheid schüttelte den Kopf.

»Ach was. In Hoheneck war sie allem Anschein nach nur eine kleine Tippse. Dafür aber glasklar politisch eingenordet. Junge Pioniere und anschließend Mitglied im DFD. Jede Menge Parteiabzeichen, eins sogar in Gold. Wie die anschließend ohne große Probleme einen Job in der Verwaltung bekommen konnte, ist wohl nur darauf zurückzuführen, dass ihre eigene Stasi-Akte clean war. Oder jemand hat sie clean gemacht.«

Stefanie schüttelte den Kopf. So, als gelte es, ein lästiges Insekt abzuschütteln.

»Lassen Sie mich mal rekapitulieren. Wir haben eine Bürgermeisterin und eine Oberstaatsanwältin, die ganz offensichtlich auf der Gehaltsliste einer belgischen Stiftung stehen, die von Zeit zu Zeit gehortetes Geld über Luxemburger Konten an Leute des ehemaligen Honecker-Regimes auszahlt. Okay, die Balfelderin haben wir in Gewahrsam. Bleibt also nur noch die Breuer. Wenn wir ganz großes Pech haben, haut die uns noch ins Ausland ab.«

Netterscheid erinnerte sich an das Gespräch mit seinem Vorgesetzten. Inzwischen ging es ihm selbst beinahe schon wie der Breuer. Er musste die Kleine bremsen, sonst geriet er anschließend noch in Verdacht, sich verquatscht zu haben.

»Lassen Sie das mal das BKA erledigen«, meinte er betont beiläufig. »Bundesbehörden haben in solchen Dingen mehr Erfahrung und auch die besseren Connections.«

Langsam begann Stefanie ihren alten Herrn zu begreifen. Das hier war wirklich tausendmal spannender, als irgendwo im stillen Kämmerlein dröge Wertpapierprospekte zu studieren.

 

»Das Problem ist nur«, fuhr Netterscheid nach einer Weile fort, »wir haben jetzt eine Reihe Leute, die wir vielleicht wegen Steuerhinterziehung und Korruption vor den Kadi zerren können, aber immer noch keine Tatverdächtigen für die Mordfälle. Im Prinzip ist das alles nur Beifang. Wir wissen zum Beispiel immer noch nicht, wer die Leinfeld auf dem Gewissen haben könnte. Von den Drahtziehern, die hinter dem tödlichen Verkehrsunfall und dem Mord an diesem Realschulrektor stecken, mal ganz zu schweigen. Und schließlich gibt mir auch der nächtliche Überfall auf den Brenner und die Journalistin einige Rätsel auf.«

»Sie denken, die Fälle hängen alle irgendwie zusammen?«

»Sagen wir mal so: Wenn mich nicht alles täuscht und Rechtsmedizin und Spurensicherung nicht völlig daneben liegen, geht der Mord an diesem Carsten Maschner ganz eindeutig auf das Konto der Grafensteiner Bürgermeisterin. Offenbar hat Maschner im Auftrag von Melanie Balfelder die Disco angezündet, damit man den Brandanschlag ihrem politischen Widersacher in die Schuhe schieben konnte. Vermutlich hat er die Dame im Nachhinein erpresst. Vielleicht hat Maschner herausbekommen, wer sein Auftraggeber ist, und dass er hierbei eine goldene Kuh melken kann. Ich gehe im übrigen stark davon aus, dass hinter dem Anschlag auf diesen Moutussi ebenfalls der Maschner steckte. Sich hierfür ein paar Ganoven aus dem Milieu zu besorgen und so auszustaffieren, dass sie wie Faschos aussehen, ist nun wirklich keine Kunst.«

Er legte eine kleine Pause ein. Inzwischen tat ihm jeder Atemzug weh. Die Ärzte hatten schon recht, der Staatsanwältin allenfalls zehn Minuten Besuchszeit einzuräumen. Er durfte sich keinesfalls überanstrengen.

»Im Fall Leinfeld stecke ich ehrlich gesagt genauso in der Sackgasse wie auch im Fall Gregor Weisz und im Zusammenhang mit dem tödlichen Verkehrsunfall. Zumal deshalb, weil sich die beiden letzten Vorfälle beinahe zeitgleich ereignet haben. In jedem Fall sollten Sie als erstes mit der Frau sprechen, die den Unfall überlebt hat. Wo ist die überhaupt abgeblieben?«

Stefanie verzog ihr Gesicht.

»Nach Aussage der Stationsschwester ist sie aus der Klinik getürmt. Mit Sicherheit heißt sie auch nicht Margarete Sandhoff. Eine Margarete Sandhoff wurde in die Klinik angeblich nie eingeliefert. Das ist auch der Grund, warum ich noch keine Fahndung eingeleitet habe. Nach wem sollte ich auch suchen lassen? Nach einem Phantom? Nicht einmal Frau Sartorius hat ein Foto von der Frau.«

»Eure Spusi-Expertin?« horchte Netterscheid auf. »Was hat die denn mit der Unbekannten zu tun?«

»Das ist eine lange Geschichte«, wich Stefanie seiner Frage aus. »Zu aller erst sollten wir diesen wild gewordenen Motorradfahrer dingfest machen. Wenn Sie mich fragen, kann nur der Licht ins Dunkel bringen. Falls er überhaupt jemals die Klappe aufmacht.«

»Da habe ich auch so meine Zweifel. Das hier ist ganz großes Kino, meine Liebe. Jedenfalls schreckt die Gegenseite nicht vor Mord und Totschlag zurück. Sollte der Typ tatsächlich auspacken, dann ist er am nächsten Tag selber dran. Ich fürchte, bei den Herrschaften, denen wir dabei sind, gehörig auf die Stiefel zu treten, geht es zu wie bei der Mafia.«

»By the way: Was ist jetzt mit dem Haftbefehl für meine Chefin?«

»Ich bin sicher, die Fahndung läuft bereits«, lächelte Netterscheid.

Stefanie atmete tief durch.

»Junge, Junge, hoffentlich geht das mal gut. Sollte die Alte nämlich für alles eine plausible Erklärung haben, dann kann ich mich auf was gefasst machen.«

»Auf die Erklärung Ihrer Chefin wäre ich aber gespannt«, erwiderte Netterscheid.

Stefanie tippte rasch ein paar Zeilen in ihr Smartphone.

»Eines ist mir immer noch ein Rätsel«, meinte sie anschließend. »Warum um alles in der Welt wurde die Leinfeld umgebracht? Zumindest für die Nutznießer der Stiftung war die Frau doch wie ein Sechser im Lotto. Und wieso taucht die urplötzlich in Grafenstein auf und lässt sich von wem auch immer abknallen? Ausgerechnet mit derselben Waffe, mit der auch dieser Dr. Kohn erschossen wurde.«

Netterscheid kam nicht mehr dazu, eine Antwort zu geben. Die Tür schwang auf, und der Chefarzt der Chirurgie gefolgt von zwei Schwestern betrat den Raum.

»Visite«, meinte eine der Frauen lakonisch. »Würden Sie bitte draußen warten? Ach ja, die Besuchszeit ist ohnehin um.«

 

~~~~~~~

 

»Mann, Mann, Mann«, schnaufte Ballensiefen, während er die ersten Portionen servierte. »Das wird ja immer doller bei uns in Grafenstein. Erst die Tote bei mir im Yachthafen, dann der junge Öztürk mit seiner Freundin, die Marianne, der Weisz und jetzt die Leiche bei den Landungsbrücken. Sodom und Gomorrha, sage ich euch. Hier geht's ja inzwischen schlimmer zu als in Chicago.«

Wir, das heißt Karl, Lena, unsere rasende Lokalreporterin, der ohnehin omnipräsente Totengräber und ich hatten uns beim Ballensiefen eingefunden, um die Ergebnisse unserer Erkundungstour zu bequatschen. Lanzerath musste mit seinem Leichenwagen geradezu wie ein Henker durch die Gegend gerast sein, um nur ja sein Rehragout nicht zu verpassen. Jedenfalls hatte er den Toten in rekordverdächtiger Zeit in der Trierer Rechtsmedizin abgeliefert und wartete nun sehnsüchtig auf das Mittagessen und unseren Bericht. Ähnlich dachte wohl auch Sylvia. Nicht auszudenken, wäre ausgerechnet die Reporterin der örtlichen Tageszeitung über die neuesten Entwicklungen im Unklaren geblieben. Bei den Landungsbrücken hatte sie schon klein beigeben müssen, aber man konnte ja schließlich nicht immer gewinnen.

»Jetzt schieß mal los! Ich will was hören für mein Geld.«

Das Rehragout war wieder mal erste Sahne. Deshalb versuchte ich mich kurz zu fassen.

»Da gibt's eigentlich nicht viel zu erzählen«, hob ich an und versuchte gleichzeitig mit einer halbherzigen Geste den Wolfshund aus meiner unmittelbaren Umgebung zu vertreiben. »Wir waren im Allgäu und haben zwei grenzdebilen Bayern über die echte Margarete Sandhoff auszuquetschen versucht. Leider war aus den beiden Hinterwäldern aber nicht viel herauszubekommen. Nur soviel, dass die richtige Margarete Sandhoff sich bereits vor Jahren auf deren Tiroler Alm zurückgezogen hatte und schon lange vor ihrem Tod krank gewesen sein soll.«

»Was ist eigentlich mit der mysteriösen Bekannten von Marianne, die sich als Margarete Sandhoff ausgegeben hat?« wollte Sylvia wissen. »Habt ihr herausbekommen können, wer das in Wirklichkeit ist?«

»Keine Spur. Die soll allerdings bei denen im Allgäu aufgetaucht sein und sich als Reporterin ausgegeben haben. Sie gab vor, über die Haftzustände seinerzeit in Hoheneck recherchieren zu wollen.«

»Diese Frau Leim«, fuhr Lena an meiner Stelle fort, »also die Cousine der echten Margarete Sandhoff, erwähnte beiläufig eine Tochter. Die allerdings hat sich dem Vernehmen nach unmittelbar nach der Wende irgendwohin abgesetzt. Jedenfalls hat die Sandhoff ihre Tochter in all den Jahren nicht ausfindig machen können. Die Leims behaupten, sie würden das Mädchen sowieso nur von Erzählungen kennen.«

»Aber da muss man doch mal nachhaken«, beschwerte sich Sylvia. »Die Sandhoff hatte in der damaligen DDR doch wohl ein Vorleben. Irgendwas muss da doch noch zu finden sein. Was ist eigentlich mit dem Ehemann? Vielleicht weiß der ja was. Genau. Dem sollte man mal gehörig auf den Schlips treten. Das scheint ja ein schöner Kommunisten-Arsch gewesen zu sein. Verpfeift seine eigene Frau, nur um in der Partei Karriere zu machen. Ja, geht's noch?«

 

Karl stupste mich an.

»Erzähl doch mal was über dieses seltsame 'Nannerl'. Ist die wirklich...?«

Dabei ließ er seinen Zeigefinger vor der Stirn kreisen.

»Aber sowas von«, nickte ich. »Typ debile Autistin mit ausgeprägtem Hang zur Schweigsamkeit. Aus der kriegst du nichts heraus.«

»Unfug«, widersprach Lena. »Die Frau ist doch nicht verrückt. Und Autistin ist die erst recht nicht. Autisten können sich, wie man weiß, nicht auf veränderte Situationen einstellen. Das ist bei unserem 'Nannerl' völlig anders. Als wir dort oben auftauchten, hat sie uns jedenfalls wie lange erwartete Gäste behandelt.«

»Habt ihr ein Foto von der Frau?«

Ich schüttelte den Kopf.

»Nein, aber ich könnte mir durchaus vorstellen, dass Sophia ein paar Erinnerungsfotos geschossen hat.«

»Jedenfalls ist die Frau geistig vollkommen normal«, fuhr Lena unbeirrt fort. »Die hat vermutlich nur irgendwann mal ein traumatisches Erlebnis gehabt. Von Geburt an stumm ist sie auch nicht, denn hören kann das 'Nannerl' einwandfrei. Im Verlaufe des kurzen Aufenthalts hatte ich das Gefühl, dass sie lediglich nicht reden möchte. Warum nicht, das kann wohl nur ein Psychiater herausbekommen. Aber wozu? Die alte Dame fühlt sich dort oben in den Bergen jedenfalls pudelwohl. Selbst über den Tod von Margarete Sandhoff scheint sie gut hinweg gekommen zu sein. Ich glaube, das Schlimmste, was man ihr antun könnte, wäre, sie jetzt von einem Arzt zum anderen zu schleppen.«

»Ich hätte gerne noch ein Löffelchen Nachschlag«, schnitt Lanzerath ratzfatz den Gesprächsfaden durch. Tja, bei Loch im Magen verstand der Totengräber kein Pardon. Ballensiefen raufte sich die Haare.

»Du raubst mir noch den letzten Nerv. Wird höchste Zeit, dass Susanne endlich von ihrem Lehrgang zurückkommt. Wenn das so weiter geht, dann kann ich demnächst einen eigenen Koch für dich anstellen.«

»Reg dich nicht auf«, grinste Lanzerath. »Ist schlecht für die Pumpe. Hinterher kann ich dich noch...«

Ballensiefen stemmte die Fäuste in die Hüften.

»Ich soll mich nicht aufregen, sagst du? Na schön, dann bezahlst du heute aber auch den vollen Preis für dreimal Rehragout Försterart mit allem Komfort und komm nach. Das wollen wir doch mal sehen.«

Lanzerath warf einen erstaunten Blick in die Runde.

»Was hat er denn auf einmal, unser Kochlöffelschwinger? Hat ihm jemand was ins Bier geschüttet?«

 

Bei mir in Schrittnähe begann es wieder mal lebhaft zu kribbeln. Irgendwann musste ich diesen Sprech-Dildo wirklich anders einstellen. Störendes Geläut hin oder her, aber das mit dem Vibrieren ging auf Dauer gar nicht. Weil es mir am Tisch zu unruhig war, stand ich auf und ging vor die Tür. Anschließend warf mir Lena einen fragenden Blick zu.

»Später«, murmelte ich ihr ins Ohr. »Miss Sophie hat mal wieder irgendwas herausbekommen, aber das scheint nicht für die Ohren aller hier am Tisch bestimmt zu sein, wie sie nebenbei hat durchblicken lassen.«

Laut meinte ich: »Tut mir leid, Leute, aber wir haben einen Termin.«

»Bei wem?« fragte Lanzerath zwischen zwei Bissen.

»Bei der Zauberin von Oz.«

Warum sollte ich schwindeln? Die Anderen hätten es sowieso irgendwann herausbekommen. Die Kunst bestand jetzt allenfalls darin, die neugierige Truppe rechtzeitig abzuschütteln, denn Lanzerath machte sofort Anstalten, uns begleiten zu wollen. Eigentlich ein Wunder, denn von einem vollen Teller bekam man den normalerweise nur weg, wenn man ihm eine geladene Kanone vor die Nase hielt.

»Worum geht's?« wollte Sylvia wissen.

»Anscheinend ein juristisches Problem«, kam mir Lena zuvor. »Da kann ich keine Zuhörer gebrauchen.«

»Und wieso darf der mit?« fragte Lanzerath und deutete auf mich.

»Mit der Spezialschaltung in meinem Mercedes stimmt was nicht. Hagen muss mich fahren.«

»Wer's glaubt«, maulte der Totengräber, verlangte dafür aber im nächten Augenblick die Dessertkarte.

 

~~~~~~~

 

Als wir ins Neubaugebiet einbogen, stießen wir auf einen regelrechten Volksaufstand. Vor dem Haus der Balfelders stand ein Möbelwagen; Stefan Balfelder war von bestimmt zwanzig Leuten umringt. Währenddessen wieselten Möbelpacker zwischen Hauseingang und LKW hin und her. In Höhe der Menschentraube hielt ich an und ließ das Verdeck zurückgleiten.

»... kann ich es nicht mehr mit meinem Gewissen vereinbaren und werde ausziehen. Mein Sohn kommt erst einmal mit zu mir, solange meine Frau in Untersuchungshaft sitzt.«

»Werden Sie sich von Ihrer Frau trennen?« wollte ein Mann wissen.

»Ob ich mich scheiden lasse, das habe ich noch nicht entschieden«, antwortete Stefan Balfelder mit hochrotem Kopf. »Da muss ich mich vorher noch mit meinem Anwalt beraten.«

»Fragt man inzwischen seinen Rechtsanwalt, ob man sich scheiden lässt?« fragte ich Lena. Die grinste breit.

»Das kommt ganz auf das Kleingedruckte an. Ich bin mir sicher, dass die Balfelders als ordentliche Geschäftsleute einen Ehevertrag geschlossen haben. Falls nicht, kann er sich auf was gefasst machen. Oha, was passiert denn da?«

In diesem Augenblick verließ ein Pärchen das Haus der Balfelders. Eine Fünfzehnjährige stürmte wutentbrannt die Treppenstufen hinunter, während ein Sechzehnjähriger ihr wild gestikulierend folgte.

»Du blöder Arsch!« konnten wir trotz des Volksgemurmels hören. »Komm mir bloß nicht nochmal unter die Augen. Bah, pfui, bist du eine feige Sau!«

»Herrje, kein Benehmen, die Kids heutzutage«, seufzte Lena.

»Tja, Designerklamotten machen noch lange keine Dame von Welt. Vielleicht wäre es tatsächlich besser, der Ballensiefen würde seine Tochter ins Internat stecken oder zu seinen Eltern schicken. Der alte Ballensiefen soll ein ganz harter Hund sein. Pensionierter Oberst bei den Fallschirmjägern. Der hat soviel Lametta an der Brust, nachts funkelt der wie ein Christbaum. Jedenfalls würde er diesem langhaarigen Früchtchen schon die Flötentöne beibringen.«

Inzwischen verlor auch der Junge die Beherrschung.

»Eh, du blöde Schlampe. Mach dich bloß vom Acker. Dich mach ich fertig! Dich und deinen blöden Alten mit seinem Hobbypuff.«

Bestimmt zehn Köpfe wirbelten herum und starrten den Jungen an.

»Ist der noch gescheit?« stöhnte ich. »Wenn der Ballensiefen erfährt, wie der mit seiner Julia umspringt und was der in aller Öffentlichkeit über seinen Laden sagt, dann setzt es aber einen Satz heiße Ohren, kann ich dir flüstern.«

Lena schaute mich verblüfft an.

»Tuttifrutti hat diesem Bengel schon einmal klargemacht, dass er sich nur ja vorsehen soll. Letztes Mal hat er ihn wenigstens nur achtkantig aus dem Restaurant geschmissen. Julia ist sein Ein und Alles. Wer die als Schlampe bezeichnet, der kann sich jedenfalls auf was gefasst machen.«

»Falls ihm die Hand ausrutscht, könnte er aber ernsthafte Probleme bekommen.«

»Ach, woher. Wir leben hier auf dem Land und nicht irgendwo in Berlin oder München. Wer sich so aufführt, muss mit Konsequenzen rechnen. Okay, auch bei uns verhaut normalerweise niemand seine Kinder. Ohrfeigen mitten auf der Straße gibt es auch längst nicht mehr, obwohl ich manchmal, wenn sich Dreijährige brüllend im Straßendreck wälzen, nur weil sie ihr Überraschungsei nicht bekommen, bei manch einer dieser verzweifelten Hausfrauen durchaus beide Augen zudrücken würde. Aber einem frechen Sechzehnjährigen mal gehörig zu zeigen, wo der Hammer hängt, da würde bei uns niemand die Polizei rufen.«

»Ein Glück, dass du keine Kinder hast.«

»Ist das ein Wunder?« rutschte mir heraus. »Kinder sind die Pest. Erst kotzen sie dir die Klamotten voll und hinterher beklauen sie dich oder nehmen Drogen.«

Lena schaute mich fassungslos an. Julia rettete die Situation. Jedenfalls steuerte sie schnurstraks auf uns zu. Ehe wir uns versahen, landete ein Louis-Vuitton-Köfferchen auf dem Rücksitz und einen Wimpernschlag später hockte sie bereits auf einem der billigen Plätze.

»Wo soll's denn hingehen?« fragte ich überflüssigerweise. »Zahlst du bar oder mit Karte?«

»Quatsch keine Opern, sondern gib gefälligst Gas. Wenn ich nicht in fünf Sekunden von hier verschwunden bin, kotz ich denen noch quer durch den Vorgarten.«

Ich startete den Motor und ließ den Mercedes anrollen.

»Hast du heute vielleicht eine Laune.«

»Die hättest du auch, wenn du wüsstest, was ich gerade herausbekommen habe.«

Gleichzeitig stopfte sie sich die In-ear-Kopfhörer ihres iPod in die Lauscher.

Ich bemerkte Lenas ratlosen Blick.

»Irgendwo im Wald aussetzen können wir sie immer noch. Ich möchte aber zu gerne wissen, was sich bei den Balfelders abgespielt hat.«

»Sag mal, tickst du nicht richtig?« schrie Julia. Inzwischen war die Menschenansammlung vor dem Haus der Balfelders nur noch in Umrissen zu erkennen. »Falsche Richtung, Gevatter! Nach Hause geht's dahinten lang.«

Dabei deutete sie unmissverständlich in die entgegengesetzte Richtung.

»Wenn du nicht gleich Frieden gibst, dann bekommst du von mir den Arsch versohlt«, meinte ich, und zupfte ihr, weil sie vor lauter Lärm anscheinend ihr eigenes Wort nicht mehr verstand, die Stöpsel heraus. »Herumtoben kannst du daheim bei deinem Erzeuger, mein Fräulein. Bei mir benimmst du dich gefälligst anständig. Erst recht, wenn eine Dame mit an Bord ist. Was ist denn überhaupt passiert? Hat der Max dich in Unterwäsche aus dem Bad kommen sehen, oder warum machst du hier so einen Aufstand?«

Hinter mir lief die blonde Version einer pubertierenden Hannah Montana geradezu zur Höchstform auf.

»Ich will aussteigen! Auf der Stelle.«

»Halt die Klappe und schnall dich gefälligst an. Das ist ja nicht zum aushalten. Wie willst du denn von hier aus heimkommen? Mit dem Taxi? Eben hat uns der Steinhöfel mit seinem Kombi überholt. Bis auf den letzten Platz besetzt. Der ist mit Sicherheit auf dem Weg nach Trier oder im schlimmsten Fall zum Flughafen nach Luxemburg.«

Das wirkte. Schlagartig wurde es still auf den preiswerten Rängen. Offenbar überlegte die Fünfzehnjährige, ob es tatsächlich Sinn machte, aus dem Cabrio zu steigen auf die Gefahr hin, zum Schluss vielleicht zu Fuß nach Hause laufen zu müssen. Ihr Vater hatte bestimmt noch im Restaurant zu tun und den Caddy würde sie bestimmt nicht schon wieder um eine Mitfahrgelegenheit bitten. Das eine Mal vor ein paar Tagen hatte schon gereicht. Tags darauf war das Tagesgespräch in der Schule. Ob sie sich neuerdings von Prolos in deren Lieferwagen herumkutschieren ließe, gehörte noch zu den charmanten Kommentaren. Selbst auf Facebook fand sie ihren gesellschaftlichen Ausrutscher gepostet.

Ich nahm Gas zurück, denn ich wollte unbedingt noch vor unserem Besuch bei Miss Sophie erfahren, was Max Balfelder angestellt hatte.

»Wer ist eigentlich die Tante da neben dir?« fragte Julia und deutete auf meine Beifahrerin.

»Das ist Lena. Im übrigen ist die 'Tante' die Tochter der Gräfin.«

»Und?« entgegnete das Mädchen. »Muss ich jetzt beeindruckt sein? Der ganze Adel ist doch sowieso dekadent bis dort hinaus. Kein Wunder, wenn man es nur untereinander treibt.«

Ich merkte, wie sich Lena im Beifahrersitz förmlich verkrampfte.

»Zieh hier gefälligst keine Show ab. Also, was ist mit dem Max? Ich höre.«

»Schnauz mich nicht an«, kam es von hinten zurück. Irgendwie klang ihre Stimme aber schon wesentlich gedämpfter. »Ihr habt doch von der Sache mit dem Weisz gehört, stimmt's? Der Typ war doch ein Freund von dir.«

Ich nickte. »Das ist allgemein bekannt. Weiter!«

»Du erinnerst dich bestimmt noch an die Fotos, die bei uns auf dem Schulcomputer gelandet sind. Du hattest mich noch gewarnt, die auf keinen Fall herumzeigen.«

»Glaubst du, ich leide an Altersheimer? Das ist kaum ein paar Tage her. Kommt endlich zur Sache!«

»Hat etwa der Max...?« mischte sich Lena zum ersten Mal ein.

Ich schlich währenddessen mit kaum mehr als fünf Stundenkilometern über den Asphalt. Nur noch ein paar Meter, und wir hatten Sophias Anwesen erreicht. Inzwischen überholten uns schon die ersten Mütter mit Kinderwagen.

»Nee, das nicht. Dahinter steckt dieser bescheuerte Bernd Düsing von der Borussenkameradschaft. Auch so ein Arschloch. Weiß der Henker, was der Max an dem findet. Okay, anfangs fanden wir das mit den Bildern ja alle noch ganz cool, besonders als dann diese Mail mit den angeblichen Sonderangeboten die Runde machte. Auf die Idee muss man erst mal kommen.«

Hinter mir gluckste es unüberhörbar.

»Wisst ihr eigentlich, wer die Bilder bei uns auf den Schulcomputer geladen hat? Die Sommer, die alte Schabracke. Wie man hört, soll die beim Weisz schon seit langem auf der Abschussliste gestanden haben. Würde mich nicht wundern, wenn die den Typen abgemurkst hat. Zuzutrauen wäre es ihr.«

Lena runzelte die Stirn.

»Wie hätte die denn an Pentobarbital herankommen sollen?«

»Die Sommer und die Gabi Dahrendorf sind doch Busenfreundinnen, und der Dahrendorf besitzt die einzige Apotheke in Grafenstein. Im übrigen ist ein Cousin von der Dahrendorf Tierarzt. Und zwar in einem Schlachthof. Noch Fragen?«

Lena und ich starrten uns an. Ballensiefen hatte recht. Sodom und Gomorrha. Unwillkürlich schüttelte ich den Kopf. Ich kannte Helene und Gabi seit Jahren. War denen wirklich ein Giftmord zuzutrauen? Nur deshalb, weil man Helene vielleicht einen Strich durch ihre Karrierepläne gemacht hatte? Unvorstellbar! Wirklich? Nach den Geschehnissen der vergangenen Tage schien inzwischen alles denkbar.

»Okay, aber was ist mit Max Balfelder? Du bist uns noch die Pointe schuldig.«

Julias Augen verzogen sich erneut zu schmalen Schlitzen.

»Ratet mal, wer dem Grafensteiner Tageblatt gesteckt hat, dass Maxens Mutter ein Konto in Luxemburg besitzt.«

»Doch nicht etwa...« Ich konnte es nicht glauben. Dieser kleine Rotzlöffel!

Julia winkte ab.

»Der Schröder. Aber wer wusste von diesem Konto? Na? Irgendeine Idee? Richtig, Maxens Vater. Und wer, meint ihr, hat dem Schröder den entscheidenden Tipp gegeben? Richtig, der Max.«

Unwillkürlich trat ich voll auf die Bremse. Nicht nur deshalb, weil wir sowieso inzwischen vor Sophias Haustür standen.

»Woher willst du das wissen?«

Julia grinste breit.

»Max und Moritz haben nicht nur vergessen, die Mail an den Schröder zu schreddern, sondern auch noch im Dokumentenordner liegen gelassen. Samt eingescanntem Kontoauszug, von dem in dem Zeitungsartikel die Rede ist. Mann, sind die blöd. Sowas passiert bei uns auf der Penne ja nicht mal einem Sechstklässler, wenn er mit Papas Rechner unerlaubt Pornos herunterlädt. He, wollt ihr zu Oma Finchen? Geil! Hat die nicht seit neuem diese riesige UHD-Glotze? Die muss ich unbedingt sehen.«

Im Vorgarten von Sophia kehrten die beiden Kastenreuths die Einfahrt. Von Nora hingegen war nichts zu sehen, obwohl Gartenarbeit eigentlich ihr Job war. Ich stellte den Motor ab. Julia stürmte sofort auf die beiden Männer zu und fiel ihnen nacheinander um den Hals.

»Was ist denn in die gefahren?« wunderte sich Lena. »Die ist doch sonst bestimmt nicht so anhänglich.«

»Klaus und Peter haben erstklassige Beziehungen zu einem Modehändler in Mailand. Da kannst du dir ja vorstellen, dass die Kastenreuths bei unserem Küken ganz oben auf der Facebook-Freundschaftsliste stehen.«

»Du scheinst ja mal wieder bestens informiert zu sein«, meinte sie.

Julia schlenderte zu uns zurück und schaute uns auffordernd an.

»He, was ist los? Wollt ihr in eurer Kiste Wurzeln schlagen? Hopp, hopp! Oma Finchen wartet bereits, wie ich hörte.«

Kopfschüttelnd kletterte ich aus dem Wagen und zog als erstes den faltbaren Rollstuhl aus dem Kofferraum. Julia verfolgte mein Tun mit ungläubigem Staunen. Als ich die Beifahrertür aufzog, Lena unter beide Oberschenkel fasste und sie vorsichtig hineinhob, stellte ich zu meiner inneren Befriedigung fest, dass auch einem fünfzehnjährigen Rotzlöffel bisweilen mal der Mund weit offen stehen kann.

 

»Was gibt's denn so Wichtiges, und wieso sollten die Anderen nichts erfahren?«

Ich schaute mich um und stutzte. Der Holzboden aus uralten Schiffsplanken war auf wundersame Weise einem hellgrauen hochglänzenden Kunststoffbodenbelag gewichen. Auch die Wände waren frisch tapeziert. Wie kam die alte Dame bloß immer so schnell an gute Schwarzarbeiter heran? Ein normaler Innendekorateur hätte sowas mit Sicherheit nicht über das Wochenende erledigt. Langsam sah es in Sophias Allerheiligstem tatsächlich aus wie in der Kommandokanzel von Battleship Galactica. Man durfte gespannt sein, wann der Rest des Mobiliars hierher gebeamt wurde.

Das mit edlem Brokat bezogene Kanapee, die beiden Besuchersessel und der schmale Couchtisch hatten bereits einem supermodernen Ensemble aus Chrom, Edelstahl und schneeweißem Nappaleder Platz machen müssen. Ich ließ mich in einen der vier halbkugelförmigen Sitzkessel gleiten. Wider Erwarten saß man darin sogar richtig bequem. Wer nicht aufpasste, war vielleicht sogar in kürzester Zeit eingepennt, denn jeder der beiden Halbkugeln verfügte über eine Massageeinrichtung. Und natürlich über eine Fernbedienung für den brandneuen Fernseher, von dem Julia sprach. Das Ding war so riesig und zeigte ein dermaßen scharfes Bild, dass sogar jemand mit vier Dioptrien eigentlich keine Sehhilfe brauchte.

»Nicht schlecht, was?« schmunzelte die alte Dame. »Ein OLED-4K. Zugegeben, das Ding ist sündhaft teuer, aber man gönnt sich ja sonst nichts.«

»Wau!« staunte Julia. »Gibt's den auch in Farbe? Sag mal, hast du den Eurojackpot geknackt? Das Ding kostet doch ein Vermögen.«

»Dann fange lieber schon mal an zu sparen, statt alles nur in Klamotten zu stecken. Aber jetzt gib Ruhe, ich habe mit den beiden was zu bereden. Mach dich von mir aus im Garten nützlich, wenn du magst. Im Gartenhaus stehen Eimerchen und Schäufelchen. Es dauert auch nicht lange.«

Wie auf Kommando umwölkte sich Julias Stirn.

»Verarschen kann ich mich selber.«

Sophia ließ sich von Julias Gerede überhaupt nicht aus der Ruhe bringen.

»Tatsächlich? Dann setz dich von mir aus auf die Veranda. Dort kannst du im Internet surfen.«

»Mit deinem Tablet? Und dann auch noch auf der Veranda? Wie soll das denn gehen? Wenn ich mich schminken will, gehe ich ins Bad.«

»Lass dich überraschen«, meinte Sophia und schob sie energisch nach draußen. Schon nach wenigen Augenblicken starrte Julia abwechselnd auf den Terrassentisch und durch die Glasscheibe des Wohnzimmerfensters.

»Ist doch immer wieder schön, die leuchtenden Augen junger Menschen zu sehen, wenn man ihnen eine Überraschung bereiten kann. Zusammen mit der neuen Fernsehanlage habe ich mir nämlich auch noch ein 27-Zoll-Tablet angeschafft. In Deutschland ist das Ding noch gar nicht erhältlich. Ich musste es mir eigens aus Korea schicken lassen.«

Sie schmunzelte.

»Nun, meine Augen sind nicht mehr die besten. Der Internetzugang wurde gleich auch ein bisschen aufgebohrt und überall im Haus neue Repeater für das WLAN angebracht. Ja, ich weiß, Alter schützt vor Torheit nicht. Irgendein Hobby muss man aber schließlich haben. Passt auf, die lädt jetzt da draußen bestimmt sämtliche neuen Filmclips bei Youtube herunter.«

»Du kannst toll mit Kindern umgehen«, staunte Lena. »Wieso hast du eigentlich nie geheiratet?«

 

Ich grinste stumm vor mich hin. Sowas fragte man die alte Dame nicht. Wie zu erwarten schnaubte Sophia deshalb auch nur leise vor sich hin und griff gleichzeitig in ihr legendäres Holzkistchen. Dieses Accessoire aus längst vergangener Zeit hatte die Verjüngungsorgie anscheinend wie durch ein Wunder überlebt. Unaufgefordert reichte sie auch Lena ein Stäbchen. Schließlich stießen beide Frauen den Rauch hinauf zur Decke, wo inzwischen eine Klimaanlage den Qualm mit kaum hörbarem Rauschen absaugte.

»Wir sind nicht zum Plaudern hier. Im übrigen fängt auch gleich meine nachmittägliche Pokerrunde an. Mal sehen, ob sich die Engländer diesmal wieder die Hosen herunterziehen lassen.«

Sie deutete auf ihr Tablet, ohne das sie nie ihr Haus verließ.

»Ich habe auf der Alm ein paar Fotos geschossen...«

War ja auch nicht anders zu erwarten.

»Wieso grinst du?« wollte sie von mir wissen.

»Ach, nur so«, meinte ich. »Und weiter?«

Sophia fuhr fort.

»Bereits auf der Fahrt zurück nach Grafenstein habe ich ein Foto von diesem 'Nannerl' im Hoheneck-Forum herumgereicht. Mein Verdacht, dass die Freundschaft der beiden Alm-Sennerinnen vielleicht weit in die Vergangenheit zurückreichen könnte, erwies sich als richtig. Zwei Mitglieder im Forum erkannten das 'Nannerl' als ehemaligen Zellengenossin von Margarete Sandhoff. Die hatte die Stasi besonders auf die Kieker, denn sie gehörte ursprünglich zu einer Gruppe von Messe-Hostessen, die im Auftrag der Staatssicherheit ausländische Geschäftsleute und erst recht natürlich solche aus der Bundesrepublik aushorchen sollten. Die junge Frau sollte jedoch angeblich vom westdeutschen Geheimdienst 'umgedreht' worden sein, wie man so schön sagt, oder sie hatte sich schlicht und ergreifend in einen ihrer Kunden verliebt. Sowas kam Anfang der Achtziger, als die DDR in einer tiefen Rezession steckte, gar nicht so selten vor. Leute aus Westdeutschland brachten anlässlich ihrer Besuche in der Regel teure Geschenke mit.«

Sophia schaute uns nachdenklich an.

»In Hoheneck wurden die Sandhoff und unser 'Nannerl' anscheinend sowas wie gute Freundinnen. Eine der Frauen behauptet sogar, sie wären sich während des Gefängnisaufenthalts auch menschlich irgendwie näher gekommen, wenn ihr versteht, was ich damit meine.«

»Die beiden Frauen waren ein Paar?« mischte sich Lena ein. »Nun, das würde das gemeinsame Schlafzimmer auf der Alm erklären.«

»Jedenfalls hat sich Margarete Sandhoff immer dann besonders rührend um ihre Mitgefangene gekümmert, wenn die mal wieder halbtot von irgendeiner Vernehmung zurück in die Gemeinschaftszelle geschleppt wurde.«

In diesem Moment glitt die Terrassentür zur Seite. Julia tauchte im Rahmen auf.

»Was willst du?« fragte Sophia knapp. »Du störst.«

»Dann kann ich ja auch wieder gehen«, maulte die Fünfzehnjährige.

Erneut reichte ein kurzer Blick, und das Mädchen verschwand auf die Terrasse. Miss Sophie hatte es jedenfalls immer noch drauf. Besonders im Umgang mit aufmüpfigen Jugendlichen. Wenigstens hatten die beiden Frauen ihre Joints diskret weggesteckt. Eine aufgeweckte Fünfzehnjährige hätte jedenfalls sofort spitz gekriegt, was da bei uns im Wohnzimmer gequalmt wurde. Ich ging zum Barschrank und bediente mich. Irgendwie wollte mir der Calvados aber überhaupt nicht schmecken.

 

»Mit der jungen Frau muss das Gefängnispersonal besonders übel umgesprungen sein. Selbst vor Folter wurde nicht Halt gemacht, um an Informationen heranzukommen. Ich sage euch, Waterboarding ist dagegen ein harmloses Plantschvergnügen. Zudem hat man sie abwechselnd mit Luminal und Protazin gefügig machen wollen, und als das alles nicht nutzte, sogar tagelang in den sogenannten Tigerkäfig gesperrt. Aber die Frau schwieg beharrlich. Vermutlich konnte sie die vielen Fragen auch gar nicht beantworten. Oder sie wollte nicht, um ihr Kind zu schützen. Als das 'Nannerl' in Hoheneck eingeliefert wurde, war sie jedenfalls schwanger.«

In meiner Kehle steckte inzwischen ein fetter Kloß. Mann, Mann, Mann, würde Tuttifrutti jetzt mit Sicherheit sagen.

»Die erwartete ein Kind?«

»Was denn sonst, wenn man schwanger ist«, schnaubte Lena. »Hast du vielleicht eine andere Idee?«

 

»So, und ab jetzt ist es wirklich nur noch was für ein Gespräch unter uns Klosterschwestern«, fuhr Sophia fort. »Ratet mal, wer Margarete Sandhoff und das 'Nannerl' in Hoheneck vernommen hat und wer für deren ärztliche Betreuung zuständig war. Niemand anderes als Erna Leinfeld, geborene Kosinsky, sowie der ebenfalls unlängst ermordete Dr. Jochen Kohn aus Dessau.«

Unwillkürlich schloss ich die Augen und atmete tief durch. Mir war ein Verdacht gekommen, und der war dermaßen ungeheuerlich, dass ich eigentlich gar nicht weiter darüber nachdenken wollte.

Erneut glitt die Terrassentür zur Seite.

»Verschwinde!« riefen Lena und ich beinahe gleichzeitig.

»Ist ja gut«, fauchte Julia und verschwand wieder nach draußen.

»Es wird noch interessanter. Anlässlich des Honecker-Besuchs 1987 kam es zu einer groß angelegten Amnestie. Margarete Sandhoff gehörte wohl mit zu den Auserwählten, die man entlassen beziehungsweise in den West abschieben wollte. Das 'Nannerl' soll darauf geradezu panisch reagiert und mit Selbstmord gedroht haben. Erst als Margarete ihr das Versprechen abnahm, nach der Entlassung als erstes deren Tochter ausfindig machen zu wollen, konnte sie sich wieder beruhigen. In diesem Zusammenhang fiel zu ersten Mal der Hinweis auf ein auffälliges Muttermal, welches das Kind angeblich am rechten Unterarm besaß. «

Als hätte ich es geahnt! Jetzt war es heraus.

»Marianne hatte ein solches Muttermal am rechten Unterarm«, rief ich. »Aus unerfindlichem Grund zeigte sie es jedoch nie in aller Öffentlichkeit herum. Ich selbst habe es auch nur durch Zufall entdeckt. Sobald sie nämlich ein ärmelloses Kleid trug, streifte sie stets einen breiten Armreif darüber.«

Lena starrte mich verblüfft an. Inzwischen schien auch ihr etwas zu dämmern.

»Das würde ja bedeuten...«

»Du vermutest ganz richtig«, ergänzte Sophia ihren angefangenen Satz. »Falls Marianne tatsächlich solch ein auffälliges Muttermal auf ihrem Unterarm besaß, dann war sie ohne Zweifel 'Nannerls' Tochter. Das würde auch erklären, warum ein Foto von ihr über dem Bett der alten Frau hängt. Wie das allerdings den Weg bis auf die Alm gefunden hat, das bleibt ein Rätsel. Vielleicht haben Marianne und ihre mysteriöse Internetbekanntschaft ja doch irgendwann mal eine Stippvisite nach Tirol gemacht.«

 

»Jedenfalls wird es jetzt eng für die Dame. Sämtliche Personen, von denen wir wissen, dass sie Margarete Sandhoff und Mariannes Mutter während ihrer Haft in Hoheneck etwas angetan haben, sind tot. Sollte der Staatsanwaltschaft endlich auch ein Licht aufgehen, möchte ich jedenfalls nicht in ihrer Haut stecken.«

»Erst recht nicht, wenn ich dir verrate, was ich sonst noch herausbekommen habe«, fuhr Sophia fort. »Ich habe mich nämlich gefragt, wo Herr Sandhoff eigentlich abgeblieben ist.«

Unwillkürlich richteten sich unsere Augen auf die pensionierte Volksschullehrerin.

»Heinrich Sandhoff lebte zuletzt in einem Seniorenheim auf Rügen. Das Karl-Liebknecht-Haus. Schon der Name sagt wohl alles, oder? Geführt wird der Laden jedenfalls immer noch wie eine ehemalige SED-Sommerresidenz. Vom Personal wollte mir erwartungsgemäß niemand Auskunft geben, aber ein Bekannter von mir hat bei denen mal ein bisschen hinter die Kulissen geschaut. Deren Server, auf dem übrigens sämtliche Personal- und Kundendaten gespeichert sind, ist vielleicht sowas von mieserabel abgesichert, das glaubt man kaum. Eigentlich sollte jemand den Datenschutzbeauftragten von Mecklenburg-Vorpommern informieren. Jedenfalls ergibt sich aus den Unterlagen zu diesem Heinrich Sandhoff, dass er in grauer Vorzeit mit einer Margarete Sandhoff verheiratet war und eine Tochter hatte. Es existiert auch eine testamentarische Verfügung.«

»Der Sandhoff ist tot?« fragte ich.

Sophia nickte.

»Voriges Jahr verstorben. Den Unterlagen zufolge war er geschieden. Aus einem Vermerk zu seiner Akte geht hervor, dass niemand aus seiner Familie ihn jemals besuchen durfte. Erst recht nicht seine Tochter, denn die gehörte 1989 angeblich zu den ersten Teilnehmern anlässlich der sogenannten Montagsdemonstrationen in Leipzig. Möglich, dass das Mädchen gleich nach der Wende das Land verlassen hat. Da nirgendwo in den Akten ihr Vorname auftaucht, konnte ich in diese Richtung leider nicht weiter recherchieren. In dem Vermerk ist immer nur die Rede von einer 'namentlich bekannten unerwünschten Person'.«

»Weißt du Näheres zum Inhalt des Testaments?«

Sophia verzog die Mundwinkel nach unten.

»Der Name der Rechtsanwaltskanzlei war in Heinrich Sandhoffs Unterlagen zwar vermerkt. Es handelt sich um eine bekannte Sozietät in Schwerin. Bei denen habe ich nachgefragt, ob das Testament von Heinrich Sandhoff bereits eröffnet sei. Das ist der Fall. Daraufhin habe ich beim zuständigen Rechtspfleger angerufen, um zu erfahren, wer die Begünstigten sind. Bei dem habe ich allerdings auf Granit gebissen.«

»Mist«, seufzte ich. »Wäre auch zu schön gewesen, um wahr zu sein.«

Lena grunzte verächtlich.

»Für mich ist die Sache sonnenklar. So viele Eheleute Sandhoff mit einerseits goldenem Parteiabzeichen und andererseits Haftkarriere in Hoheneck gibt es mit Sicherheit nicht. Erst recht keine geschiedenen Eheleute Sandhoff, die zudem auch noch eine Tochter haben.«

»Das würde ja...«, begann ich bedeutungsschwer.

Sophia ließ mich nicht ausreden.

»Einen solchen Verdacht hege ich, ehrlich gesagt, seit langem. Mariannes Überraschungsgast ist in Wirklichkeit Margarete Sandhoffs Tochter und mitnichten nur etwa deren Bekannte. Stimmen unsere Vermutungen, dann hatten beide Frauen ein klares Motiv für den Mord an Erna Leinfeld und Dr. Kohn. Und nicht zu vergessen Luise Kahlert. Soweit ich weiß, soll bei der Kahlert doch kurz vor ihrem Tod eine Journalistin aufgetaucht sein, die dann Fragen zu den damaligen Verhältnisse in Hoheneck stellte. Kurz darauf wurde sie auf offener Straße über den Haufen gefahren.«

»Ich glaube, ich brauche jetzt auch einen Schnaps«, stöhnte Lena und sah mich dabei auffordernd an. Ich ging erneut an die Bar und goss zur Sicherheit auch mein Glas gleich noch einmal randvoll. Sollte doch fahren, wer will!

 

»Ihr seid also der Ansicht«, meinte ich, als wir den ersten Schluck genommen hatten, »dass Marianne und Margarete Sandhoffs Tochter hinter all dem stecken? Aber wie sollen die denn um Himmels Willen an eine Neunmillimeter herangekommen sein?«

»Fahr nach Prag oder Bukarest, und lass in einer Bar im Bahnhofsviertel eine entsprechende Bemerkung fallen«, entgegnete Sophia. »Nichts leichter als das.«

»Du kennst dich ja aus.«

»Reine Lebenserfahrung. Ich bin in meinem Leben viel herumgekommen, mein Junge. Von meinem letzten Aufenthalt in den Staaten habe ich mir zum Beispiel einen 45er Colt Ned Buntline Special mitgebracht. Ein Trommelrevolver mit extra langem Lauf, wie ihn seinerzeit Billy the Kid, die Daltons und Wyatt Earp trugen. Davon gibt es heute nur noch ganz wenige Exemplare. Die Waffe ist offiziell deklariert als Sammlerstück. Das Ding funktioniert aber immer noch einwandfrei. Und treffsicher ist es auch. Damit schieße ich dir auf hundert Meter jeden Piepmatz vom Baum.«

Sie lachte kurz auf.

»Den Abzugshahn habe ich hinterher wieder eingesetzt. Das geht bei diesen alten Knarren übrigens ganz einfach.«

Unwillkürlich raufte ich mir die Haare.

»Und du warst mal Lehrerin? Na, Servus!«

»Das würde im Gegenzug bedeuten, Hagens Onkel ist praktisch raus aus der Nummer«, fand Lena zum eigentlichen Thema zurück.

Ich starrte in mein Glas.

»Weisst du, wo der sich in den vergangenen Wochen überall herumgetrieben hat? Zumindest für den Mord an Gregor hätte er ein Motiv. Fragen wir ihn am besten selbst.«

»Das wollte ich sowieso vorschlagen. Aber mir fällt noch etwas anderes ein. Es gibt jemanden, den wir völlig aus den Augen verloren haben: Mariannes Freundin Lydia. Marianne war unlängst verreist, vermutlich, um sich mit Margaretes Tochter zu treffen. Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass jemand wie Lydia Sartorius in diesem Zusammenhang keine Fragen gestellt hat. Als Chefin der KTU ist die doch schon von Beruf aus neugierig.«

»Nee, ne? Jetzt sag bloß, du glaubst, dass die Lydia auch noch in der Sache mit drin hängt. Wer kommt als nächstes? Der Ballensiefen? Unser Totengräber? Miss Sophie gar? Oder vielleicht sogar ich selber? Jetzt verrennst du dich aber in etwas.«

»We will see«, erwiderte Lena lakonisch.

 

Julias Gesicht erschien zum dritten Mal im Türrahmen.

»Jetzt habe ich aber langsam keinen Bock mehr«, beschwerte sie sich. »Wenn ihr euch hier Storys erzählt, dann lasst mich gefälligst mitlachen.«

»Hier gibt's nix zu lachen.«

»Dann will ich heim.«

Ich warf Lena einen fragenden Blick zu. »Ich kann nicht mehr fahren. Du etwa?«

»Ich riskiere jedenfalls auch nicht meinen Führerschein.«

»Ihr seid so bescheuert!«

»Na, schön«, seufzte Sophia. »Ich fahre.«

»Du?« riefen Julia und ich beinahe gleichzeitig.

»Hört mal«, beschwerte sich die alte Dame. »Ich bin zwar alt und grau und manchmal vielleicht auch schon etwas tüddelig, aber Autofahren verlernt man nicht. Genauso wenig wie segeln und reiten.«

Ich griff in meine Hosentasche und warf Sophia den Schlüssel zu.

»Na, das wird was werden.«

 

~~~~~~~

 

Nachdem Stefanie das Marienhospital verlassen hatte, setzte sie sich in ihren Wagen und fuhr zurück ins Polizeipräsidium. Sie fragte zur Sicherheit an der Eingangspforte nach, ob die Oberstaatsanwältin inzwischen vielleicht doch noch eingetrudelt sei, doch der diensthabende Uniformierte an der Pforte schüttelte erwartungsgemäß den Kopf. Anschließend ging sie in ihr Büro. Sie musste in Ruhe nachdenken. Jetzt hätte sie dringend jemanden zum quatschen gebraucht, aber leider war Lydia nicht erreichbar. Jedenfalls meldete sich bei ihr nur die Sprachbox.

Stefanie hockte sich in ihren Schreibtischsessel und schloss die Augen. Noch immer rätselte sie herum, wer die Frau, die sich Margarete Sandhoff nannte, aus der Klinik abgeholt haben könnte. Alleine wäre ihr eine Flucht jedenfalls nicht gelungen. Und überhaupt, wo sollte sie ohne fremde Hilfe hin? In ein Hotel? Jeder Taxifahrer oder Hotelportier hätte sofort Alarm geschlagen. Und einen Leihwagen konnte sie sich in dem Zustand erst recht nicht mieten. Kurzerhand griff sie zu ihrem Dienststelefon und rief das Marienhospital an.

»Den Chefarzt der Chirurgie, bitte.«

Es dauerte einen kurzen Augenblick, ehe sich die Stationsschwester meldete.

»Tut mir leid, Dr. Kramer ist auf Visite. Kann ich Ihnen vielleicht weiterhelfen?«

Stefanie trug ihr Anliegen mit knappen Worten vor.

»Tja«, meinte die Stationsschwester. »Das Ganze ist uns, ehrlich gesagt, ohnehin ein Rätsel. Die Patientin kam in sedierten Zustand von der Intensiv zu uns auf Station. Sie wurde von einem Polizeibeamten begleitet, der auch gleich vor der Zimmertür Stellung bezog. Als die Spätschicht nach den beiden Patientinnen schaute, sah alles völlig normal aus. Zumindest die Frau, um die es offenbar geht, war bei Bewusstsein und allem Anschein nach bereits auf dem Wege der Besserung. Sie hing eigentlich nur noch an der Infusion. Die Übergabe an die Spätschicht habe ich übrigens selbst vorgenommen. Dr. Kramer kann Ihnen dazu sowieso nichts sagen, denn der war zu diesem Zeitpunkt bereits außer Haus.«

»Soweit, so klar. Aber verraten Sie mir eines: Wie konnte eine frisch Operierte so ohne weiteres die Station verlassen? War die überhaupt schon in der Lage aufzustehen?«

»Normalerweise nicht«, meinte die Stationsschwester. »Aber sie machte einen ziemlich durchtrainierten Eindruck. Vielleicht wollte sie sich ja um die Behandlungskosten drücken. Was glauben Sie, mit wie vielen Patienten wir es jährlich zu tun haben, die sich bei uns einliefern lassen aber keinen Krankenversicherungsschutz besitzen.«

 

Stefanie legte auf und rief die Schutzpolizei an. Sie ließ sich gleich zum Leiter der Behörde durchstellen.

»Wo steckt der Beamte, der gestern Nacht im Auftrag des BKA das Verkehrsunfallopfer bewachen sollte? Ich muss den Mann befragen. Er ist ein wichtiger Zeuge in der Angelegenheit.«

»Krankgeschrieben«, antwortete der Dienststellenchef lakonisch. »Wo wir sowieso notorisch unterbesetzt sind. Wollen Sie seine Handynummer?«

Leider brachte sie nicht viel aus dem Polizeibeamten heraus. Er meinte nur, irgendwann wäre eine Schwester aufgetaucht und hätte die Patientin zu einer Nachuntersuchung in den OP mitgenommen.

»Können Sie die Frau beschreiben?«

»Leider nein. Sie trug einen Mundschutz. Aber dunkelbraune Haare hat sie gehabt. Die sahen aus wie frisch vom Friseur.«

»Vermutlich eine Perücke«, murmelte Stefanie mehr zu sich selbst.

»Was haben Sie anschließend gemacht?» fuhr sie schließlich fort. »Sie sollten das Verkehrsunfallopfer doch eigentlich für keinen Moment aus den Augen lassen.«

»Ich habe mich strikt an die Weisungen gehalten. Deshalb bin ich auch mit hoch bis zum OP. Dort durfte ich allerdings nicht hinein, weil ich angeblich nicht steril sei. Weil ich mir vor der geschlossenen Tür aber nicht die Beine in den Bauch stehen wollte, bin ich wieder zurück auf Station und habe dort auf die Rückkehr der Beiden gewartet.«

»Und was ist dann passiert?«

»Ich bin wohl kurz eingenickt. Alles, woran ich mich noch erinnern kann, war, dass mir anscheinend jemand einen Wattebausch ins Gesicht gedrückt hat. Schon nach dem ersten oder zweiten Atemzug war ich quasi weg.«

»War es dieselbe Frau?«

»Keine Ahnung. Wie gesagt, ich war kurz eingenickt. Bleiben Sie mal über Nacht wach, wenn Sie eine Zwölf-Stunden-Schicht hinter sich haben. Bei uns herrscht seit Jahren Personalmangel. War's das?«

 

Kopfschüttelnd legte Stefanie den Hörer zurück. So sah also Zeugenschutz in der Praxis aus. Andererseits, sie und Netterscheid hatte man ja genauso mühelos überrumpelt. Unwillkürlich runzelte sie die Stirn. Etwa schon wieder dieser Motorradfahrer? Durchaus möglich, aber welche Rolle spielte dann die Krankenschwester mit dem Mundschutz?

Sie rief noch einmal bei der Spurensicherung an. Ein Mitarbeiter von Lydia meldete sich.

»Wissen Sie, wo Frau Sartorius steckt? Bei ihr meldet sich seit Stunden nur noch die Sprachbox.«

»Die suche ich auch schon seit einer Weile. Frau Sartorius meinte, sie habe einen Termin beim Arzt. Vielleicht hat Sie deshalb ihr Handy auf stumm geschaltet.«

Stefanie warf einen Blick auf ihre Uhr.

»So spät noch einen Arzttermin?«

Der Mann am anderen Ende der Leitung wusste darauf auch keinen Rat.

»Wo ich Sie gerade an der Strippe habe, was ist eigentlich mit dem Geländewagen?« wollte Stefanie wissen. »Irgendwelche verwertbaren Spuren?«

Die Stimme am anderen Ende der Leitung räusperte sich.

»Ach, das wissen Sie noch gar nicht? Nun, als wir beim Krankenhaus eintrafen, war der Wagen verschwunden. Aber wir konnten ihn inzwischen ausfindig machen. Er steht in einem Waldstück unweit der Autobahn. Komplett ausgebrannt. Der zuständige Revierförster hat die Polizei informiert. Es gibt keine verwertbaren Spuren. Nur soviel: Der Wagen ist vor ein paar Tagen in der Nähe von Köln als gestohlen gemeldet worden.«

»Und von dem Motorrad fehlt bestimmt auch jede Spur, oder?«

»Sie sagen es. Nun ja, ein Motorrad kann man ganz leicht verschwinden lassen. Kleiner Schubs in die Mosel, und das Problem ist gelöst.«

»Sie machen mir Spaß«, seufzte Stefanie.

»Wie geht's eigentlich unserem Cowboy?« wollte Lydias Mitarbeiter wissen.

»Er wird's überleben. Sah zwischendurch aber nicht gut aus, wie ich mir habe sagen lassen. Ach, und noch was: Womit hat man eigentlich den Polizeibeamten betäubt?«

Lydias Mitarbeiter grunzte verächtlich.

»Steinzeitmethode. Mit Äther.«

 

 

 

 

Kapitel 22

 

 

Nachdem wir den kleinen Frechdachs daheim abgeliefert hatten, machten wir uns auf den Weg zum Weingut. Da sich niemand mehr von der Truppe beim Ballensiefen aufhielt, konnte ich mir bereits denken, wohin sich die üblichen Verdächtigen verzogen hatten. Die Uhr zeigte späten Nachmittag, Leichen pflasterten inzwischen auch nirgendwo mehr unseren Weg, also würde Lanzerath bestimmt meinen Onkel in der Hoffnung auf ein gemütliches Abendessen mit allem Pipapo zu uns nach oben begleitet haben.

Mir war nicht ganz wohl in meiner Haut. Erstens, weil ich ständig einen Herzkaschperl bekam, wenn Miss Sophie, ohne nach rechts und links zu schauen, über jede Straßenkreuzung fegte. Zum anderen musste ich bei mir daheim dringend mal nach dem Rechten sehen. Caddy war es durchaus zuzutrauen, mir in seinem neu erwachten Verkaufseifer noch den kompletten Fuhrpark quasi unter dem Hintern weg zu verkaufen. Hauptsache, der Preis stimmte, und Lutz Backhaus konnte anschließend zusehen, wie er die Weinberge bestellt bekam.

Doch meine Sorge war allem Anschein nach unberechtigt, denn zumindest in der Halle schien noch alles beim alten. Caddy hockte derweil zusammen mit Lanzerath am Küchentisch. Mein Onkel stand wie üblich am Herd und brutzelte irgendwas Appetitliches zusammen. Jedenfalls roch es verführerisch nach Salbei, Thymian und Knoblauch. Ich tippte insgeheim mal wieder auf Fisch als dankbare Abwechslung zu den ewigen Cholesterin-Bomben beim Ballensiefen. Unwillkürlich schaute ich genauer hin.

 

»Ich dachte, ein Moslem trinkt keinen Alkohol«, beschwerte ich mich.

»Eh, 'sch muss doch wissen, was 'sch so verkaufe. Jou, Mann, die Typen von der Wandergruppe waren vielleisch sowas von nervig, eh'sch schwör! Wenn der Karl nisch gewesen wäre...«

Caddys Stimme hörte sich bereits ziemlich holperig an. Gemessen an der Flaschenbatterie, vor der er und Lanzerath hockten, hatte Caddy bestimmt weitaus mehr getrunken, als der Prophet ihm selbst mit beiden zugekniffenen Augen jemals zugestanden hätte.

»Auch schon da?« begrüßte uns der Totengräber.

Ich schob Lenas Rollstuhl in die Nähe von Robespierre, der sofort anfing, ihre Finger abzuschlecken. Für mich hatte er nicht mal einen ungnädigen Blick übrig. Meine Jeans und ich dankten es ihm jedenfalls. Sophia schlenderte hinüber zu Karl und tat so, als wolle sie einen Blick in seine Kochtöpfe werfen.

»Habt ihr das Neueste aus der Gerüchteküche gehört?« plusterte sich Lanzerath auf. »Deine ehemalige Chefin soll angeblich mit der kleinen Portokasse durchgebrannt sein. Jedenfalls steht sie ganz oben auf der Fahndungsliste.«

Lena und ich starrten ihn verblüfft an.

»Wie kommst du denn darauf?«

Seufzend ließ ich mich in einen der Sessel fallen. Lanzerath genoss es mal wieder, punktgenau im Epizentrum des allgemeinen Interesses zu stehen.

»Ich rief heute Nachmittag im Polizeipräsidium an, weil ich wissen wollte, wer denn die Kosten für den Transport der Leiche vom Schiffsanleger zur Rechtsmedizin übernimmt, da bekam ich sowas mit. Die Breuer soll in eine Korruptionsaffäre verwickelt sein.«

Anzüglich runzelte er die Stirn.

»Hör mal! Du bist doch selbst so dicke mit der Oberstaatsanwältin. Muss ich mir etwa Sorgen machen?«

»Quatsch keine Opern«, winkte ich ab. Die Breuer? Korrupt? Unvorstellbar!

»Für die lege ich meine Hand ins Feuer.«

»Dann verbrenn dich mal nicht«, erwiderte Lanzerath. »Die kleine Michels muss da auf ein ganz dickes Ei gestoßen sein. Mann, Mann, Mann! Seit einer Woche ist bei uns vielleicht was los.«

»Was du nicht sagst«, erwiderte ich und warf gleichzeitig meinem Onkel einen nachdenklichen Blick zu.

»Mich brauchst du nicht anzuschauen«, meinte Karl. »Ich habe mit alldem nichts zu tun. Ich kenne die Dame überhaupt nicht.«

 

Das Abendessen war wieder einmal erste Sahne. In weiser Voraussicht achtete ich darauf, dass dem Tunesier weiterhin tüchtig nach geschenkt wurde. Jedenfalls wurde er kurz vor dem Auftragen des Nachtischs so einsilbig, dass wir schon befürchten mussten, er würde uns noch in der Küche vom Stuhl kippen. Mit Lanzeraths Hilfe schleppte ich ihn kurz darauf in mein Schlafzimmer, wo er wenige Augenblicke später damit begann, das Bett in handliche Einzelteile zu zersägen. Das war heute tatsächlich ein bisschen viel für einen ansonsten eher abstinenten Muselmanen. Der Totengräber hingegen wirkte immer noch taufrisch. Den hätte ich schon unsanft hinaus komplimentieren müssen, um ihn endlich loszuwerden, aber soweit wollte ich dann doch nicht gehen. Man wusste ja nie, wofür man in solch unsicheren Zeiten vielleicht mal einen zuverlässigen Totengräber brauchte. Meine Rücksichtnahme sollte sich schon bald als richtig erweisen.

»Wie lief eigentlich das Geschäft?« fragte ich den Schwarzbefrackten, als wir wieder gemeinsam am Küchentisch hockten und er sich dabei auch gleich über seine Birne Helene hermachte.

»Caddy ist ein Verkaufsgenie«, murmelte Lanzerath mit vollem Mund. »Den würde ich für kein Geld der Welt gehen lassen. Der Wandergruppe hat er soviel Flaschen Wein verkauft, dass die vor lauter vollen Rucksäcken kaum noch laufen konnten. Leider bestanden die Kerle aber auch auf eine zünftige Weinprobe.«

Er deutete auf die Treppe, die nach oben ins Schlafgemach führte.

»Leider mit den bekannten Folgen. Ich glaube, daheim trinkt der tatsächlich nur Sprudelwasser. Und ein Organisationstalent ist der Kerl, das glaubt man nicht. Wie der den Schruntz und den Backhaus heute durch die Gegend gescheucht hat, da fällt dir nichts mehr zu ein. Jedenfalls sind die bereits dabei, den Blanc de Noir in Flaschen abzufüllen. Caddy meinte, es lägen unzählige Vorbestellungen auf seinem Tisch, und sie sollten endlich mal in die Puschen kommen. Fürs Herumsitzen und Palavern würden sie schließlich nicht bezahlt.«

Insgeheim rechnete meine armselige Krämerseele schon mal aus, wieviel die vorgezogene Aktion demnächst in meine ansonsten eher flaue Betriebskasse spülen würde.

 

»Danke für das leckere Essen«, meinte Lena nach einer Weile, »aber eigentlich sind wir wegen etwas ganz anderem hier.«

Karl blickte erstaunt hoch.

»Worum geht's?«

»Es geht um dich«, eröffnete ich den Schlagabtausch. »Seit du in Grafenstein aufgetaucht bist, geht es bei uns drunter und drüber. Erst die Tote im Yachthafen, dann der Mord an Gregor Weisz und nicht zu vergessen der Verkehrsunfall, bei dem Marianne ums Leben kam und Margarete Sandhoffs Tochter schwer verletzt wurde.«

Lanzerath runzelte erwartungsgemäß die Stirn.

»Margarete Sandhoffs Tochter?«

Ich nickte.

»Mariannes Internetbekanntschaft ist in Wirklichkeit die Tochter der echten Margarete Sandhoff, also der Frau, die seinerzeit in Hoheneck inhaftiert war. Margarete Sandhoff verschwand nach ihrer Haftentlassung auf eine Tiroler Alm, die ihrer Cousine aus Bayern gehört. Das wissen wir aus erster Quelle. Mariannes leibliche Mutter war übrigens zur gleichen Zeit in Hoheneck inhaftiert. Margarete Sandhoff oder sonst jemand aus der Familie muss sie nach der Wende nach Österreich gebracht haben. Sie ist das 'Nannerl'. Anschließend lebten die beiden Frauen weitgehend isoliert und deshalb unbehelligt in den Tiroler Bergen. Ein perfektes Versteck, wenn ihr mich fragt. Miss Sophie, Lena und ich konten uns selbst ein Bild davon machen.«

»Moment, ich verstehe jetzt überhaupt nichts mehr. Ich dachte, die Frau, von der Margarete sprach...«

»... wäre lediglich eine Bekannte von ihr gewesen?«, unterbrach ich ihn. »Mitnichten und Neffen! Margarete Sandhoff und ihr Mann Heinrich hatten eine Tochter. Alter und nähere Umstände weisen eindeutig darauf hin, dass nur Mariannes Internetbekanntschaft infrage kommt.«

»Schön und gut, aber was hat das alles mit den Mordfällen zu tun?«

Sophia warf mir einen verstohlenen Blick zu. Dabei zwinkerte sie ganz kurz mit dem rechten Auge.

»Seid mir nicht böse, aber ich glaube, langsam wird es Zeit für mich. Die vergangenen Tage waren doch ein wenig anstrengend. Im übrigen werden morgen meine neuen Möbel geliefert. Lothar, bist du so gut und bringst mich heim?«

»Jetzt schon?« seufzte Lanzerath.

Es war ihm deutlich anzusehen, dass er viel lieber noch bei uns am Tisch sitzengeblieben wäre. Mir hingegen leuchtete ein, warum es die alte Dame auf einmal so eilig hatte. Jetzt ging es ans Eingemachte, und da konnte es für meinen Onkel unter Umständen etwas peinlich werden. Der ohnehin neugierige Totengräber musste schließlich nicht alles mitbekommen.

Fünf Minuten später hockte ich mit Lena und Karl allein am Tisch. Ring frei zur nächsten Runde.

 

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Es war bereits dunkel, als Lydia Sartorius ihr Büro in der Trierer Kriminaltechnik verlassen wollte. Die nach wie vor ungeklärten Fälle ließen ihr einfach keine Ruhe. Erst recht, da sie gegen alle Vernunft auch noch einer dringend Tatverdächtigen bei sich daheim Unterschlupf gewährte. Langsam begann sie ihre Entscheidung zu bereuen. Was war bloß in sie gefahren, als sie Cornelia alias Margarete Sandhoff auf eigene Faust aus der Unfallchirurgie herausholte? Andererseits, der Hauptverdächtige befand sich dank einer völlig unverständlichen Anordnung seitens der Oberstaatsanwältin erneut auf freiem Fuß und da lag natürlich der Verdacht nahe, dass er sein Vorhaben vielleicht doch noch zu Ende führte. Da der Kerl nicht einmal vor einem Mordanschlag auf einen BKA-Beamten zurückschreckte, erschien ihr ein Verbleib dieser Cornelia in einem normalen Krankenhaus als viel zu riskant. Wenn sich ein bereits Uniformierter von einer Krankenschwester so ohne weiteres überrumpeln ließ, dann war Cornelia dort tatsächlich nicht sicher. Im übrigen hatte sie mit der Dame noch ein paar Takte zu reden. Sie wollte unbedingt herausbekommen, was die beiden ungleichen Frauen überhaupt zusammengeführt und was es mit ihrem unerwarteten Auftauchen in Grafenstein tatsächlich auf sich hatte. Dabei spielte in erster Linie Mariannes Vergangenheit eine wichtige Rolle und insbesondere die Frage, wo ihre leibliche Mutter abgeblieben sein mochte. Obwohl sie ein Liebespaar gewesen waren, hatte Marianne ihr gegenüber stets abgeblockt, sobald sie auf dieses Thema zu sprechen kam. Lydia verfluchte ihre eigene Laxheit, dass sie nicht viel früher und viel intensiver in diese Richtung Nachforschungen angestellt hatte. Nun war es zu spät; Marianne lag tot in der Rechtsmedizin. Obwohl sie verzweifelt versuchte, die näheren Umstände möglichst nüchtern zu betrachten, krampfte sich dennoch immer wieder tief in ihr etwas zusammen.

 

Dass ihre Sorge um Cornelia durchaus begründet schien, wurde ihr in dem Moment klar, als sie ihre Dienststelle verlassen wollte. Sie hatte praktisch schon die Klinke in der Hand, als ihr auffiel, dass nicht weit von ihrem Audi entfernt ein Mann in Motorradkluft und trotz der Dunkelheit mit verspiegeltem Integralhelm auf einer schweren Geländemaschine hockte. Instinktiv wich sie in die Eingangshalle zurück und lief, so rasch es ihr der schwere Notfallkoffer aus dem Sanitätsraum erlaubte, zurück in ihr Büro. Dort angekommen, verschloss sie als erstes die Tür und lugte aus dem Fenster. Kurzerhand griff sie in eine Schublade und zog ein Nachtsichtgerät hervor. Das hatte sie sich vor Jahren angeschafft, als sie fortwährend von einer Stalkerin belästigt worden war. Die jedoch war ziemlich kräftig, der Kerl auf dem Motorrad hingegen eher von hagerer Statur. Ihre Verfolgerin von damals konnte es also nicht sein.

Lydia stellte das Okular scharf und beobachtete den ungebetenen Besucher. Bingo! Nach Netterscheids Beschreibung handelte es sich um denselben Motorradtyp, wie er auch in Spa benutzt wurde. Somit lag der Verdacht nahe, dass es sich bei dem Fahrer um ein und dieselbe Person handelte.

Sie überlegte. Normalerweise würde sie jetzt im Polizeipräsidium anrufen und den Typ verhaften lassen. Aber das würde zwangsläufig bohrende Fragen nach sich ziehen. Es war nicht auszuschließen, dass der Kerl auf dem Motorrad letztlich doch noch auspackte, sobald er erfuhr, dass ihm die Oberstaatsanwältin nicht mehr aus der Patsche helfen konnte. Wie sie inzwischen erfahren hatte, befand sich die Oberstaatsanwältin aller Wahrscheinlichkeit nach bereits auf dem Weg ins Ausland. Es war ihr angeblich gelungen, sich mit dem Auto bis Brüssel durchzuschlagen, die Flughafen-Gendarmerie an der Nase herumzuführen und vor Ort einen Flieger zu besteigen. Schon alleine deshalb würde es sich Stefanie Michels bestimmt nicht nehmen lassen, entgegen allen Anweisungen von ganz oben den Kerl trotzdem mal gehörig in die Mangel zu nehmen. Was dabei herauskam, war jedenfalls ungewiss.

 

Lydia schlich ein paar Büroräume weiter und warf einen Blick aus dem Fenster. Von diesem Zimmer aus und mit Hilfe des Nachtsichtgeräts konnte sie das Nummernschild des Motorrads ausspähen. Fünf Minuten später erlangte sie Gewissheit: Der Fahndungscomputer spuckte aus, dass das Motorrad vor ein paar Tagen ganz in der Nähe als gestohlen gemeldet worden war. Die Ceska mit dem Schalldämpfer schien dagegen nach wie vor wie vom Erdboden verschluckt. Unwillkürlich biss sie sich auf die Lippen. Sollte es hart auf hart kommen, musste sie den Kerl halt irgendwie selbst ausschalten. Bloß wie, das war ihr ein Rätsel.

Ihr kam eine Idee. In der Tiefgarage stand wie üblich der offizielle Dienstwagen der Spurensicherung, mit dem ihr Team normalerweise zu den Tatorten fuhr. Es handelte sich um einen neutralen Peugeot Kombi. Sie vermied es diesen Wagen zu benutzen. Zu langsam, zu unbequem, kein Auto für die Chefin der KTU. So frotzelten jedenfalls ihre Mitarbeiter hinter vorgehaltener Hand. In Wirklichkeit hatte sie Schwierigkeiten mit der bisweilen etwas hakeligen Schaltung. Aber sowas musste in der Firma ja niemand erfahren.

Wenige Minuten später lud sie den Notfallkoffer in den Kombi, startete den brummigen Dieselmotor und legte den ersten Gang ein. Wie zu erwarten knirschte es ganz schön im Getriebe. Als sich endlich das Garagentor öffnete, hielt Lydia unwillkürlich den Atem an. Nervös drehte sie sich nach beiden Seiten um und gab Gas. Wenige Augenblicke später konnte sie dem Franzosen endlich die Sporen geben. Hätte sie allerdings etwas genauer in den Rückspiegel geschaut, wäre ihr aufgefallen, dass ihr in weitem Abstand eine schmale Silhouette folgte.

 

»Wie geht es Ihnen?«

Die Frage beantwortete sich angesichts der von Blut durchtränkten Verbände eigentlich von selbst. Lydia überlegte kurz. Eigentlich gehörte Cornelia, wenn schon nicht in ein Krankenhaus, dann aber zumindest in die Hand eines versierten Facharztes. Informierte sie allerdings den Notdienst, würde der diensthabende Arzt mit Sicherheit bohrende Fragen stellen.

»Geht so«, erwiderte Cornelia. Sie sah blass aus. Kein Wunder bei soviel Blutverlust in den vergangenen Stunden.

»Ich will Sie nicht beunruhigen«, fuhr Lydia fort, während sie erneut die Verbände wechselte. »Aber es gibt da ein Problem. Der Typ, der Ihnen im Marienhospital einen Besuch abstatten wollte, treibt sich immer noch bei uns herum. Ich musste sogar den Wagen wechseln, um ihn abzuschütteln. Mit Sicherheit will der herausbekommen, wo ich sie versteckt habe. Was uns beiden Hübschen dann blüht, können Sie sich ja wohl vorstellen.«

»Was hat denn ein Motorradfahrer...?« murmelte ihre Besucherin.

»Das ist eine lange Geschichte. Nur soviel: Der Typ arbeitet für die andere Seite und scheint bereits ein paar Leute auf dem Gewissen zu haben. Nach allem, was in den vergangenen vierundzwanzig Stunden passiert ist, können wir getrost davon ausgehen, dass der Kerl vor nichts zurückschreckt. Der hat allem Anschein nach einen ganz bestimmten Auftrag, und den will er unter allen Umständen zu Ende bringen. Im übrigen soll er, wie ich hörte, selbst verletzt sein. Das macht so jemanden erst recht unberechenbar.«

Aus Cornelias Augen war mit einem Schlag jegliche Zuversicht verschwunden.

»Was wollen wir jetzt tun?« fragte sie mit unsicherer Stimme.

»Erst einmal sind wir hier sicher«, versuchte Lydia sie zu beruhigen. Gleichzeitig drückte sie ihre Besucherin sanft aber bestimmt in das Kissen zurück.

»Das Appartementhaus ist zwar keine Festung, aber meine Wohnungstür besitzt mehrere Sperrriegel. Im übrigen ist sie stahl-armiert. Ein Spezialmodell, dass ich mir beim Einzug habe einbauen lassen. Seien Sie also unbesorgt.«

»Aber ihre Verletzung bereitet mir Sorge«, fügte sie nach einer Weile hinzu. »Das sollte sich unbedingt mal ein Arzt anschauen.«

Sie klappte den Notfallkoffer zu und erhob sich.

»Was haben Sie vor?«

»Ich rufe einen Bekannten aus der Rechtsmedizin an. Der ist mir noch was schuldig. Vielleicht kann der ja was machen.«

»Ein Pathologe?«

Lydia schmunzelte.

»Rechtsmediziner. Im übrigen besitzt der Mann eine chirurgische Facharztausbildung. Also keine Panik. Körper bleibt Körper. Egal ob siebenunddreißig Grad warm oder frisch aus dem Kühlfach. «

»Sie werden schon wissen, was Sie da tun«, stöhnte die Frau ergeben.

 

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Lena nahm meinen Onkel ins Kreuzverhör. Zunächst bestand sie darauf zu erfahren, was er getrieben hatte, nachdem Gregor in Arles aufgetaucht war und ließ sich in allen Einzelheiten schildern, wo er die vergangenen Tage und Wochen verbracht hatte. Zwischenzeitlich beschlich mich das Gefühl, sie wäre besser Staatsanwältin geworden. Junge, konnte die vielleicht penetrant und hartnäckig sein. Aber sowas wurde man wohl zwangsläufig als Strafverteidigerin.

Karl behauptete, nach dem unvorhergesehenen Aufeinandertreffen mit Weisz sei in ihm alles wieder hochgekocht. Es hatte ihm angeblich keine Ruhe gelassen, dass dieser elende Denunziant inzwischen ein völlig normales bürgerliches Leben führen konnte. Zusammen mit dem Aktenmaterial, das er sich seinerzeit bei der Stasi-Unterlagenbehörde besorgt hatte, versuchte er erneut herauszufinden, was mit seiner Freundin passiert sein konnte. Anders als damals erlaubte es ihm sein sich verschlechternder Gesundheitszustand allerdings nicht, quer durch die halbe Republik zu reisen, um weitere Zeitzeugen aufzuspüren. Karl begab sich stattdessen nach Bonn, wo er jahrelang gelebt und gearbeitet hatte, nahm sich dort ein kleines Appartement und besorgte sich ein Notebook mit mobilem Internetanschluss. Durch Zufall stieß er dabei auf den ‚Stacheldraht’, eine Publikation der Union der Opferverbände kommunistischer Gewaltherrschaft und dadurch auch auf das Forum ehemaliger Hoheneck-Inhaftierter. In der Hoffnung, eventuell auf diesem Umweg näheres über die damaligen Gefängnisinsassen und das ehemalige Personal herauszubekommen, schlüpfte er in die Rolle einer seinerzeit Inhaftierten, von der er sicher sein konnte, dass die Frau nicht mehr lebte. Allerdings stellte er sich dabei nicht besonders geschickt an, sodass er schon bald in den Verdacht geriet, ein Spitzel der Gegenseite zu sein. Nach der Fernsehreportage über die Verhältnisse in dieser ehemaligen Frauenhaftanstalt tummelten sich wohl für einige Zeit merkwürdige Gestalten im Netz. Er hatte schon aufgeben wollen, als plötzlich jemand mit Namen Margarete Sandhoff im Forum auftauchte und genau wie er gezielt Fragen nach dem Verbleib des ehemaligen Personals zu stellen begann. Aus den Stasi-Unterlagen ergab sich, dass eine gewisse Margarete Sandhoff seinerzeit dazu gezwungen worden war, seine damalige Freundin wegen ihres Kontakts zu westdeutschen Regierungsbeamten ganz gezielt auszuhorchen.

»Und so bist du mit ihrer Tochter persönlich in Kontakt gekommen?« fragte ich.

Karl nickte und goss sich Mineralwasser in ein Glas.

»Richtig. Zu Beginn konnte ich natürlich nicht ahnen, dass Margarete, wie sie sich im Forum nannte, in Wirklichkeit gar keine ehemalige Gefängnisinsassin war, sondern sich genau wie ich lediglich eine fremde Vita zugelegt hatte. Dadurch war sie aber auch wesentlich weniger misstrauisch als andere Mitglieder im Forum. Jedenfalls brachte ich sie soweit, sich mit mir in Bonn zu treffen. Ihr könnt euch ja vorstellen, wie wir gestaunt haben, als wir in einem Café auf dem Münsterplatz aufeinandertrafen. Zwei Frauen, die eigentlich um die Sechzig sein sollten, entpuppten sich im Nachhinein als Mann Mitte Siebzig und attraktive Vierzigjährige.«

»Wie hat sie reagiert?« wollte Lena wissen.

Karl lachte, und sein Lachen klang zum ersten Mal ehrlich amüsiert.

»Im ersten Moment hat sie mich angestarrt, als wäre ich ein stadtbekannter Exhibitionist. Es ist eigentlich Robespierre zu verdanken, dass ich dann doch noch mit ihr ins Gespräch kam. Sie ließ sich davon überzeugen, dass ehemalige Stasi-Agenten in aller Regel wohl kaum mit anhänglichen irischen Wolfshunden zu konspirativen Treffen erschienen.«

Ich runzelte die Stirn und richtete unwillkürlich meinen Blick nach unten, wo Robespierre lag und mich misstrauisch anblinzelte.

»Anhänglich? Na ja...«

»Jedenfalls konnte ich sie dazu überreden, mir erst einmal zuzuhören. Als ich ihr Auszüge aus meinen Stasi-Unterlagen zeigte, war sie schließlich soweit überzeugt, dass sie mir auch ihre Geschichte erzählte.«

 

Wie uns mein Onkel weiter berichtete, war die junge Frau zunächst in einem behüteten ostdeutschen Elternhaus aufgewachsen. Kurz bevor sie auf die Oberschule wechselte, begannen die Probleme. Es passte ihrer Mutter offenbar nicht in den Kram, dass sie sich von den Jungen Pionieren mehr und mehr ideologisch vereinnahmen ließ und ihr Vater sich gleichzeitig in der Partei engagierte. Irgendwann keimte in Margarete Sandhoffs Leben der Entschluss, der Deutschen Demokratischen Republik den Rücken zu kehren und zu ihrer Cousine nach Bayern zu ziehen. Sie stellte mehrere Ausreiseanträge, auch auf die Gefahr hin, dass ihre Familie dadurch Repressalien ausgesetzt sein könnte, aber die Anträge wurden sowieso samt und sonders abgelehnt. Vielleicht auch deshalb, weil gerade ihre Tochter zu diesem Zeitpunkt wenig Interesse an einer Übersiedelung in die Bundesrepublik an den Tag legte. Irgendwann setzte die Partei anscheinend Heinrich Sandhoff die Pistole auf die Brust. Man bot ihm einen Abteilungsleiterposten in seiner Firma und den Aufstieg in ein höheres Parteikader an, wenn er sich im Gegenzug von seiner Frau trennte, was er schließlich tat.

»Und um der Scheidung Nachdruck zu verleihen, bezichtigte er seine Frau zu allem Überfluss auch noch der geplanten Kindesentführung, denn er behauptete, nach dem letzten abgelehnten Ausreiseantrag habe sie angeblich eine Republikflucht nicht mehr ausgeschlossen. Sowas war natürlich Wasser auf die Mühlen der Staatssicherheit, die Anfang der Achtziger ohnehin überall Verräter und subversive Elemente vermutete.

 

»Wie heißt das Mädel eigentlich wirklich«, wollte ich wissen.

Karl zuckte die Schultern

»Mir hat sie gesagt, sie hieße Margret. In Anlehnung an den Vornamen ihrer Mutter. Aber ich bin mir nicht sicher, ob das stimmt.

»Okay, bleiben wir bei Margret«, nickte Lena. »Ob ihre Mutter fliehen wollte, oder nicht, was ging sie das eigentlich an? Sie hätte doch in jedem Fall bei ihrem Vater bleiben können.«

Karl verzog das Gesicht.

»Margret und ihr Vater hatten von Anfang an kein besonders gutes Verhältnis zueinander. Das führte letztlich auch dazu, dass sie nach der Wende jeglichen Kontakt zu ihm abbrach. Leider ließ sie sich seinerzeit einreden, ihre Mutter hätte auch ohne ihre Familie abhauen wollen und dabei in Kauf genommen, die Tochter bei dem ungeliebten Vater zurückzulassen. Sie glaubte schließlich sogar ihrem Vater, dass angeblich Margarete die Scheidung eingereicht habe.

Die Vorstellung, ihre Mutter hätte sie aus purem Egoismus einfach im Stich lassen wollen, war der eigentliche Grund dafür, dass sie auch nach dem Mauerfall nichts mehr mit ihr zu tun haben mochte. Ein perfides Spiel, dass die Stasi seinerzeit gerade mit den Kindern von Inhaftierten trieb.«

»Was hat Margret nach der Wende gemacht?« wollte ich wissen. »Wo ist die eigentlich hin? Stimmt das mit der Modeboutique in der Nähe von München?«

Karl zuckte die Schultern.

»Keine Ahnung. Angeblich studierte sie nach der Wende bei uns im Westen Germanistik und Theaterwissenschaft und heiratete anschließend einen schwedischen Kaufmann. In Göteborg führte sie solange eine gute Ehe, bis sie ihren Mann irgendwann mit einer Jüngeren im Bett erwischte. Das Übliche halt. Was folgte, war ein regelrechter Rosenkrieg, den sie jedoch weitgehend für sich entschied. Soweit ich weiß, lebt sie von dem Vermögen, das ihr Mann bei der Scheidung herausrücken musste. Und um dem Ganzen die Krone aufzusetzen, entschloss sie sich, den Namen ihres Mannes beizubehalten. Darum muss es wohl angeblich den größten Zank gegeben haben. Wo sie inzwischen tatsächlich lebt und was sie im Alltag treibt, das ist beim besten Willen nicht aus ihr herauszubekommen. Ihre Geheimniskrämerei ist jedenfalls von einigem Erfolg gekrönt, denn sonst würden Kripo und BKA nicht so völlig im Dunkeln tappen.«

»Soweit, so klar«, nickte Lena. »Aber wie kam es eigentlich dazu, dass Margret urplötzlich dann doch das Bedürfnis überkam, Kontakt zu ihrer Mutter aufzunehmen?«

 

Den weiteren Schilderungen meines Onkels zufolge erhielt Margret nach dem Tod ihres Vaters über ihren Anwalt Post von einem Notar aus den neuen Bundesländern. Im Zuge der Testamentseröffnung übergab man ihr nicht nur den Schlüssel zu einem Bankschließfach, sondern auch einen Brief ihres Vaters, in dem er sich gegenüber seiner Tochter erklärte. Heinrich Sandhoff schien daran gelegen, wenigstens nach seinem Tod reinen Tisch zu machen. In dem Brief gestand er ein, seine geschiedene Frau wegen der geplanten Auswanderung getäuscht und sie anschließend an die Stasi verraten zu haben. Gleichzeitig machte er Andeutungen, wo sich ihre Mutter eventuell aufhalten könnte und bat gleichzeitig, auch seine Ex-Frau vom Inhalt des Briefes zu unterrichten. Heinrich Sandhoff schilderte die damaligen Bespitzelungen, Intrigen und Verleumdungen offenbar sehr detailliert.«

»Ich habe den Brief selbst lesen dürfen. Kein Wunder, dass Margret seinerzeit von ihrer Mutter so maßlos enttäuscht war. Heinrich hatte seine Frau zum Schluss als selbstsüchtige konterrevolutionäre Anarchistin dagestellt, die vermutlich sogar die eigene Oma verkauft hätte, nur um in den Westen abhauen zu können. Margret war damals gerade mal zehn oder elf Jahre alt. In dem Alter glaubt man alles, was einem die Obristen der Jungen Pioniere und der eigene Vater auftischen.«

»Was befand sich in dem Bankschließfach?« wollte ich wissen.

Karl zuckte die Schultern.

»Keine Ahnung. Vielleicht eine Neunmillimeter Parabellum.«

 

In diesem Augenblick meldete sich mein Handy. Der Leichenfledderer.

»Was gibt's? Du störst.«

Lanzerath ließ sich von meiner Schroffheit überhaupt nicht beeindrucken. Im Gegenteil. Er plapperte wie ein Geistesgestörter drauflos. Ich verstand nicht mal ansatzweise die Hälfte.

»Langsam, langsam! Nochmal von vorne. Was sagst du da?«

Er wiederholte, was er gesagt hatte. Als ich endlich ein bisschen klarer sah, beendete ich das Gespräch und erhob mich.

»Was ist passiert?« fragten Lena und Karl gleichzeitig.

Ich zuckte die Schultern.

»Ehrlich gesagt, ich bin mir da nicht ganz sicher. Der redet manchmal aber auch ein wirres Zeug.«

Ich machte Anstalten, das Haus zu verlassen.

»Wo willst du hin?«

»Ich muss dringend nach Trier, und ihr bleibt gefälligst hier auf dem Weingut. Verschließt die Eingangstür und lasst niemanden außer mich herein. Stellt keine Fragen. Tut's einfach.«

Als ich draußen im Regen verschwand, blieben zwei ratlose Gesichter zurück. Kurz darauf kam auf dem Parkplatz ein silbergrauer Kombi zum Stehen. Die Beifahrertür flog auf, und ich stieg ein.

 

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Lydia schaute sich nach beiden Seiten um und zog den Hünen, der vor ihrer Tür aufgetaucht war, mit energischem Handgriff in ihre Wohnung.

»Endlich. Das hat aber auch gedauert.«

Dr. Frank Stein, genannt Frankenstein, seines Zeichens Adlatus von Professor Steinhagen und Rechtsmediziner in der Trierer Rechtsmedizin, schaute sie verwundert an.

»Ich musste schließlich erst noch in der Apotheke ein paar Medikamente besorgen. Und steriles OP-Besteck liegt bei uns nun auch nicht gerade in Massen herum. Meine Patienten können sich nämlich in aller Regel keinen Wundstarrkrampf mehr holen.«

Lydia nickte.

»Sorry. Ich bin ein bisschen nervös. Aber mal was anderes: Ist ihnen unterwegs etwas aufgefallen?«

Steins Blick verwandelte sich zu einem einzigen Fragezeichen.

»Was soll mir denn aufgefallen sein?«

»Ist Ihnen jemand gefolgt?«

»Gefolgt?«

»Jemand auf einem Motorrad.«

Stein schüttelte den Kopf.

»Nicht, dass ich wüsste. Das heißt, ich habe jedenfalls niemanden bemerkt. Was soll die Fragerei?«

Lydia winkte ab.

»Das wollen Sie eigentlich gar nicht wissen. Glauben Sie mir, es ist besser so.«

Stein legte seinen Mantel ab. Er war feucht. Draußen schien es zu regnen.

»Jetzt machen Sie mich aber neugierig. Wo ist denn die Patientin? Und wieso rufen Sie nicht den Notdienst, wenn die Dame schon in kein Krankenhaus möchte?«

Lydia legte ganz kurz ihren Finger auf die Lippen.

»Sie kommt gerade aus der Klinik. Dort jedoch....«

Lydia unterbrach sich und deutete Dr. Stein gleichzeitig an, dass er mit keinen weiteren Erklärungen mehr rechnen durfte. Kopfschüttelnd folgte er ihr ins Gästezimmer.

 

»Das sieht wirklich nicht gut aus«, meinte er nach einer Weile.

Cornelia starrte gegen die Zimmerdecke und presste die Lippen aufeinander. Ganz eindeutig hatte sie Schmerzen.

»Irgendwo im Bauchraum ist eine Wundnaht gerissen. Deshalb hört auch die Blutung nicht auf. Im schlimmsten Fall ist zu befürchten, dass die Patientin innerlich verblutet. Zudem besteht das Risiko einer Sepsis.«

»Was haben Sie vor?« stöhnte Cornelia.

»Wenn Sie einverstanden sind, schneide ich Sie nochmal auf. Keine Sorge, nicht tief. Ich werde bloß die Wunde neu vernähen und versuchen, das Gewebe irgendwie zu stabilisieren. Keine Bange, ich habe sowas während meiner Facharztausbildung bestimmt zwanzigmal gemacht.«

Ich lächelte beruhigend.

»Und sämtliche meine Patienten haben überlebt.«

Margret riss ihre Augen auf. Ihr Blick wirkte gehetzt.

»Hier im Schlafzimmer?«

»Nein, in der Küche. Ich brauche möglichst viel Licht und einen breiten Tisch. Im Bett kann ich Sie unmöglich operieren.«

»Ich werde Dr. Stein assistieren«, versuchte Lydia ihren Gast zu beruhigen. »Keine Sorge, ich bin ausgebildete Notfallsanitäterin. Es kann also im Prinzip gar nichts passieren. Und sollte doch etwas schiefgehen, bringen wir Sie halt in eine Klinik. Unter Umständen nach Luxemburg. Uns wird schon was einfallen.«

 

Kurz darauf schleppten sie Cornelia in die Küche, halfen ihr beim Ausziehen und legten sie auf den Küchentisch. Für einen kurzen Moment regte sich etwas in Lydia. Trotz der Verletzungen durch den Verkehrsunfall sah Cornelia immer noch umwerfend aus. Makelloser Körper, kein Gramm Fett zuviel, absolut zellulitefreie Oberschenkel, Brüste, an denen kein Schönheitschirurg etwas zu mäkeln gehabt hätte. Ob Marianne und sie vielleicht doch... Lydia schluckte und bemühte sich, diesen Gedanken weit von sich zu schieben.

Während sich Stein im Bad die Hände desinfizierte, schilderte ihm Lydia mit knappen Worten, dass ihr Gast vor knapp zwei Tagen Opfer eines Verkehrsunfalls geworden sei und welche Verletzungen sie davongetragen hatte.

»In meinen Augen hätte sich die Dame niemals so kurz nach der OP selbst entlassen dürfen. Jetzt sehen Sie, was wir von ihrer Ungeduld haben. Wie kam die eigentlich auf eine solch hirnrissige Idee? Besitzt sie etwa keine Krankenversicherung?«

»So ähnlich«, wich Lydia seiner Frage aus. Frank war ein hochanständiger Bursche. Zuverlässig und loyal.

»Aber fragen Sie jetzt bitte nicht weiter. Ich möchte anschließend nicht vor Ihnen als Schwindlerin dastehen.«

Stein schlüpfte in einen OP-Kittel und reichte auch Lydia einen entsprechenden Umhang. Nachdem sich auch Lydia desinfiziert hatte, streiften sie sich Haarkappe, Mundschutz und Latexhandschuhe über und gingen zurück in die Küche.

 

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Zum wiederholten Mal wählte Stefanie die Mobilfunknummer von Lydia, und wie zu erwarten, meldete sich auch diesmal wieder nur die Sprachbox. Da stimmte doch was nicht. Die Chefin der Trierer KTU stand im Ruf, selbst nachts und sogar an Feiertagen erreichbar zu sein. Schließlich schlafe auch das Verbrechen nie, kommentierte sie in aller Regel ihre rigide Arbeitseinstellung. Lydia besaß zwar auch einen Festnetzanschluss. Allerdings mit einer Geheimnummer, da sie in der Vergangenheit mehrfach Opfer von Stalking geworden war. Kein Wunder bei ihrem Aussehen, schmunzelte Stefanie vor sich hin. Sie überlegte. Sollte sie sich den Wagen schnappen, und zu ihr nach Hause fahren? Doch wie hätte das ausgesehen? Aber etwas ließ ihr einfach keine Ruhe. Lydia und Marianne Schäfer waren ein Paar. Es wollte ihr einfach nicht in den Kopf, dass Lydia angeblich nichts Näheres über diese geheimnisvolle Besucherin wusste. Mit Sicherheit war sie eifersüchtig auf die fremde Frau gewesen, und neugierig war Lydia schon berufsbedingt. Vielleicht wusste sie ja doch mehr, als sie zuzugeben bereit war. Aber aus welchem Grund sollte sie ausgerechnet in einem Mordfall relevante Informationen unter den Tisch kehren?

Hinzu kam, dass die Frau, die sich als Margarete Sandhoff ausgab, zur selben Zeit aufgetaucht war, als die Mordserie in Grafenstein begann. Anschließend wurde sie in diesen grauenvollen Verkehrsunfalls verwickelt. Und was machte sie? Türmte Hals über Kopf aus der Klinik, in die sie kurz vorher eingeliefert worden war. Sowas geschah doch nicht grundlos. Vermutlich kannte sie den Kerl, der anscheinend selbst vor einem Mord am Krankenbett nicht zurückschreckte. Dass der Mann unberechenbar und kaltblütig war, hatte er schließlich zur Genüge unter Beweis gestellt.

Der Überfall auf Brenner fiel ihr ein. Auch oben auf dem Weingut war mit einer Schalldämpfer-Waffe geschossen worden. Brenner hatte behauptet, den Angreifer mit seiner Neunmillimeter getroffen zu haben. Der Verdächtige konnte es also nicht sein, denn mit einer Schussverletzung ließ sich nicht so einfach Motorrad fahren. Erst recht nicht bis nach Belgien und wieder zurück. Also musste es sich bei dem Kerl, der auf Netterscheid geschossen hatte, um einen anderen Täter handeln. Seltsam erschien ihr jedoch, dass zwei Leute ein und dieselbe Waffe benutzen. Aber vielleicht war die Gegenseite unter Zeitdruck. Pistolen mit Schalldämpfer lagen schließlich nicht an jeder Ecke herum. Mit einer gewöhnlichen Schusswaffe hätte der Kerl auf dem Motorrad jedenfalls nicht so unbemerkt agieren können.

 

Das Telefon auf ihrem Schreibtisch meldete sich. Sie hob ab. Es war Schäfer.

»Was gibt's?« fragte sie lustlos.

Schäfers Stimme klang aufgeregt.

»Halten Sie sich fest. Gerade eben ging bei uns eine Meldung der Brüsseler Flughafenpolizei ein. Ihre Chefin ist denen entwischt. Die Breuer soll angeblich in einen Flieger nach Serbien gestiegen sein.«

»Was sagen Sie da?« keuchte die junge Staatsanwältin. »Wie um alles in der Welt konnte denn das passieren?«

»Keine Ahnung. Jedenfalls muss die unsere Kollegen am Flughafen in Brüssel ganz schön an der Nase herumgeführt haben. Angeblich ging, kurz bevor die Dame eincheckte, beim dortigen Wachdienst eine Meldung ein, auf dem Kurzzeitparkplatz stünde ein Wagen mit einem verdächtig aussehenden Paket auf dem Beifahrersitz. Da ist natürlich die ganze Truppe nach draußen gestürmt, um erst mal das Gelände abzuriegeln. Der arme Japaner, der lediglich seinen Mietwagen abholen wollte, muss wohl ziemlich dumm aus der Wäsche geschaut haben, als er den Leuten vom dortigen SEK gegenüberstand.«

»Danke, Schäfer«, seufzte sie. »Machen Sie Schluss für heute. Ach ja, gibt es eigentlich was Neues von der Frau, die aus dem Marienhospital getürmt ist?«

»Nichts. Wie vom Erdboden verschluckt. Wenn Sie mich fragen, muss die Komplizen gehabt haben. So einfach kann doch niemand aus der Chirurgie türmen. Erst recht nicht mit solchen Verletzungen und unmittelbar nach einer Operation.«

Stefanie legte auf und warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. Bei den zahlreichen Überstunden könnte sie demnächst drei Wochen verreisen, ohne ihren eigentlichen Jahresurlaub antasten zu müssen. Sie schnappte sich ihren Mantel und verließ das Büro. Als sie die Straße hinunterfuhr, tauchte plötzlich der Dienstwagen der Spurensicherung vor ihr auf. Doch sie dachte sich nichts dabei. Vermutlich waren Lydias Leute zu irgendeinem Tatort gerufen worden. Sie war schließlich nicht die einzige Staatsanwältin vor Ort. Über sämtliche Vorkommnisse in ihrem Dienstbezirk konnte sie auch nicht ständig auf dem Laufenden sein. Hätte Stefanie jedoch genauer hingesehen, wäre ihr aufgefallen, dass dem Wagen der Spurensicherung ein Motorrad folgte.

 

»Das war's«, brummte Stein und zog sich die Latexhandschuhe von den Fingern. »Mehr kann ich im Augenblick für Ihre Bekannte nicht tun. Hoffen wir das beste, dass sich die Wunde jetzt endlich schließt.«

Lydia räumte die Stehlampe mit den starken Halogenstrahlern beiseite und warf einen Blick auf die Patientin. Margret atmete tief und fest. Stein hatte ihr eine volle Dröhnung Lidocain verpasst. Es würde bestimmt noch eine Weile dauern, ehe sie aus der Narkose erwachte.

Nachdem sie ihren OP-Kittel abgestreift und sich im Bad ein wenig frisch gemacht hatte, bat sie Stein auf einen Espresso in ihr Wohnzimmer.

»Danke«, meinte sie nur. »Sie haben bei mir was gut.«

Der Rechtsmediziner winkte ab.

»Da nicht für. Alleine wegen der Sache mit Steinhagens Nichte, an die er mich damals verkuppeln wollte, stehe ich bei Ihnen noch in der Schuld. Im übrigen war es ganz interessant herauszubekommen, ob man nach so langer Zeit auch noch mit lebenden Patienten zurechtkommt. Immer nur Leichen zu fleddern, ist für einen Mediziner auf Dauer auch langweilig.«

»Meinen Sie, meine Bekannte kommt die nächste Zeit auch ohne ärztliche Betreuung aus?«

Stein warf ihr einen nachdenklichen Blick zu.

»Solange sich die Wunde nicht eventuell entzündet, würde ich sagen ja. Aber irgendwann braucht die Frau sowieso eine fachärztliche Nachbehandlung. Schließlich müssen noch die Fäden gezogen werden.«

»Das sehen wir dann schon«, antwortete Lydia.

Stein erhob sich.

»Sofern Sie meine Hilfe nicht mehr benötigen, würde ich mich gerne verabschieden. Mein Freund wartet bestimmt schon sehnsüchtig auf mich.«

»Ach, herrje!« jammerte Lydia. »Jetzt habe ich Ihnen auch noch den Abend verdorben.«

Stein grinste breit.

»Ach, woher. Im Fernsehen läuft die soundsovielte Wiederholung einer Folge der Landärztin. Ich habe bis heute noch nicht begriffen, was Ludwig ausgerechnet an der Neubauer so toll findet.«

Einer Eingebung folgend, ging Lydia ans Fenster und warf einen Blick nach unten. Die Straße glänzte regennass. Die wenigen Straßenlaternen konnten das diffuse Halbdunkel der Umgebung kaum aufhellen. Kein Mensch war weit und breit zu sehen.

»Die Luft ist rein«, murmelte sie halblaut.

Stein schaute sie verblüfft an. Lydia winkte ab.

»Kommen Sie gut nach Hause.«

 

Nachdem der Rechtsmediziner verschwunden war, ging Lydia mit einer Wolldecke hinüber in die Küche, um nach ihrer Patientin zu sehen. Cornelia lag immer noch nackt auf dem Küchentisch. Trotz ihrer Verletzungen geradezu zum Anbeißen. Und dann erst diese entzückenden Sommersprossen. Lydia lief es erneut heiß und kalt den Rücken hinunter. Seufzend zog sie der Schlafenden die Decke bis zum Hals empor.

»Hoffentlich bekommst du auf dem harten Tisch keine Rückenschmerzen.«

Sie wollte gerade zurück ins Wohnzimmer gehen, um ihre Mails und die Sprachbox des Smartphones zu checken, als an der Haustür ein Summen ertönte.

»Was mag er denn vergessen haben?« murmelte sie gedankenverloren vor sich hin. Gleichzeitig drückte sie den Türöffner.

Sie wartete eine Weile ab und spähte dabei zur Sicherheit durch den Spion. Die Treppenhausbeleuchtung ging jedoch nicht an. Auch der Aufzug, den sie von ihrer Wohnung aus sehen konnte, setzte sich nicht in Bewegung. Instinktiv zuckte sie zurück und hieb auf den Lichtschalter im Flur. Welch ein kapitaler Fehler! Gerade in einer solchen Situation hätte sie sich doch erst mal über die Gegensprechanlage vergewissern müssen, ob es sich tatsächlich um Stein handelte. Es musste sich um den Kerl auf dem Motorrad handeln, der vermutlich nur auf dessen Verschwinden gewartet hatte. Nun hockte sie mit Cornelia hier oben in der Falle. Der Peugeot stand in der Tiefgarage. Sie konnte es wohl kaum riskieren, gemeinsam mit einer frisch Operierten im Schlepp das Appartement zu verlassen. Der Kerl konnte überall auf sie lauern. Mit zitternden Händen öffnete sie den Möbeltresor im Wohnzimmer und zog den Taser hervor.

 

Unendlich träge verstrich die Zeit, in der sie abwechselnd zwischen der Wohnungstür, dem Wohnzimmerfenster und der Küche hin und her pendelte. Irgendwann schlug Cornelia die Augen auf. Mühsam versuchte sie sich von der harten Unterlage aufzurichten und schaute dabei an sich herunter. Ihre Blicke kreuzten sich. Was Cornelia in den Augen ihrer Helferin entdeckte, gefiel ihr gar nicht.

»Was ist los?« krächzte sie und betastete gleichzeitig ihre Verbände. Von dem Lidocain war sie immer noch stark benommen. Wenigstens schienen aber ihre Schmerzen nachgelassen zu haben. »Wo steckt der Doc? Ist was schief gegangen?«

»Finger weg! Und keine Sorge, es hat alles geklappt. Wie ich bereits sagte, Stein ist ein Fachmann.«

In diesem Moment entdeckte Cornelia die Waffe in Lydias Hand. Unwillkürlich zuckte sie zurück.

»Was wollen Sie mit der Knarre?«

Lydia antwortete nicht, sondern legte den Taser auf die Anrichte.

»Ich fürchte, wir haben ein neues Problem.«

Trotz ihrer Benommenheit dämmerte es Margret.

»Der Typ, der hinter mir her ist?«

Lydia wischte sich mit beiden Händen durch das Gesicht. Sie fühlte sich müde und erschöpft. Die vergangenen Stunden waren anstrengend gewesen, und einem mehrfachen Mörder war sie bisher auch noch nie so nahe gekommen. Zum ersten Mal wurde ihr bewusst, dass sie längst nicht so taff war, wie sie andere immer wieder Glauben machen wollte. Sie hatte eine Scheißangst, wenn sie ehrlich zu sich war.

»Er muss mir von der KTU aus gefolgt sein. Ich dachte, ich hätte ihn abschütteln können. Das war wohl ein Irrtum.«

»Und das sagen Sie mir erst jetzt?« stöhnte Margret. »Sind Sie noch bei Trost? Sollen wir uns von dem Typ vielleicht auch abknallen lassen?«

»Was soll ich denn tun? Die Kripo informieren? Dann haben Sie anschließend aber eine Menge zu erklären. Ich kenne die Staatsanwältin. Stefanie kann in solchen Dingen sehr hartnäckig sein.«

 

Ihr Gegenüber schwieg und versuchte gleichzeitig sich vom Küchentisch zu erheben. Dabei rutschte die Decke zu Boden. Cornelia stellte fest, dass sie praktisch nichts anhatte.

»Genug gesehen?« knurrte sie und versuchte vergeblich, ihre Blöße zu bedecken.

»Jetzt ziehen Sie hier mal keine Schau ab«, schnaubte Lydia. »Wie hätten wir Sie denn sonst operieren sollen? Etwa in Jeans und Pullover? Das wäre selbst für einen Spezialisten wie Dr. Stein ein bisschen knifflig gewesen.«

»Die Hose hätten Sie mir ja wenigstens anlassen können«, fauchte Margret zurück.

Lydia ging ins Gästezimmer und brachte ihre Sachen.

»Hier, meine Liebe. Aber jetzt ist Schluss mit diesem bescheuerten Zickenkrieg. Sie können mich nicht leiden, ich hege auch nicht gerade große Sympathie für Sie, aber das ist im Augenblick alles nebensächlich. Wir müssen schauen, wie wir diesen Idioten loswerden. Überhaupt, wo wollen Sie anschließend eigentlich hin? Irgendwann werden auch Staatsanwaltschaft und Kripo Eins und Eins zusammenzählen und dabei zwangsläufig auf mich stoßen. Wenn schon der Typ auf dem Motorrad weiß, wo ich Sie versteckt halte, dann bekommen das auch meine Leute heraus. Blöd sind die bei uns nämlich nicht.«

Währenddessen bemühte sich Margret, wenigstens ihren Slip anzuziehen und sich den BH überzustreifen. Es klappte nicht wirklich. Jedesmal, wenn sie sich nach vorne beugte, zuckte sie vor Schmerz zusammen. Kein Wunder. Die Narben waren schließlich noch taufrisch.

»Wollen Sie mir nicht mal helfen?«

»Ich dachte, Sie hätten was gegen Lesben.«

»Nun machen Sie schon, oder soll ich hier vielleicht bis Pfingsten liegen bleiben?«

Trotzdem musste sich Lydia zusammenreißen, nicht ständig auf Cornelias nackten Körper zu starren. Das war aber auch ein Schmuckstück. Und die war angeblich hetero? Reine Verschwendung!

 

»Warten Sie, ich helfe Ihnen auch mit dem BH«, meinte sie, doch Margret hatte den Verschluss bereits nach vorne gezogen und hakte die beiden Hälften ein.

»Das würde dir so passen, was?«

»Seit wann duzen wir uns eigentlich?«

»Ach, leck mich doch...!«

Lydias Augen verzogen sich zu schmalen Schlitzen.

»Dir werde ich bestimmt nochmal aus der Patsche helfen.«

»Ich hab dich nicht darum gebeten.«

Cornelia drehte sich herum und ließ ihre Beine über die Tischkante baumeln. Widerwillig half ihr Lydia in die Hose.

»Wo sind Bluse und Pulli?«

Über Lydias Gesicht huschte ein schräges Grinsen.

»Pech, meine Liebe. Die Klamotten haben wir auftrennen müssen. Im übrigen waren doch sowieso hin. Hast du schon mal versucht, eingetrocknetes Blut aus einem Kaschmirpulli zu entfernen?«

»Bist du auf einmal auch noch Haushaltsexpertin?«

»Nein, Chefin der Kriminaltechnik, aber das läuft in etwa auf das Gleiche hinaus. Warte, ich besorge dir was aus meinem Kleiderschrank. Wir dürften in etwa die gleiche Größe haben.«

»Wow!« meinte Cornelia, als ihre Gastgeberin mit Bluse und Jackett zurück kam. »Bei euch scheint man ja ordentlich zu verdienen.«

»Das Zeug wäre nächste Woche sowieso in der Altkleidersammlung gelandet«, winkte Lydia ab. »Aber für jemand wie dich wird's wohl reichen.«

»Danke«, meinte Cornelia, nachdem sie vollständig angekleidet war.

»Wofür?«

»Für alles.«

Gleichzeitig reichte sie Lydia die Hand.

 

»Still!«, flüsterte die Chefin der Trierer Spurensicherung.

»Was ist los?« kam es genauso gedämpft zurück.

Lydia deutete in Richtung Flurtür.

»Ich glaube, draußen ist jemand.«

Sie streifte sich die Schuhe ab und schlich barfuß zum Eingang. Obwohl im Hausflur kein Licht brannte, konnte sie bei näherem Hinsehen einen Schatten ausmachen, der just in diesem Moment in Richtung Treppe verschwand.

»Wir haben Besuch«, meinte Lydia, als sie zurückkam.

»Der Kerl mit dem Motorrad?«

»Da bin ich mir ganz sicher.«

»Und was machen wir jetzt?«

»Keine Ahnung. Sag du's mir.«

Cornelia überlegte einen kurzen Augenblick.

»Gib mir mal dein Handy.«

Kopfschüttelnd reichte sie ihrer Besucherin das Smartphone. Erst jetzt fiel ihr auf, dass sie immer noch die Sprachbox eingeschaltet hatte.

»Kannst du damit überhaupt umgehen?«

»Ist der Papst katholisch?« erhielt sie schnippisch zur Antwort.

»Ich meine ja bloß.«

Cornelias Finger wirbelten über das Display. Wenige Sekunden später erreichte der Anruf einen Mobilfunkanschluss in Grafenstein. Als sie das Gespräch beendet hatte, schaute Lydia ihren Gast fassungslos an.

»Das ist nicht dein Ernst!«

»Why not? Wir sind doch beide schlank und zierlich, nicht wahr? Es wird schon irgendwie klappen.«

 

~~~~~~~

 

Nachdem sie ihre Mails überflogen hatte, startete Stefanie das Textverarbeitungsprogramm und schrieb einen ersten ausführlichen Zwischenbericht. Das tat sie jedoch in erster Linie für sich selbst. Sie musste wenigstens mal stichwortartig alle Fakten und Vermutungen niederschreiben, um überhaupt noch eine Reihe in die Vorgänge der vergangenen Tage zu bekommen. Als sie nach über zwei Stunden mit dem Memo fertig war, lehnte sie sich in ihren Schreibtischsessel zurück und schloss die Augen.

Netterscheid schien recht zu haben. Vermutlich bereits in Dessau hatte jemand einen Stein ins Wasser geworfen, dessen Wellen inzwischen immer weitere Kreise zog. Vermutlich begann tatsächlich alles mit dem Mord an Dr. Kohn. Aller Voraussicht nach war seine Ermordung die erste Welle, die der Stein verursachte. Motiv? Vergeltung. Tatwaffe? Bekannt. Täter? Unbekannt. Sehr unbefriedigend. Doch die Wellen begannen sich auszubreiten. Erna Leinfeld kannte Dr. Kohn. Arbeitete jedenfalls in Hoheneck mit ihm zusammen. Erna Leinfeld wurde ebenfalls erschossen. Tatwaffe? Bekannt. Täter? Unbekannt! Erst recht unbefriedigend.

Mit dem Tod von Erna Leinfeld nahmen die Wellen jedoch deutlich an Dimension zu. Die Leinfeld versorgte von Belgien aus zahlreiche ehemalige SED-Kader und Stasi-Mitarbeiter mit Geld. Vermögen der ehemaligen DDR, zusammengetragen und gehortet in Luxemburg. Und das schien sich nach Erna Leinfelds Tod zu allem Überfluss auch noch peu á peu in Luft aufzulösen. Verdächtige? Ausgerechnet ihre Chefin, die Bürgermeisterin von Grafenstein, Leute bei der Bundesanwaltschaft, im BMI und vielleicht sogar beim Verfassungsschutz selbst. Es war schon merkwürdig, dass in der entscheidenden Phase der Ermittlungen ausgerechnet die Kölner Schlapphüte den Fall an sich rissen. Konnte natürlich auch politisches Kalkül sein. Oder das Werk von Mitwissern. Jedenfalls verließen die Ratten das sinkende Schiff. Natürlich nicht, ohne vorher die Bordkasse geplündert zu haben.

 

Überhaupt die Bürgermeisterin. Intimfeindin von Axel Schröder. Vermutlich wäre man ihrem luxemburger Schwarzgeldkonto nie auf die Schliche gekommen, hätte sich ihr Mann nicht ausgerechnet mit zwei rumänischen Prostituierten eingelassen und sie im Gegenzug die Scheidung angedroht. Eine der beiden Frauen hatte vorher die tote Erna Leinfeld im Wasser entdeckt. Zufall? Absicht? Ungeklärt. Ebenfalls unbefriedigend.

Wenigstens Melanie Balfelders Machenschaften hatte man weitgehend aufdecken können. Um Schröder, der sie immer wieder wegen der verschlechterten Sicherheitslage politisch angreift, zu diskreditieren, ließ sie die Disco eines Türken abfackeln und vermutlich auch den Tunesier überfallen. Alles sollte nach einem rechtsradikalen Übergriff ausschauen. Pech für alle Beteiligten, dass zu diesem Zeitpunkt ausgerechnet der Schwager des Disco-Besitzers mit seiner Verlobten im Obergeschoss übernachtete. Wäre die Angelegenheit wie geplant über die Bühne gelaufen, hätte von Seiten der Strafermittlungsbehörden vermutlich kein Hahn mehr danach gekräht. Zumal dem Besitzer der Disco erhebliche Steuernachforderungen drohten und somit alles auf Versicherungsbetrug hindeutete. Fazit: zwei weitere Tote. Wenigstens hatten sie und Schäfer herausbekommen, wer als Täter infrage kam. Der wiederum hatte offenbar versucht die Bürgermeisterin zu erpressen, und Melanie Balfelder wusste sich nicht anders zu helfen, als ihn mit einem Elektroschocker und einer simplen Plastiktüte aus dem Verkehr zu räumen. Fall gelöst. Wenigstens etwas.

 

Aber da gab es noch den unaufgeklärten Mord an dem Realschulrektor und natürlich den tödlichen Verkehrsunfall, der im Prinzip nichts anderes als ein feiger Mordanschlag war. Warum allerdings Gregor Weisz und die ebenfalls unbescholtene Marianne Schäfer sterben mussten, dafür gab es im Augenblick weder Motiv noch Verdächtige. Die einzige Person, die den Ermittlungsbehörden hierbei eventuell auf die Sprünge helfen konnte, war getürmt. Eigentlich kamen nur die Personen infrage, mit denen sie in letzter Zeit engeren Kontakt hatte. Die Brenners, bei denen sie sich zuweilen aufhielt... und Lydia Sartorius, die Freundin der Toten.

Kurz entschlossen nahm sie ihr Smartphone und wählte erneut Lydias Mobilfunkanschluss, und wieder meldete sich bloß die Sprachbox. Stefanie warf einen Blick auf die Uhr. Eigentlich viel zu spät für einen Besuch, Lydia konnte sie auch morgen früh noch ausführlich befragen. Doch Stefanie wusste, dass sie jetzt sowieso kein Auge zubekam. Vielleicht war Lydia ja noch auf und hatte lediglich vergessen, ihr Smartphone umzuschalten. Oder es war sonstwas passiert. Seufzend schlüpfte Stefanie in ihren Mantel, griff nach dem Schlüssel für ihren Dienstwagen und machte sich auf in die Trierer Vorstadt.

 

~~~~~~~

 

Als zwei dunkel gekleidete Männer mit einen Sarg das Haus auf der gegenüberliegenden Straßenseite verließen, huschte ein hämisches Grinsen über sein Gesicht. Zumal sich unter die beiden Sargträger auch noch eine attraktive Vierzigjährige mischte. Es war die Frau, der er bis hierhin gefolgt war. Damit stand fest, wer in dem Sarg lag. Na also! Auftrag erfüllt. Jetzt konnte er endlich zurück nach Köln fahren und sich ordentlich behandeln lassen. Die Schusswunde tat inzwischen höllisch weh, und zuviel Schmerzmittel wollte er nicht nehmen. Die schwere Geländemaschine fuhr sich schließlich nicht von alleine.

Der Mann in der dunklen Motorradkluft wollte sich gerade diskret zurückziehen, als hinter dem Leichenwagen ein Passat zum Stehen kam. Er schaute genauer hin und ging instinktiv in die Hocke. Die hatte ihm gerade noch gefehlt!

»Was geht hier vor?« wollte Stefanie Michels wissen. »Wen haben Sie da abgeholt? Wo steckt Frau Sartorius?«

Lanzerath warf die Hecktüre seines Kombis zu.

»Das wollen Sie gar nicht wissen«, meinte er mehr zu sich selbst.

Im gleichen Augenblick trat Lydia aus dem Halbschatten des Hauseingangs. Stefanie atmete tief durch.

»Jetzt haben Sie mir aber einen schönen Schrecken eingejagt. Ich dachte schon...«

Sie hielt für einen Moment inne.

»Moment mal. Soll das etwa heißen...?«

Lanzerath streifte sich die weißen Handschuhe ab.

»Wie gesagt. Das wollen Sie gar nicht wissen.«

Stefanie holte tief Luft.

»Was ich wissen will und was nicht, das lassen Sie mal schön meine Sorge sein. Los jetzt! Öffnen Sie den Sarg. Ich will wissen...«

Als ich mich zu dem Trio hinzugesellte, wurden ihre Augen groß wie Kuchenteller. Mich hatte sie hier offenbar am wenigsten erwartet.

»Was in Dreiteufelsnamen...«

Lydia rettete die Situation und zog die Staatsanwältin ein Stück beiseite. Es begann eine halblaut geführte Diskussion, in deren Verlauf Stefanie mehrmals heftig den Kopf schüttelte. Der Mann in der Motorradkombi lugte währenddessen vorsichtig hinter dem Dachaufbau eines geparkten Wagens hervor. Was war da los? War die Tussi am Ende etwa gar nicht tot? Sein hämisches Grinsen erstarb. Verdammte Scheiße! Instinktiv fuhr seine Hand in Richtung Innentasche seiner Lederjacke. Am liebsten hätte er die ganze Bagage hier an Ort und Stelle abgeknallt. Aber diese Chance hatte er längst verpasst. Inzwischen traten Nachbarn von Lydia Sartorius auf die Straße und wollten erfahren, was es mit dem Zinnober, den wir zu nächtlicher Zeit vor dem Haus veranstalteten, auf sich hatte.

Es dauerte noch eine ganze Weile, bis Stefanie Michels endlich ein Einsehen zeigte. Sie schaute sich zwar mehrmals neugierig nach beiden Seiten um, konnte jedoch allem Anschein nach nichts Verdächtiges erkennen. Kopfschüttelnd stieg sie in den Passat, drehte auf der inzwischen regennassen Fahrbahn und brauste in Richtung Innenstadt davon.

 

»Das hat ja vielleicht gedauert«, brummte Lanzerath. »Ich dachte schon, die lässt uns jetzt allesamt verhaften. Was hatten Sie denn so lange mit der Staatsanwältin zu bequatschen?«

Lydia setzte ein damenhaftes Lächeln auf.

»Wie sagt der Bestattungsunternehmer immer so schön: Das wollen Sie gar nicht wissen.«

Lanzerath knurrte etwas Unverständliches und kletterte hinter das Lenkrad.

»Und Sie?« fragte ich, als ich die Beifahrertür öffnete.

So schnell hatte ich seit Studententagen keine Frau mehr in einen Kombi huschen sehen. Nur, dass der hier keine Liegesitze besaß.

»Was soll der Quatsch?« fragte ich lahm, während Lydia versuchte, es sich zwischen den beiden Vordersitzen halbwegs bequem zu machen.

Nachdem ich mich dann auch irgendwie auf dem verbliebenen Rest Beifahrersitz zusammengefaltet hatte, gab Lanzerath Gas. Ich stupste Lydia an.

»Könnte mich vielleicht mal jemand aufklären?«

»Sie glauben doch wohl nicht, dass ich Cornelia in ihrem Zustand alleine lasse.«

Lanzerath runzelte die Stirn.

»Wer zum Henker ist Cornelia?«

»Sehen Sie«, nickte Lydia. »Sie haben keine Ahnung. Allein deshalb ist es besser, wenn ich mitfahre.«

 

Mehr verblüfft als wütend stampfte der Mann in der Motorrad-Kombi mit dem Fuß auf. Was war das denn? Seit wann quetschte man sich zu dritt in einen Leichenwagen? Wollten die ihn verarschen? So schnell ihm das die Schusswunde erlaubte, humpelte er um die Hausecke, kletterte auf die Geländemaschine und sah zu, dass er Anschluss an das Trio mit einer anscheinend Untoten im Laderaum bekam.

 

~~~~~~~

 

Mit beherztem Griff ins Lenkrad wendete Stefanie den Passat und gab Gas. Ihr Puls ging immer noch hoch. Was Lydia ihr mit dürren Worten zu erklären versucht hatte, leuchtete ihr immer noch nicht ein. Am meisten ärgerte sie, dass sie sich so mir nichts dir nichts auf diesen Deal eingelassen hatte, statt erst mal eine Polizeistreife zu alarmieren und die ganze Bande zur Vernehmung aufs Präsidium zu schaffen. Wo kommen wir denn hin, wenn die Chefin der Spurensicherung an Staatsanwaltschaft und den übrigen Ermittlungsbehörden vorbei auf eigene Faust die Sache in die Hand nahm, schimpfte sie halblaut vor sich hin. Was für eine Räuberpistole hatte man ihr da eigentlich aufgetischt? Cornelia, wie die mysteriöse Fremde allem Anschein nach mit richtigem Namen hieß, sei angeblich weder in Polizeigewahrsam geschweige denn in einem Provinzkrankenhaus sicher. Die Sorge um die Unterbringung in der Trierer Klinik nahm sie Lydia zur Not ja noch ab. Schließlich hatte sie selbst erlebt, wie leicht es war, sich Zutritt zu einem Patientenzimmer zu verschaffen. Aber im Polizeipräsidium hätte man ihr jeden Schutz bieten können. Notfalls hätte man sie in eine Zelle für Untersuchungshäftlinge gesteckt und vom SEK bewachen lassen. Aber Lydia ließ sich nicht beirren. Solange sich dieser bewaffnete Motorradfahrer weiterhin auf freiem Fuß befand, musste Cornelia zu ihrer eigenen Sicherheit kontinuierlich den Aufenthaltsort wechseln. Die Chefin der Spurensicherung hatte ganz lapidar auf die in den Fall involvierte Oberstaatsanwältin verwiesen und gleichzeitig den Verdacht im Raum stehen lassen, dass eventuell auch Leute aus dem Polizeipräsidium die Hand mit im Spiel haben könnten.

 

Während sie den Passat zur Eile antrieb, um den Anschluss an das Trio mit der verletzten Frau im Zinksarg nicht zu verlieren, griff sie zu ihrem Smartphone und versuchte Netterscheid zu erreichen. Doch dessen Mobiltelefon war auf Sprachbox geschaltet. Ihre Finger suchten auf der Tastatur eine weitere Kurzwahlnummer.

»Nun geh schon ran, du Idiot!« fluchte sie halblaut vor sich hin.

»Schäfer«, keuchte eine gehetzte Stimme.

»Überraschung!« rief Stefanie in den Sprechschlitz. »Wo stecken Sie im Augenblick?«

»Na, wo wohl? Im Bett. Haben Sie mal auf die Uhr geschaut?«

»Und dabei bekommen sie solche Atemprobleme? Wovon träumen sie denn?«

Im Hintergrund hörte sie eine genervte weibliche Stimme. Auch das noch! Der Typ lag tatsächlich im Bett. Und nicht alleine, wie es schien.

»Nochmal: Wo stecken Sie?«

»Sag ich doch: im Bett. Und kommen Sie nur ja nicht auf die Idee, mich zu irgendeinem Einsatz nach Trier zu beordern. Das würde dauern. Ich bin in Mainz.«

Auch das noch! Mit der Unterstützung des Kriminalhauptkommissars brauchte sie also nicht zu rechnen. Von Mainz bis Grafenstein brauchte der selbst in seinem Porsche mehr als eine Stunde.

»Wo steckt ihr Adlatus?«

»Weiß ich doch nicht«, antwortete Schäfer unversöhnlich. Im Hintergrund begann Schäfers Bettgespielin lautstark ihren Unmut über diesen Coitus interruptus kundzutun.

»Schlafen Sie weiter«, fauchte Stefanie und hieb förmlich auf den roten Button ihres Smartphones.

Kopfschüttelnd trat sie das Gaspedal noch ein Stück tiefer in Richtung Bodenblech. Wenigstens herrschte zu dieser Uhrzeit auf der B53 nur wenig Verkehr. Den Leichenwagen wollte sie spätestens vor dem Ortseingangsschild von Grafenstein eingeholt haben. Anschließend hatte sie vermutlich keine Chance mehr, dem flüchtenden Quartett und erst recht dieser Cornelia mal ein paar hochnotpeinliche Fragen zu stellen. Sie konnte in Grafenstein schließlich nicht von Haus zu Haus fahren, um eine Frau im Zinksarg aufzuspüren.

 

Kurz hinter Steinfeld, dem kleinen Weiler, wo vor ein paar Tagen die Disco der Öztürks abgebrannt war, konnte sie endlich zu Lanzerath aufschließen. Herr im Himmel, stöhnte sie. Was fuhr der Kerl denn für Schlangenlinien? Schließlich erkannte sie den Grund für dessen unorthodoxe Fahrweise. Dem silbergrauen Kombi folgte ein unbeleuchtetes Motorrad, das anscheinend fortwährend zu überholen versuchte. Sie schaute genauer hin und erkannte mit einem Mal die Situation. Es musste der Typ sein, mit dem sie und Netterscheid bereits zweimal aneinander geraten waren. Der Kerl, hinter dem im Augenblick die gesamte Polizei von Rheinland-Pfalz her war. Sie griff erneut nach ihrem Smartphone.

»Wer stört?«

Gleichzeitig versuchte ich trotz der Pirouetten, die Lanzerath mit seinem Mercedes über den Asphalt zog, mich und die Frau auf dem Getriebetunnel in halbwegs aufrechter Sitzposition zu halten. Besonders bequem war das zu dritt auf zwei Sitzen schon bei normaler Fahrt nicht.

»Was habt ihr vor?« keuchte die Anruferin. Instinktiv warf ich einen Blick in den Außenspiegel Außer dem bekloppten Motorradrowdie folgte uns auf kurzer Distanz ein Passat. Ach nee! Die Staatsanwältin.

»Na, wonach sieht's denn aus? Wir versuchen bestimmt keinen totgefahrenen Karnickeln auszuweichen.«

»Wo wollt ihr hin?«

»Was weiß ich? Erst mal weg von diesem Idioten auf der Geländemaschine. Der Typ ist bewaffnet. Die Heckscheibe hat er uns jedenfalls schon zerschossen.«

»Spätestens in Grafenstein hat er euch!« hörte ich die aufgeregte Stimme der Staatsanwältin aus meinem Handy. »Mit der Geschwindigkeit könnt ihr schließlich nicht durch eine geschlossene Ortschaft fahren.«

»Och, sagen Sie das nicht. Solange der Breitenbach mit seinen Hanseln schön bei sich daheim im Warmen bleibt...«

Ich hörte nur noch ein Klicken in der Leitung.

»Kein Benehmen«, brummte ich und wurde bei dem nächsten rüden Schlenker abwechselnd gegen die Beifahrertür und die schöne Lydia geschleudert.

 

Bei dem Namen Breitenbach war Stefanie eine Idee gekommen. Erneut hielt sie ihr Smartphone gegen die Wange.

»Polizeiinspektion Grafenstein. Was kann ich...«

»Michels am Apparat. Stefanie Michels, Staatsanwaltschaft Trier.«

»Kann jeder sagen«, erhielt sie lakonisch zur Antwort. »Wenn Sie was von mir wollen, kommen Sie gefälligst zu uns auf die Wache. Aber jetzt halten Sie gefälligst die Leitung...«

Stefanie hörte, wie ein Motor gestartet wurde. Breitenbach hockte offenbar in seinem Streifenwagen.

»Was sind denn das für Arschlöcher?« hörte sie ihn schimpfen. »Hat der noch alle Tassen im Schrank? Das gibt's doch nicht. Der Lanzerath. Na, seinen Lappen ist der für die nächsten paar Monate erst mal...«

»Lassen Sie den Mann weiterfahren!« brüllte Stefanie. »Und machen Sie nur ja kein Martinshorn an. Lanzerath wird verfolgt. Von einem Motorradfahrer. Der Kerl ist zur Fahndung ausgeschrieben.«

Stefanie hörte, wie der Streifenwagen sich mit durchdrehenden Reifen in Bewegung setzte.

»Etwa der Kerl, der euch in Trier durch die Lappen gegangen ist?«

»Stimmt. Jetzt können Sie sich ein paar Lorbeeren verdienen. Folgen Sie uns. Das in dem Passat bin ich. Sobald Lanzerath irgendwo anhält, nehmen Sie den Kerl auf der Geländemaschine sofort fest. Machen Sie von mir aus von der Waffe Gebrauch. Ich nehme das auf meine Kappe. Aber schalten Sie nur ja weder Blaulicht noch Sirene an.«

»So, ich bin hinter Ihnen«, grunzte Breitenbach und ließ zweimal die Warnblinkanlage aufleuchten. »Aber machen Sie sich auf ein Strafmandat gefasst. Telefonieren mit dem Handy am Steuer geht gar nicht.«

Wenn du nicht gleich deine blöde Schnauze hältst, wollte Stefanie schon lospoltern, besann sich jedoch im nächsten Moment eines Besseren. Inzwischen jagte der Leichenwagen mit dem Motorrad im Gefolge mit annähernd hundert Sachen durch Grafenstein. Jetzt brauchte sie wirklich beide Hände am Lenkrad.

 

»Was ist jetzt mit Tuttifrutti?«

Lanzeraths Stimme klang gepresst. Verstand ich nicht. Was regte der sich überhaupt so künstlich auf? Wir saßen in seinem Wagen doch warm und trocken. Was sollte die Anspannung? Erneut musste unser Leichenschänder auf die Gegenfahrspur ausweichen, um einen erneuten Überholversuch dieses Verrückten abzuwehren.

»Was soll der schon machen? Der steht vermutlich am Herd und wärmt dir das Rehragout vom Mittag auf.«

Ich warf einen verstohlenen Blick zur Seite. Lanzeraths Miene ließ im Augenblick jedoch keinen Aufschluss zu, ob er über meine Bemerkung sauer war oder ob ihm bereits das Wasser im Mund zusammenlief. Ich tippte auf letzteres. Rehragout stand auf seiner persönlichen Werteskala jedenfalls weit über schießwütigen Motorradfahrern.

»Was jetzt?«

»Reg dich ab. Er erwartet uns bereits.«

 

Das Hinweisschild zum Yachthafen tauchte auf. Ich vermute, es war das erste Mal in der Geschichte von Grafenstein, dass ein tonnenschwerer Leichenwagen praktisch im Powerslide von der B53 zum Hafen abbog. Kompliment. Ein ausgebildeter Rallyefahrer hätte das nicht eleganter hinbekommen. Ich war einen Blick in den Rückspiegel. Im gleichen Augenblick vollzog auch die Geländemaschine den 180-Grad-Schwenk. Ein weiterer Scheinwerfer durchschnitt die Dunkelheit. Verdammt! Das war jedenfalls nicht der Passat der Staatsanwältin. Hatte der Irre etwa Verstärkung bekommen?

Mit radierenden Reifen brachte Lanzerath den schweren Kombi genau vor Ballensiefens Restaurant zum Stehen. Wie abgesprochen, hatte Tuttifrutti die komplette Festbeleuchtung vor der Eingangstür eingeschaltet. Ich öffnete den Wagenschlag und zerrte gleichzeitig Lydia mit. Die junge Frau strauchelte, als sie mir in Richtung des rettenden Restauranteingangs folgen wollte. Kein Wunder. Stöckelschuhe eigneten sich schließlich nicht für einen überhasteten Spring-auf-Marsch-Marsch. Ballensiefen empfing uns mit seinem Jagdgewehr in der Hand. Als unser Verfolger ebenfalls zum Stehen kam und dabei seine Waffe zog, hob er drohend den Zwillingslauf seiner Büchse. Normalerweise ging er mit der Knarre auf Hasenjagd. Mit durchwachsenem Ergebnis, wie es hieß. Hoffentlich zielte er diesmal besser.

Dann ging es Schlag auf Schlag. Die Showdown-Szene in Ronin mit Robert De Niro und Jean Reno in der Hauptrolle war ein Dreck dagegen. Keine zwei Meter hinter dem Irren kam ein Streifenwagen zum Stehen. Das Blaulicht flammte auf und die Sirene ertönte. Aus dem Lautsprecher krächzte Breitenbachs Stimme.

»Absteigen und Hände hoch! Lassen Sie sofort die Waffe fallen! Sie sind verhaftet!«

Das beeindruckte den Kerl auf der Geländemaschine jedoch nicht die Spur. Er hob die Pistole mit dem Schalldämpfer, drückte zweimal ab und verlieh der Windschutzscheibe des Streifenwagens ein völlig neues Muster. Gleichzeitig verstummte auch die dämliche Sirene mit einem verzweifelten Jaulen. Alle Achtung, der Kerl verstand sein Geschäft.

Inzwischen hatte ich Lydia durch den Eingang geschoben. Das war nicht ganz einfach, denn im gleichen Moment drängelte sich eine Fünfzehnjährige mit gezücktem Smartphone nach draußen.

»Bist du des Wahnsinns?« konnte ich gerade noch keuchen, da war das Mädel aber auch schon an mir vorbei.

Der Schlagabtausch ging aber auch ohne meine Präsenz weiter. Ballensiefen drückte jedenfalls seine Flinte ab und katapultierte unseren Angreifer mit einer ersten Schrotladung filmreif von seinem Geländehobel. Hinter dem Streifenwagen kam in diesem Augenblick der Passat zum Stehen. Obwohl der Freak halb unter seiner Maschine lag, zückte er instinktiv seine Waffe. Ehe die Staatsanwältin überhaupt begriff, wie prekär die Situation inzwischen war, besaß der Passat schon keine Seitenscheibe mehr. Herr im Himmel, dachte ich bei mir. Mit was für einer Munition schoss der in der Gegend herum?

Da Breitenbach immer noch keine Anstalten machte aus dem Streifenwagen zu klettern, wand sich der Vermummte unter seinem umgestürzten Motorrad hervor und richtete die Waffe erneut auf uns. Ich hechtete los. Zwei Schritte, ein Satz, und dann lagen eine durchgestylte Fünfzehnjährige und ein atemloser Winzer voll im Dreck. Schade um das Armani-Pullöverchen. Das eignete sich jetzt höchstens noch für den Ölwechsel.

Jedenfalls keine Sekunde zu spät, denn etwa eklig Heisses streifte mich ein Stück unterhalb der Hüfte. Der kurz darauf einsetzende Schmerz war jedenfalls höllisch. Da hatte mir dieser blöde Kerl doch tatsächlich voll in den... na, Sie wissen schon, geschossen. Ein weiterer Theaterdonner folgte. Ballensiefen hatte inzwischen auch den linken Lauf seiner doppelläufigen Flinte abgefeuert. Diese Salve riss den Kerl ein zweites Mal von den Beinen. Rücklinks stürzte er über sein umgekipptes Motorrag und blieb wie eine Schildkröte auf dem Rücken liegen. Erst jetzt sprang Breitenbach aus dem Streifenwagen. Breitbeinig baute er sich vor dem Verletzten auf und ließ ihn in die Mündung seiner gezückten Dienstwaffe starren.

Was danach genau geschah, kann ich nicht sagen. Schließlich lag ich immer noch auf Ballensiefens Tochter und konnte mich wegen meines halb weggeschossenen Hinterteils sowieso nicht mehr sonderlich gut bewegen. Breitenbach behauptete hinterher jedenfalls steif und fest, der Kerl hätte seine Waffe auf ihn gerichtet und gedroht abzudrücken. Ob er überhaupt noch einen Schaden hätte anrichten können, darüber stritten sich Wochen später immer noch die Fachleute der Spurensicherung und die Anwälte. Das Magazin des Anderen war zu diesem Zeitpunkt nämlich längst leergeschossen, aber wer zählt bei einem solchen Tohuwabohu schon die abgegebenen Schüsse aus den einzelnen Pistolen mit. Alles, was ich in meiner unbequemen Position noch hörte, war, wie gesagt, ein einzelner Schuss.

Ergebnis der Komödie: Drei demolierte Autos, ein neuer Kunde für Lanzerath, Stefanie Michels und ich zwei Fälle für die Notaufnahme. Beim Bersten der Seitenscheibe ihres Passats hatte die junge Staatsanwältin im wahrsten Sinne des Wortes etwas ins Auge gekriegt.

 

~~~~~~~

 

Das Handy in seiner Jackentasche machte auf sich aufmerksam. Breitenbach, der sich bis dahin eifrig Notizen gemacht hatte, erhob sich mit gewichtiger Miene und verließ das Restaurant. Erst draußen vor dem Eingang nahm er das Gespräch entgegen. Eine Nummer mit Kölner Vorwahl. Er hatte den Anruf erwartet.

»Erfolgsmeldung?«

»Kann man so sagen«, erwiderte der Uniformierte mit geschwellter Brust.

»Zeugen?«

Breitenbach zögerte.

»Leider ja...«

»Scheiße«, unterbrach ihn der Anrufer. »Aber da kann man nichts ändern. Gab's weitere Verletzte?«

»Dem Brenner hat man, als er sich zum Schutz auf Ballensiefens Tochter geworfen hat, in den Arsch geschossen. Nichts dramatisches. Die Staatsanwältin bekam bei der Schießerei ein paar Splitter ab. Beide sind auf dem Weg in die Klinik.«

»Na, schön«, antwortete die Stimme aus dem Handy. »Jedenfalls gute Arbeit. Lassen Sie das mit Ihrem finalen Fangschuss mal meine Sorge sein. Sobald sich der Rauch verzogen hat, melden Sie sich bei Polizeirat Brunner. Den Job in Wiesbaden haben Sie in der Tasche. Und kein Wort zu niemandem, hören Sie?«

»Wem sollte ich denn was sagen?« grinste Breitenbach.

»Ich sehe, wir verstehen uns.«

Mit sich und der Welt zufrieden steckte Breitenbach das Handy zurück in seine Uniformjacke.

 

 

 

 

 

Kapitel 23

 

 

Mittwoch

 

Ich war eingeschlummert und hatte mich im Schlaf versehentlich auf die rechte Seite gedreht. Das gefiel meiner verletzten Pobacke aber überhaupt nicht. Mit einem heftigen Stich machte sie darauf aufmerksam, dass sich in der vergangenen Nacht vermutlich ein AiPler mehr recht als schlecht an meinem Hinterteil hatte austoben dürfen. Ich wälzte mich wieder auf die linke Seite und betastete vorsichtig den Verband. Herr im Himmel, das tat aber auch höllisch weh. Und überhaupt: Ich war schließlich Privatpatient. Da hatte man ja wohl Anspruch auf Chefarztbehandlung. Jedenfalls konnte sich der Kerl auf dem Motorrad auf was gefasst machen, falls ich den jemals in die Finger bekam.

Das Weingut fiel mir ein. Schussverletzung hin oder her, jetzt musste ich mich erst einmal ums Tagesgeschäft kümmern. Ein Blick auf das Display meines Handys deutete unmissverständlich an, dass es langsam auf die Mittagszeit zuging. Mein Büro sollte eigentlich besetzt sein. Notfalls hob ja der Köter bei mir daheim ab.

»Weingut Brenner, Verkauf und Liefermanagement. Was kann ich für Sie tun?«

Ich glaubte, meinen Ohren nicht zu trauen.

»Sag mal, geht's noch?«

»Ach, du bist's«, antwortete Caddy. »Alles klar, Alter, ich schwör. Eh, was geht ab?«

»Was treibst du in meinem Büro?« keuchte ich. »Wo steckt Karl?«

Caddy blieb völlig cool.

»Der ist unterwegs.«

»Wie, unterwegs?« fragte ich fassungslos. »Hat der sich etwa aus dem Staub gemacht, oder was?«

Es blieb einen kurzen Moment still in der Leitung.

»Eh, ich weiß nix. Jedenfalls ist er weg. Kann ich jetzt weitermachen, Alter?«

Unwillkürlich runzelte ich die Stirn.

»Womit weitermachen?«

Der Tunesier lachte.

»Na, deine Leute herum kommandieren. Eh, Alter, ich schwör, sollte ich jemals nochmal einen Laden aufmache, schaffe ich mir auch Personal an.«

So, wie es aussah, konnte ich mir vermutlich bei der örtlichen Arbeitsvermittlung demnächst neue Mitarbeiter suchen. Ich kannte doch meine Pappenheimer. Zumindest Backhaus ließ sich bestimmt nicht von einem dahergelaufenen tunesischen Wirtschaftsflüchtling die Butter vom Brot nehmen. Und was Schruntz anging: Wer dem ins Weinfass zu spucken versuchte, der konnte sich ebenfalls auf ein paar warme Worte gefasst machen. Na ja, zumindest vom Verkauf verstand Caddy etwas. Man musste nur aufpassen, dass der einem in seinem Eifer nicht praktisch Haus und Hof unterm Hintern weg verscherbelte.

»Bring mir bloß meinen Laden nicht durcheinander«, gab ich ihm als Warnung mit auf den Weg.

»Eh, mach mal keinen auf Panik, Alter«, erhielt ich als Antwort. »Dein Kabinett ist praktisch alle, und die Auslese neigt sich auch langsam dem Ende zu. Eh, ich hab deinem Weindoktor gesagt, er soll endlich mit seinem Blanc de Noir in die Puschen kommen. Leergut kann ich schließlich nicht mal den Holländern andrehen.«

Ich atmete tief durch und betastete noch einmal den Verband an meinem demolierten Hinterteil. So ging das jedenfalls nicht weiter. Okay, am Verkaufstresen konnte man je nach Kundschaft schon mal einen lockeren Spruch loslassen, aber wenn der in dem Ton mit den Einkäufern von Wijnkontoor Hazel oder, noch schlimmer, mit den Leuten von Köpenbrinck in Hamburg herumpalaverte, dann konnte ich mich demnächst mit meinen Weinflaschen an die nächste Straßenecke stellen, um überhaupt noch etwas verkauft zu bekommen.

»Ich stehe spätestens morgen wieder auf der Matte«, ermahnte ich ihn. »Bis dahin lässt du alles beim Alten und fasst mir gefälligst nichts an, von dem du nichts verstehst, hörst du?«

»Von was soll ich nix verstehen?« haute er mir zum Abschied um die Ohren. Anschließend herrschte Stille in der Leitung.

 

Seufzend legte ich das Handy zurück auf den Nachttisch. Meine beste Bürokraft war tot, im Betrieb ging es vermutlich drunter und drüber, daheim wartete ein bissiger Köter sehnsüchtig auf ladenfrische Jeans, und ich hockte hier im Bett, weil mir irgend so ein Vollpfosten die halbe rechte Arschbacke weggeschossen hatte. Na ja, ganz so schlimm war es wohl offenbar doch nicht. Ein Typ in grünem OP-Kittel meinte, ich hätte ganz schönen Dusel gehabt. Es wäre lediglich ein sauberer Streifschuss gewesen. Die beiden Hautlappen hätte er mit ein paar simplen Stichen in wenigen Minuten problemlos wieder zusammenflicken können. Unterwäschemodel würde ich in meinem Alter ja wohl nicht mehr werden wollen und bei älteren Damen könne man mit einer verheilten Schusswunde immer noch gehörig Eindruck schinden. Zwei Aspirin, Kamillentee, und in ein paar Tagen wäre ich wieder sprichwörtlich auf den Beinen. Ehe ich überhaupt etwas erwidern konnte, zog der Kerl seinen Mundschutz wieder hoch und war im nächsten Moment auch schon wieder aus dem Aufwachraum verschwunden.

 

Vorsichtig wuchtete ich mich hoch. Immer schön auf der linken Pobacke, denn wenn ich das Gewicht auch nur eine Idee nach rechts verlagerte, da konnte man aber was erleben. Der Patient im Nachbarbett hatte es weniger gut getroffen. Der war angeblich beim Versuch, die Dachrinne von Laub zu befreien, von der Leiter gefallen und hatte sich außer vier Rippen auch noch einiges an Armen und Beinen verbogen. Jedenfalls wirkte er ziemlich einsilbig. Ich wankte um mein Bett herum und öffnete meine Hälfte des Kleiderschranks. Dabei glitt das grau gemusterte Klinikhemdchen, das am Hals nur mit einem neckischen Schleifchen zusammengehalten wurde, zu Boden. Alles, was fortan meine Blöße bedeckte, war ein pummeliger Mullverband hinten rechts. Die Tür flog auf. Ich brauchte gar nicht hinzuschauen. Ich wusste auch so, wer da herein rollerte. Scheiße, war das peinlich!.

»Holla«, vernahm ich eine helle Stimme. Das Quietschen von Gummireifen auf frisch gebohnertem Klinikboden folgte. Beim American Football nannte man sowas Touchdown, oder anders gesagt: Besser geht's nicht.

Ihren abschätzenden Blick spürte ich beinahe körperlich. Hastig stöberte ich in meiner Kleiderschrankhälfte nach meiner Unterhose und wollte schon hineinschlüpfen. Doch ich ließ es im letzten Moment bleiben. Sie war genauso löchrig wie meine Anzughose und dazu auch noch blutverschmiert.

»Kannst du nicht anklopfen?« rutschte mir heraus, während ich mit Hemd und Anzug vor dem Gemächte um das Krankenbett humpelte.

»Mach dich nicht lächerlich«, gluckste Lena. »Glaub mir, ich habe in meinem Leben schon mehr als einen Mann puddelrüh gesehen. Hast du Angst, ich gucke dir was weg?«

Sie legte eine kurze Pause ein.

»Wobei...«

»Wobei, was?«

Ihr Blick ähnelte jedenfalls der einer Besucherin anlässlich des jährlichen Damenballs zu Fastnacht. Beim Auftritt der Jungs von den Mainzer Chippendales.

»Du sahst auch schon mal besser aus«, fügte sie hinzu.

Währenddessen drehte ich die am Hinterteil ebenfalls ziemlich zerfledderte Anzughose ratlos zwischen den Fingern hin und her. Der schwarze Anzug stammte noch von Lanzerath. In Jeans, Pulli und Sneakers wäre ich vor Lydias Haustür wohl kaum als Aushilfstotengräber durchgegangen, ohne dass einer misstrauisch geworden wäre. In den Klamotten sah ich wirklich zum Schießen aus mit all dem Hochwasser. Lanzerath war bestimmt einen Kopf kleiner als ich.

Ich deutete auf ihren Rollstuhl.

»Wer im Glashaus sitzt...«

»... sollte die Vorhänge zuziehen«, nickte sie. »Ich weiß. Sag mal, wie läufst du neuerdings eigentlich herum? Zum Glück habe ich dir frische Sachen zum Anziehen mitgebracht.«

Sie warf mir ein säuberlich gebündeltes Kleiderpaket entgegen, das ich instinktiv mit beiden Händen auffing. Dabei fiel logischerweise Lanzeraths dunkler Anzug zu Boden, und Lena schaute schon wieder so, als käme sie gerade von der Spätaufführung der Chippendales.

 

»Diese blöde Gans!« schimpfte die Rechtsanwältin.

Wir hockten in der Cafeteria, wo ich ihr ungestört die Ereignisse der vergangenen Nacht schildern konnte.

»Rennt einfach raus und filmt mit ihrem Handy in der Gegend herum. Ja, hat die noch alle Tassen in der Vitrine? Euch beiden hätte ja sonst was passieren können.«

Ich machte eine abschätzige Handbewegung.

»Ist doch nix passiert.«

»Nichts passiert?« begehrte sie auf. »Nichts passiert, sagst du? Ja, geht's noch? Ich hätte große Lust, dieser ungezogenen Göre mal gehörig...«

Miss Sophie rettete die Situation.

»Hier steckst du also«, knötterte die alte Dame und glitt in einen der freien Polstersessel. »Du hättest ja wenigstens mal anrufen können. Da macht man sich die allergrößten Sorgen...«

»Ist doch nix passiert«, wiederholte ich meinen Standardspruch. Inzwischen fühlte ich mich überhaupt nicht mehr wohl in meiner Haut. Und das lag nicht alleine an der Schussverletzung.

»Junge, du machst vielleicht Sachen«, schimpfte die alte Dame.

»Es ist nichts!« schnaubte ich. »Herr im Himmel, es war ein simpler Streifschuss, sonst nichts. Ihr tut ja gerade so, als käme ich aus Stalingrad zurück. Wie geht's eigentlich Julia?«

Miss Sophie lächelte verschmitzt.

»Hockt daheim und schmollt. Facebook-Verbot und Stubenarrest. Vermutlich bis zum Abi. Hugo Egon hat endlich ein Machtwort gesprochen. Ihr 600-Euro-Pullover ist leider reif für die Tonne. Sie schickt die Rechnung ans Weingut, soll ich dir ausrichten.«

»Sag Tuttifrutti, er hat was gut bei mir. Wenn der mit seiner Flinte nicht dazwischen gegangen wäre, ich weiß nicht, wo das noch hingeführt hätte.«

Dann fiel mir etwas ein.

»Wo steckt eigentlich diese Margret? Und was ist mit Lydia?«

 

»Diese Lydia ist wohl immer noch deine größte Sorge, was?« Lena verzog jedoch keine Miene. »Wie oft sollen wir dir eigentlich noch erklären...«

»Ich weiß, ich weiß«, meinte ich traurig.

Wie gesagt, reine Verschwendung. Sowas sollte gesetzlich verboten werden. Mindestens. Wenn das in dem Tempo so weiterging, bestand in zwanzig Jahren der Sex für uns normale Männer vermutlich nur noch aus dem vierteljährlichen Termin für die Samenspende.

»Die beiden Damen, die ihr auf so spektakuläre Weise in Trier abgeholt habt, genießen im Augenblick die Gastfreundschaft meiner Mutter. Die Zugbrücke ist hochgezogen. Ihr könnt also ganz beruhigt sein.«

Unwillkürlich dachte ich an die gräflichen Bequemlichkeiten im Untergeschoss der Burg. Von wegen Streckbank, glühende Kohlen, Eiserne Jungfrau und so.

»Was soll mich an dieser Vorstellung beruhigen?« meinte ich. »Wo steckt eigentlich Karl?«

»Soweit ich richtig informiert bin«, antwortete Lena und spitzte dabei die Lippen, »ist dein Onkel im Augenblick unterwegs.«

Unwillkürlich runzelte ich die Stirn. Also hatte Caddy tatsächlich kein dummes Zeug erzählt.

»Geht's vielleicht ein bisschen genauer? Was soll das heißen: 'ist unterwegs'? Hat er wenigstens seinen blöden Köter mitgenommen?«

Da sich diese Tatsache angeblich Lenas Kenntnis entzog, wandte ich mich an Sophia.

»Raus mit der Sprache! Was wird hier eigentlich hinter meinem Rücken gespielt?«

Miss Sophie umfasste mit ihren knochigen Fingern meine Handgelenke. Herrje, wie dramatisch. Kam jetzt etwa irgendwas aus dem 'Rosamunde-Pilcher-Repertoire'? Frei nach dem Motto: Lanzerath ist in Wirklichkeit dein Bruder, Karl und ich deine leiblichen Eltern. Jupp und Lisbeth Brenner hatten dich seinerzeit bloß adoptiert. Sieh zu, wie du damit klarkommst. Tragische Musik, Schnitt, Abspann. Anschließend das heute-journal.

Ich hätte nicht so dämlich grinsen sollen. Irgendwas ist immer.

 

»Hinter deinem Rücken wird überhaupt nichts gespielt«, meinte Sophia in ruhigem Ton. »Wie bereits gesagt, Karl ist im Augenblick unterwegs. Mehr weiß ich auch nicht. Warte es einfach ab.«

Sie lächelte milde.

»Und, nein, er hat seinen Hund nicht mitgenommen. So lange wird er nicht fortbleiben. «

Ich sprang auf. Den Schmerz in der rechten Pobacke nahm ich dabei gar nicht wahr.

»Wieso hat er Robespierre nicht mitgenommen? Soll der etwa für den Rest seiner Tage bei mir auf dem Weingut bleiben? Will der mich verarschen, oder was?«

»Hock dich nieder«, meinte Sophia und wies demonstrativ auf meinen Stuhl. »Und beruhige dich.«

»Ich will mich aber nicht beruhigen«, schimpfte ich munter weiter. Inzwischen schauten die anderen Gäste in der Cafeteria schon missbilligend in unsere Richtung. Scheißegal. Ich war so richtig schön in Fahrt. »Ich will endlich wissen, was hier abgeht.«

Nun wurde Lena ungeduldig.

»Das ist ja nicht auszuhalten mit dir. Also, gut. Sieh zu, dass man dich heute noch entlässt. Wir treffen uns gegen sieben Uhr abends auf der Burg. Sei pünktlich und zieh dir gefälligst etwas Ordentliches an. Mutter und ich hassen Freizeitklamotten im Salon.«

Mit energischem Griff packte sie in das Handrad ihres Rollstuhls und war wenige Minuten später verschwunden.

»Was hat sie denn auf einmal?« wunderte ich mich.

Sophia warf mir einen vorwurfsvollen Blick zu.

»Bist du wirklich so begriffsstutzig, oder tust du nur so?«

 

Am späten Nachmittag nach einer kurz und schmerzlosen Konsultation meines behandelnden Oberarztes erhielt ich auch ohne große Diskussion meine Entlassungspapiere. Auf der A1 hatte es nämlich wieder mal heftig gekracht, sodass man in der Grafensteiner Chirurgie jedes freie Bett brauchte. Als ich die Klinik verließ, wartete bereits Caddy auf mich. Ich traute meinen Augen nicht. Der Kerl war mit dem Unimog gekommen.

»Scheiße, aber auch«, fluchte ich halblaut vor mich hin, als ich versuchte, mich auf den harten Stahlrohrrahmensitzen so zusammenzufalten, dass man die Schmerzen in der rechten Pobacke auch ohne Barbiturate in Klinikgebinden überstand. Es gelang mir nicht wirklich. Für Krankentransporte war so ein Universalmotorengerät wirklich nicht konstruiert. Caddy grinste breit, legte den ersten Gang ein, was das Getriebe mit einem deutlichen Knirschen quittierte, und gab energisch Gas. Die 72 PS klangen mal wieder wie Kettensäge. Ungeschmiert.

»Wieso hast du den Unimog genommen? Was ist mit dem Volvo?«

»Mit dem ist doch Karl unterwegs«, erhielt ich zur Antwort.

»Wo ist er überhaupt hingefahren?« wollte ich wissen.

Caddy drehte sich zu mir herum.

»Eh, mir sagt auch keiner was. Ich weiß nix. Frag ihn doch selbst.«

Also angelte ich mein Handy aus der Hosentasche.

»'allo«, erhielt ich als Antwort, als der Ruf durchging.

Hä?

»Wer ist da?« fragte ich ungeduldig. »Was haben Sie bei mir in der Leitung verloren?«

»Pardon?« meinte mein Gegenüber mit unüberhörbarem Vorwurf in der Stimme.

Ich drückte das Gespräch weg. Hatte ich mich etwa verwählt? Aber das konnte eigentlich nicht sein. Die Nummer unseres Handys mit Prepaid-Karte für Notfälle war bei mir seit jeher fest gespeichert. Und bisher hatte ich damit stets entweder Marianne, den Schruntz oder zuletzt meinen Onkel erreicht. Scheißtechnik! Was war denn jetzt schon wieder los?

Ich wählte die Nummer erneut. Diesmal aber ganz langsam und Taste für Taste von Hand.

»'allo?«

Schon wieder diese Französin in der Leitung. Es war zum Bebaumölen.

»Hören Sie«, bemühte ich mich, möglichst freundlich zu bleiben. »Das ist der Mobilfunkanschluss von Weingut Brenner. Wie kommen Sie eigentlich an unser Handy heran? Wer sind Sie überhaupt?«

Ich vernahm ein Rascheln und ein paar unterdrückte Sprachfetzen im Hintergrund. Dann meldete sich eine wohlbekannte Stimme.

»Grüß dich, mein Junge. Wo steckst du? Geht's dir gut?«

»Danke der Nachfrage«, entgegnete ich ungnädig. »Hättest mich ja ruhig mal in der Klinik besuchen können, statt dir als erstes den Volvo unter den Nagel zu reißen, um damit in der Gegend herumzukutschieren, Und dabei nimmst du auch noch französische Anhalterinnen mit, wenn ich mich nicht irre.«

Karl ging auf meine Bemerkung nicht ein.

»Bist du noch in der Klinik?«

Langsam wurde ich sauer.

»Nein, bin ich nicht. Caddy war so freundlich, mich dort abzuholen. Mit dem Unimog. Weißt du überhaupt...«

Der Tunesier bog, ohne auch nur ansatzweise die Bremse zu betätigen, mit Karacho nach links auf die Bundesstraße ab. Wie gesagt, nach links. Mit voller Gewichtsverlagerung der Insassen nach rechts. Mein Schmerzensschrei hatte etwas Unwirkliches.

»Was ist denn da bei dir los?« wollte Karl wissen. »Wirst du gerade notoperiert? Ohne Narkose?«

Ich warf Caddy einen bitterbösen Blick zu und versuchte mich auf meiner linken Pobacke wieder halbwegs schmerzfrei zu positionieren.

»So ungefähr. Wenn dieser Kameltreiber weiter so durch die Gegend prescht, dann ist hier nämlich wirklich bald der Arsch ab. Und zwar im wahrsten Sinne des Wortes. Wo steckst du überhaupt?«

Meiner letzten Frage folgte ein unterdrücktes Tuscheln. Mann, der Alte hatte es immer noch voll drauf. Kaum war ich mal einen Tag außer Haus, machte der sich schon wieder an junges Gemüse heran.

»Bis bald, mein Junge. Man sieht sich.«

Ich seufzte. Auch eine Antwort.

 

Es dämmerte bereits, als ich das Anwesen der zu Ahrenfels erreichte. Zum Glück hatte der olle Steinhöfel Zeit und konnte mich in seinem Großraumtaxi hierher kutschieren. Im Unimog wären meine Schmerzensschreie vermutlich bis Trier zu hören gewesen. Idiotisch, mich so kurz nach einer OP selbst zu entlassen. Hatte auch der Oberarzt gemeint. Zumindest, bis der Unfall auf der A1 passierte.

Ich blickte mich um. Von wegen Zugbrücke hochgezogen. Hier gab es überhaupt keine Zugbrücke. Alles gelogen. Typisch verarmter Landadel. Na ja, verarmt...

Neben der breiten Freitreppe hinauf zur Belle Etage parkte der Brenner'sche Volvo.. Daneben hatte jemand demonstrativ einen Silver Shadow, Baujahr 1975, abgestellt. Wem wollte die beiden Blaublüter eigentlich imponieren? So überragend war deren Riesling nun auch wieder nicht, dass ich hier und jetzt vor lauter Ehrfurcht im Boden versank.

Standesgemäß nahm mich ein Butler in Empfang und schob mich dann kommentarlos durch endlose Korridore bis zu einem Raum mit tausenden Büchern in deckenhohen Regalen. Ich kam mir vor wie bei Cluedo. Oberst von Gatow mit der Rohrzange in der Bibliothek. Der Butler verschwand. Ich schaute mich um und entdeckte einen verzierten Globus, dessen Oberteil sich zur Seite wegklappen ließ. Da es vermutlich keinen Zweck hatte, auf ein Serviermädchen zu warten, bediente ich mich selbst.

»Wohlsein! Die Bar ist eröffnet!«

Wie auf Kommando schwang eine der zahlreichen Türen auf. Das anschließende Quietschen von Gummireifen auf hochglänzendem Parkettboden deutete bereits von Ferne an, wer jetzt hier gleich seinen großen Auftritt hatte. Lena rollerte auch gleich auf mich zu. Sie sah bezaubernd aus. Seidenbluse, breiter Schal, bodenlanger Kaminrock, Lederstiefeletten. Haare frisch aus der Dauer, dazu eine dreireihige Perlenkette, Rolex, Armschmuck. Zusammen mit Schloss und Butler, wie gesagt, der Traum jeder Schwiegermutter. Die Gräfin ließ sich bestimmt irgendwo im Witwenflügel artgerecht unterbringen. Über genügend Zimmer verfügte der alte Kasten ja.

 

Wie zu erwarten, kam Lena nicht allein. In ihrem Gefolge befand sich die geheimnisvolle Margret. Auch sie hatte man standesgemäß eingekleidet. Der dunkelblaue Kashmirpulli brachte ihre Körbchengröße jedenfalls erst richtig zur Geltung. An ihrer Seite befand sich die Chefin der Trierer Spurensicherung. Ich schluckte rau. Was war das hier? Ein Probeshooting für die Vogue? Eine Castingshow für die nächsten Folgen des Bachelor?

Während Lydia den Eindruck erweckte, als seien die vergangenen Tage spurlos an ihr vorübergegangen, machte die Frau, die vergangene Nacht bei Lanzerath im Laderaum zumindest mal hatte probeliegen dürfen, keinen so ausgeruhten Eindruck. Kein Wunder. Fast umgebracht, getürmt, eingesargt und wieder auferstanden. Praktisch Ostern im Schnelldurchgang. Solch ein Stress ging selbst an einer ansonsten durchtrainierten Vierzigjährigen nicht spurlos vorüber.

Aber dann folgte der Hammer in Person meines Onkels. Ich musste tatsächlich zweimal hinschauen, so dermaßen blieb mir die Spucke weg. Von wegen Trapperlook. Nix da. Der Alte trug einen eleganten dunkelblauen Zweireiher, der den schulterlangen weißgrauen Pferdeschwanz erst richtig zur Geltung brachte. Dazu dunkle Schnürschuhe und ein dezent gestreiftes Hemd mit Fliege. Ausgehfertig wie fürs Theater. Ich hockte schon wieder im falschen Kino.

»Hast du irgendwo einen Herrenausstatter überfallen?«

Karl lächelte nur und tat so, als hätte er meine Bemerkung nicht gehört.

»Nehmt bitte Platz«, meinte Lena und lächelte aristokratisch milde. »Ich sitze ja bereits. Oh, wie ich sehe, hast du dich schon bedient. Martin!«

Der Butler betrat die Bibliothek. Exakt wie bei Dinner for one. Nur ohne Eisbärfell. Ich wartete trotzdem sehnsüchtig darauf, dass er mit dem vollen Tablett samt Gläser und Flaschenbatterie der Länge nach hinfiel. War das vielleicht ein arroganter Arsch! Als er das Glas in meiner Hand bemerkte, hob sich seine rechte Augenbraue. Aber nur kurz. Man wusste schließlich, was sich gehört. Trotzdem war die Missbilligung in seinem Gesicht unübersehbar. Ein halblautes Schnalzen folgte, und wie von Geisterhand entfaltete sich unter dem Tablett ein x-förmiges Gestell. Martin stellte das Tischchen neben Lena ab, rückte mit seinen weiß behandschuhten Händen noch rasch die Gläser ein wenig zurecht und war Augenblicke später genau so unbemerkt verschwunden, wie er kurz vorher aufgetaucht war. Dekadenz pur. Ich bin bestimmt kein Sozi, aber beinahe hätte ich jetzt wirklich laut durch die Nase geschnaubt. Herr im Himmel! Ging's nicht vielleicht eine Nummer kleiner? Wenigstens ließ es sich Lena nicht nehmen, die Gläser ihrer Gäste eigenhändig zu füllen.

Nachdem die Damen anstandshalber ein paarmal an ihren Drinks genippt hatten, klopfte sie mit einem Silberlöffelchen gegen ihr Glas.

»Wie der verstorbene Marcel Reich-Ranicki stets so treffend zu bemerken verstand: Vorhang zu und alle Fragen offen. Leider muss sich Frau Michels entschuldigen. Sie wurde in eine Fachklinik überwiesen. Ein Splitter in ihrem rechten Auge ließ sich wohl nicht so einfach entfernen. Doch wie dem auch sei, ich denke, wir können auch ohne die Staatsanwältin etwas mehr Licht in die Angelegenheit bringen. Deshalb ist auch Karl zu Gast.«

Ich machte es mir auf meiner gesunden Pobacke leidlich bequem. Man durfte also gespannt sein, um es vornehm auszudrücken..

 

»Als erstes«, begann Lena und wandte sich dabei an Mariannes Internetbekanntschaft, »wäre ich dankbar, wenn Sie sich mit Ihrem richtigen Namen vorstellen würden.«

Die junge Frau lächelte verschmitzt.

»Cornelia Bergman. Ich habe den Familiennamen meines geschiedenen Mannes beibehalten.«

»Bergman.« Lydia schlug sich mit der flachen Hand gegen die Stirn. »Natürlich! Unter diesem Namen wurde doch der Wagen gemietet, mit dem du auf der Landstraße verunglückt bist.«

Lena nickte nur kurz und moderierte unbeirrt weiter.

»Soweit, so klar. Und jetzt berichten Sie uns doch bitte, warum Ihre Mutter in Hoheneck eingesperrt war und was Sie dazu bewogen hat, erst nach dreißig Jahren wieder Kontakt zu ihr aufzunehmen?«

»Es begann eigentlich alles mit diesem verdammten Testament«, seufzte Cornelia Bergman. »Wenn ich ehrlich bin, hätte ich das Schreiben meines Anwalts einfach zerreißen sollen, statt mit diesem Schweriner Notar Kontakt aufzunehmen. Ich hätte mir und einer Menge anderer Leute womöglich einigen Ärger erspart.«

»Was Sie nicht sagen«, brummte ich und dachte gleichzeitig an Marianne, die in irgendeiner Kühlschublade der Trierer Rechtsmedizin lag.

Cornelia holte tief Luft.

»Der Notar übergab mir im Zuge der Testamentseröffnung im wesentlichen nur den Schlüssel für ein Bankschließfach. Darin befand sich eine Bankvollmacht meines Vaters und ein persönlicher Brief an mich und meine Mutter. Darin versuchte er die damaligen Ereignisse ins rechte Licht zu rücken und sich vor mir und meiner Mutter zu rechtfertigen. Ein Gutes jedenfalls hatte dieses stellenweise unerträgliche Gefasel von Schuld und Sühne: Ich begann die Geschehnisse mit einem Mal in einem völlig anderen Licht zu sehen. Meine Mutter hatte anscheinend keinen Moment an dessen Loyalität gezweifelt und felsenfest daran geglaubt, dass er, was immer auch geschah, treu an ihrer Seite stehen würde. Erst als sie nach ihrer Verhaftung die Scheidungspapiere erhielt, ging ihr langsam ein Licht auf, wer sie da so schamlos hinters Licht geführt und zudem auch noch an die Stasi verpfiffen hatte. Doch da war es natürlich zu spät. Und ich dumme Gans glaubte auch noch alles, was mir die Leute von der Jugendfürsorge an Lügen auftischten. Dass sie sich in Wirklichkeit von meinem Vater getrennt und sogar freiwillig auf ihre Elternschaft verzichtet habe, um nur ja in die Bundesrepublik ausreisen zu dürfen. Heute weiß ich, dass die Gesetze der DDR den Verzicht auf die Elternschaft gar nicht zuließen.«

 

Cornelia schilderte uns mit knappen Worten, wie sie die Ausführungen ihres Vaters zwangsläufig auf die Spur der Verwandten in Bayern führte. Also stattete sie den Leims einen Besuch ab. Da sie aber ihrer Tante zweiten Grades erst mal auf den Zahn fühlen wollte, veränderte sie vorsichtshalber ihr Aussehen und gab sie sich als Journalistin aus. Damit schien sie gut getan zu haben, denn der Sohn ihrer Tante erwies sich als spätpubertäre Plaudertasche. Alles, was er tagsüber erlebte, konnte man abends bei Facebook nachlesen.

Unter Einsatz all ihrer Überredungskunst und einigem an gebündeltem Barem gelang es ihr schließlich herauszubekommen, wo sich Margarete in den Tiroler Bergen aufhielt. Anlässlich ihres Besuchs auf der Alm konnten sich Mutter und Tochter zum ersten Mal seit dreißig Jahren in die Arme nehmen und aussprechen.

»Bis dahin führte ich ein sorgenfreies und eher egozentrisches Leben«, fuhr sie fort. »Das Schicksal anderer Leute ging mir eigentlich sonstwo vorbei. Das änderte sich jedoch schlagartig, als ich näheres über diese seltsam verstockte Frau an ihrer Seite erfuhr. Jedenfalls sollte ich auf Bitten meiner Mutter die Tochter von Nannerl ausfindig machen. Viel konnte sie mir leider nicht über das Kind berichten, außer, dass man ihr den Säugling bereits kurz nach der Geburt weggenommen habe und das kleine Mädchen angeblich ein sehr auffälliges Muttermal am rechten Unterarm besaß.«

 

Bei ihrer Suche nach Nannerls Tochter eilte ihr das Glück zu Hilfe. Im Hoheneck-Forum stieß Cornelia auf eine junge Frau, die in ähnliche Richtung recherchierte. Im Gegensatz zu ihr hatte Marianne jedoch keinen blassen Schimmer, wer überhaupt ihre leiblichen Eltern sein konnten. Cornelia nahm mit der Fremden Kontakt auf, und traf dabei voll ins Schwarze. Die Frau, mit der sie sich anschließend in einem tristen Eifelkaff traf, besaß genau dieses auffällige Muttermal, von dem ihre Mutter gesprochen hatte. Ein Muttermal in Form einer Schildkröte auf dem rechten Unterarm.

 

»Warum Marianne nur einmal nach Tirol gefahren ist, um ihre Mutter zu besuchen, wird wohl auf ewig ihr Geheimnis bleiben. Sie meinte mir gegenüber nur lapidar, dass sie zuerst sämtliche Hintergründe erfahren wollte, die zur Inhaftierung ihrer Mutter geführt hätten. Deshalb schloss sie sich mir auch sofort an, als ich damit begann, mehr über die Mitgefangenen und insbesondere das Gefängnispersonal von Hoheneck herauszubekommen. Als erstes stießen wir auf Luise Kahlert und suchten sie in ihrer Wohnung in Chemnitz auf. Entsprechende Informationen aus der Frau herauszukitzeln, erwies sich als Kinderspiel, denn die Kahlert litt wie alle Hartz-IV-Empfänger unter akuter Geldknappheit. Für ein paar Geldscheine, die über den Küchentisch hinweg den Besitzer wechselten, erfuhren wir, wo Dr. Jochen Kohn, der legendäre Anstaltsarzt, inzwischen arbeitete und dass sich Leutnant des Staatssicherheitsdienstes Erna Kosinsky angeblich ins Ausland abgesetzt habe. Marianne suchte Dr. Kohn zwar in Dessau auf, er war allerdings nicht zu einem Gespräch bereit und drohte sogar mit seinen Anwälten, falls man ihn nicht endlich in Ruhe ließe.«

Cornelias Lachen klang alles andere als heiter.

»Dieser kleine Drecksack. Hockte mitten im feinsten Dessauer Wohnviertel, behandelte ausschließlich Privatpatienten und scheffelte dabei auch noch Kohle ohne Ende. Ich möchte nicht wissen, wie viele Frauen wegen seiner seltsamen Auffassung von Empathie bleibende gesundheitliche Schäden davon getragen haben. Und wie viele von denen die Beine hatten breit machen müssen, um wenigstens die allernötigsten Medikamente verschrieben zu bekommen.«

 

»Wir kommen langsam auf den Punkt«, machte Lena einen harten Schnitt. »Die Kahlert wurde über den Haufen gefahren, und der Kohn starb fast zur gleichen Zeit an akuter Bleivergiftung. In beiden Fällen waren Sie und Marianne in deren nächster Nähe. Was sagen Sie dazu?«

Cornelia lief weder rot an, noch runzelte sie auch nur ansatzweise die Stirn. Sie blieb absolut cool. Vermutlich hatte sie damit gerechnet, dass man ihr diese Frage stellen würde.

»Ich zumindest habe für beide Tatzeitpunkte ein wasserfestes Alibi. Ich war bei mir daheim. Was allerdings Marianne betrifft...«

»Papperlapapp! Was heißt hier 'bei mir daheim'? Wo ist das überhaupt?«

Ein unmerkliches Lächeln huschte über das Gesicht ihres Gastes.

»Was wollen Sie hören? Glauben Sie, ich wäre so unbehelligt mit meinen Recherchen vorangekommen, wenn ich jedem meine wahre Identität und zudem auch noch meinen tatsächlichen Aufenthaltsort unter die Nase gerieben hätte? Schon als ich das erste Mal mit den Damen im Hoheneck-Forum Kontakt aufnahm, erhielt ich auf einmal seltsame Mails. Ich wechselte sofort meinen Provider, stellte auf mobiles Internet um und änderte sogar meinen Email-Account, aber der Spuk hörte einfach nicht auf. Erst als ich den gesamten Internetverkehr über das Tor-Netzwerk abwickelte, stellte sich Ruhe ein. Ich sage euch, die dunkle Seite der Macht verfügt auch heute noch über Möglichkeiten, davon träumt ihr nur.«

Ich verstand wie üblich nur Bahnhof.

»Tor? Netz? Sind wir hier beim Fußball, oder was?«

»Tor nennt man ein System, mit dem man seine Identität im Internet verschleiern kann«, versuchte Lydia zu erklären. »Ich bin selbst Mitglied in diesem Netzwerk. In Zeiten von NSA und Prism kann ich das jedem empfehlen, der beim Surfen und Mailen wenigstens ein bisschen Privatsphäre gewahrt haben möchte.«

»Was heißt eigentlich 'dunkle Seite der Macht'?« ließ ich nicht locker. »Etwa die Stasi?«

»Sagen wir mal Leute, die früher für die Staatssicherheit gearbeitet haben und hohe Parteifunktionäre der ehemaligen Sozialistischen Einheitspartei. Inzwischen mitunter honorige Persönlichkeiten. Ein paar von denen haben einflussreiche Posten in Politik und Wirtschaft. Die unlängst verstorbene Erna Leinfeld, frühere Erna Kosinsky, soll bis zu ihrem Tod ja selbst solch einen 'Club der toten Dichter' finanziell unterstützt haben.«

 

»Gutes Stichwort, meine Liebe«, hakte Lena erneut nach. »Kurz bevor Erna Kosinsky alias Erna Leinfeld die Bühne betritt, tauchen auch Sie in Grafenstein auf. Kurze Zeit später liegt die Leinfeld tot im Hafen. Erschossen mit einer Neunmillimeter Parabellum. Frage eins: Besitzen Sie solch eine Waffe? Frage zwei: Wie gelangten Hautpartikel von Marianne Schäfer unter die Fingernägel von Erna Leinfeld, und was war drittens der Grund dafür, dass ihr beide überhaupt mit Frau Leinfeld aneinandergeraten seid? Eine liebevolle Umklammerung im Rausch der Begierde wird hierfür ja wohl kaum infrage kommen.«

Mist, durchzuckte es Cornelia. Von den Hautpartikeln unter Mariannes Fingernägeln erfuhr sie zum ersten Mal. Alle Achtung! Da hatten Spusi und Rechtsmedizin aber pottendicht gehalten. Langsam wurde ihr klar, dass sie sich auf nur noch hauchdünnem Eis bewegte. Die Einladung dieser Gräfin, sicherheitshalber auf deren Burg zu übernachten, hatte in Wirklichkeit nichts mit Nächstenliebe oder Sorge um ihr Leib und Leben zu tun. Die junge Anwältin wollte die Wahrheit aus ihr herauskitzeln. Die ganze Wahrheit. Ohne Wenn und Aber. Sie musste langsam zusehen, dass sie Land gewann. Lena ließ erwartungsgemäß nicht locker.

»Unmittelbar nach Ihrem Besuch auf dem Weingut der Brenners wird Erna Leinfeld mit derselben Waffe erschossen, mit der auch Dr. Kohn in Dessau umgelegt wurde. Kurz darauf wird die Wohnung von Marianne durchstöbert, und Hagen erhält Besuch von zwei Maskierten. Einer der Typen benutzte eine Ceska mit Schalldämpfer. Mit Sicherheit dieselbe Waffe, mit der man auch Sie, die Staatsanwältin und den Netterscheid beseitigen wollte. Bei einem zweiten Besuch auf dem Weingut gerieten Sie mit Gregor Weisz, einem ehemaligen Informellen Mitarbeiter der Staatssicherheit, aneinander. Noch in derselben Nacht stirbt Weisz durch die Einnahme von Pentobarbital. Zugegeben, könnten alles irgendwie auch dumme Zufälle sein. Ich bin Strafverteidigerin, meine Liebe. Ich weiß, wovon ich rede. Aber Sie können mir erzählen, was Sie wollen. Sie stecken in der Affäre mit drin und zwar bis Oberkante Unterlippe.«

Lena machte eine kurze Pause, während der sie Cornelia nicht für eine Sekunde aus den Augen ließ.

»Möchten Sie wissen, was ich vermute? Bei der ominösen Neunmillimeter Parabellum handelte es sich sehr wahrscheinlich um eine Hinterlassenschaft Ihres Vaters. Solche Knarren kann man schließlich schlechterdings im Nachtschränkchen aufbewahren, ohne dass es jemandem vom Pflegepersonal auffällt. Mit dieser Neunmillimeter haben Sie den Kohn und anschließend Erna Leinfeld abgeknallt, nachdem Sie erfahren mussten, was diese beiden Herrschaften seinerzeit mit Ihrer Mutter angestellt haben. Und die Kahlert haben Sie mit Sicherheit auch auf dem Gewissen.«

 

Cornelias Mundwinkel verzogen sich zu einem schwachen Grinsen. Respekt, kam der Wahrheit schon ziemlich nahe.

»Sie sind von Beruf Strafverteidigerin?« entgegnete sie stattdessen. »Warum sind Sie eigentlich nicht Staatsanwältin geworden?«

»Zuwenig Geld, schlechte Karriereaussichten.«

»Ganz meine Meinung. So, wie Sie kombinieren, wären Sie vermutlich in der Registratur gelandet. Ich soll Luise Kahlert umgebracht haben? Mit einem Auto am helllichten Tag praktisch vor ihrer eigenen Haustür? Ich frage Sie, was würde die Strafverteidigerin Lena zu solch einem Kokolores sagen? Im übrigen vergessen Sie Marianne. Ihr Vater besitzt dem Vernehmen nach eine eigene Jagd. Vielleicht befand sich bis dato in seiner Schusswaffensammlung auch eine Handfeuerwaffe vom Kaliber neun Millimeter, die inzwischen auf wundersame Weise verschwunden ist. Seine eigene Tochter wird er ja wohl kaum wegen Diebstahls anzeigen.«

»Ach, hören Sie mir doch auf«, fuhr Lena ihr in die Parade. »Das wird ja immer drolliger. Jetzt soll ausgerechnet Marianne eine mehrfache Mörderin sein?«

 

Wie ich auch das Gewicht verlagerte, mir tat der Arsch weh. So bequem waren die gräflichen Polstersessel nun auch wieder nicht. Alles uralter Plunder. Und das stimmte mich irgendwie verdrießlich. Ich wollte endlich nach Hause.

»So kommen wir nicht weiter, Leute. Das sind doch alles Hypothesen. Jetzt verrate ich euch mal, wie ich die Sache sehe. Cornelia, Marianne und Karl forschen, aus welchem Grund auch immer, den Anverwandten beziehungsweise Bekannten hinterher, die Mitte der Achtzigerjahre in der Haftanstalt Hoheneck einsaßen und dann seltsamerweise nichts mehr von sich haben hören und sehen lassen. Im Zuge ihrer Recherchen stoßen sie getrennt voneinander auf exakt denselben Kreis unbelehrbarer Hardliner, die seinerzeit in Stollberg ihr Unwesen trieben. Ich habe nicht den Eindruck, dass Cornelia, Marianne oder mein Onkel Schuld an dem gewaltsamen Ableben von Dr. Kohn, Luise Kahlert und Erna Leinfeld tragen. Nicht einmal am Tod von Gregor, obwohl Motiv und Gelegenheit hierbei eigentlich glasklar gegen meinen Onkel sprechen. Das ist übrigens ein gutes Beispiel, liebste Lena, wie man sich auch in etwas verrennen kann. Wie hätte beispielsweise Karl ahnen sollen, wo Gregor nach seinem übereilten Aufbruch die Nacht verbringt? Vielmehr spricht einiges für unsere beiden Moselhexen Helene Sommer und Gabi Dahrendorf. Helene hatte Motiv und Gelegenheit, denn Weisz wollte sie als Angestellte loswerden. Ihre Busenfreundin besaß zudem die Möglichkeit, problemlos an Pentobarbital heranzukommen. Gabis Vater ist Apotheker, und ein Verwandter arbeitet als Tierarzt in einem Schlachthof. Da staunt ihr, was? Tja, man muss nur mal ein fünfzehnjähriges Schulmädchen ausquetschen, nicht wahr, Lena?«

Sie warf mir einen vernichtenden Blick zu.

»Über die Motive deines Onkels habe ich bisher noch kein Wort verloren«, beschwerte sie sich. »Und nimm bitte den Mund nicht so voll. Julia hat ganz von alleine angefangen zu plaudern. Von wegen ausquetschen. Unter Umständen trifft ihr Verdacht aber auch gar nicht zu. Du als selbst ernannter Erziehungsspezialist weißt doch wohl selbst, was von dem Geschwätz pubertierender Schulmädchen zu halten ist.«

Ich schenkte ihr ein zuckersüßes Lächeln.

»Sollte ja auch nur ein Beispiel sein. Ich denke, durch das Recherchieren von Cornelia, Marianne und Karl im Dunstkreis von Leuten, die ohnehin einiges aus ihrer Vergangenheit zu verbergen haben, wurde eine Lawine in Gang gesetzt, die offenbar zum Schluss niemand mehr hat stoppen können. Fast alle Beteiligten waren Mitglieder der ehemaligen SED, ein Teil Mitarbeiter bei der Stasi und letztlich auch noch korrupt bis in die Knochen.«

»Du vergisst einen ausschlaggebenden Punkt, mein Lieber«, winkte Lena ab. »Bis auf deinen ehemaligen Freund Gregor Weisz gehörten alle übrigen Mordopfer zu dem Personenkreis, der in Hoheneck etwas zu sagen hatte. Ich bleibe dabei. Hier geht es um Schuld und Sühne. Um offene Rechnungen, die noch zu begleichen waren, obwohl vermutlich gegen keinen der Beteiligten überhaupt noch rechtlich hätte vorgegangen werden können. Im juristischen Sprachgebrauch nennt man sowas Selbstjustiz. Es mag sein, dass man Frau Sandhoff, Mariannes Mutter und wahrscheinlich auch Karls damaliger Freundin Schlimmes angetan hat, aber die einzelnen Straftaten, sofern sie denn überhaupt gerichtlich nachweisbar wären, sind nach meinem Dafürhalten längst verjährt. Hinzu kommt, dass die Rechtslage in der ehemaligen DDR...«

»Auf welcher Seite stehen Sie eigentlich?« fiel Cornelia ihr ins Wort. »Sie hätten meine Mutter sehen sollen. Sie war nur noch ein Schatten ihrer selbst und wusste vor lauter Schmerzen zuletzt kaum noch ein und aus, wie mir ihre Cousine glaubhaft versicherte. Wollen wir in unserer Gesellschaft sowas wirklich durchgehen lassen? Sollen all diese Typen, die sich in Zuchthäusern wie Bautzen, Hohenschönhausen oder eben Hoheneck wie Gott aufgeführt haben, einfach ungestraft davonkommen?«

»Glück für Sie, dass Frau Michels nicht mit in der Runde sitzt. Sie haben gerade ein lehrbuchreifes Motiv geliefert.«

»Ich habe gar nichts«, rief Cornelia. »Weder ich noch Marianne haben irgendwas mit dem Tod dieser Leute...«

 

Lena ging jedoch auf ihren Einwand nicht ein, sondern wandte sich an meinen Onkel.

»Über Sie und Ihre Freundin haben wir tatsächlich noch nicht sehr viel in Erfahrung bringen können. Wie war das eigentlich damals in Leipzig? Wie haben Sie und Ihre Freundin sich überhaupt kennengelernt, und was hat Sie dazu veranlasst, ihr die Flucht in den Westen zu ermöglichen?«

Was Karl daraufhin berichtete, klang zunächst wenig spektakulär. Die Beiden hatten sich irgendwann auf einer Messe kennengelernt. Karin war angeblich Hostess, und weil sie fließend englisch und russisch sprach, in erster Linie für die Betreuung fremdsprachiger Gäste verantwortlich. Da allerdings an besagtem Tag eine Kollegin ausgefallen war, erhielt sie den Auftrag, sich um einen gewissen Karl Brenner aus der BRD zu kümmern.

»Anders ausgedrückt«, meinte Lena, »sie hat sich an Sie herangemacht beziehungsweise heranmachen müssen.«

Karl nickte.

»Monate später gestand sie mir das auch ein. Als guter Beamter, der ich jedoch war, habe ich sofort meine Dienststelle informiert. Ich wurde ein paarmal vom Bundesnachrichtendienst verhört, da man mir aber kein Fehlverhalten nachweisen konnte, durfte ich auf meinem Dienstposten bleiben. Allerdings erhielt ich Einreiseverbot für die DDR.«

»Woran du dich aber anscheinend nicht gehalten hast«, grunzte ich.

»Richtig, mein Junge. Simpel ausgedrückt, ich hatte mich verliebt. Und zwar bis über beide Ohren. Du musst wissen, ich hatte damals einen ziemlich stressigen Job. Heute ging es mit einer Wirtschaftsdelegation nach Japan, morgen zu einem Ministertreffen nach Washington. Da blieb nicht viel Gelegenheit, jemanden kennenzulernen. Vor dreißig Jahren waren die Frauen bei uns noch nicht so emanzipiert wie heute. In aller Regel wollten die einen Typ, der abends um Fünf von der Arbeit nach Hause kam, ein Häuschen im Grünen baute und für einen Stall voll Kinder sorgte. Aber zurück zu Karin. Anlässlich meiner wenigen Besuche in Leipzig schlüpfte ich stets in die Rolle eines reichen Verwandten aus dem Westen, der sich im Osten lediglich die Sehenswürdigkeiten zeigen lassen wollte. Einer hat mir diese Geschichte anscheinend nicht abgenommen: Gregor Weisz. Als Karin schwanger wurde, beschloss ich, sie am Heiligabend 1983 in den Westen zu schleusen. Hierfür hatte ich ihr einen westdeutschen Pass besorgt. Hat mich damals ein Vermögen gekostet, aber das war es mir wert. Verraten wurde die Aktion jedoch durch ihren Nachbarn. Den Stasi-Unterlagen zufolge lauschte Weisz Nächte lang bei uns an der Wohnungstür. Ich habe Observierungsberichte von ihm gelesen, da fällt man vom Glauben ab. Der hat unter anderem minutiös festgehalten, von wann bis wann wir Sex hatten, welche Kosenamen wir uns dabei gaben und wie lange wir danach duschten. Widerlich!«

»Okay«, meinte Lena. »Die Flucht wurde also verraten. Was passierte anschließend?«

»Das Übliche. Nachdem man uns am Grenzübergang geschnappt hatte, wurden wir voneinander getrennt und einzeln vernommen. Das war übrigens das letzte Mal, dass ich Karin gesehen habe. Anschließend ging es für mich nach Bautzen, und sie kam nach Hoheneck, wie ich später erfuhr. Meine Haftzeit betrug vier Jahre. Anschließend wurde ich in den Westen abgeschoben und landete gleich wieder im Knast. Die feine Stasi hatte dem BND den Tipp gegeben, dass ich meine Freundin häufig in Leipzig besucht habe. Den gescheiterten Fluchtversuch und die falschen Papiere für Karin hätte man mir an oberster Stelle vielleicht noch verziehen, aber die Stasi drehte es schließlich so, als hätte ich versucht, für die da drüben zu spionieren. Na ja, auch bei uns im Westen waren die Leute zu dieser Zeit ein bisschen paranoid. Jedenfalls wurde ich auf Grund der Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes wegen angeblichem Geheimnisverrat angeklagt und erneut ins Gefängnis gesteckt. Im Gegensatz zum Aufenthalt in Bautzen fühlte sich diese Zeit jedoch wie ein Sommercamp bei den Pfadfindern an.«

»Und danach haben Sie versucht, Ihre Freundin ausfindig zu machen und als das nicht klappte, bei uns die Zelte abgebrochen?«

Karl nickte.

»Damals war ich ja noch gesund. Aber ich hatte keinen Job mehr, mein Geld war weitgehend aufgebraucht und auch mein Wagen längst unter dem Hammer gelandet. Also habe ich mich entweder mit dem Fahrrad oder zu Fuß aufgemacht. Ich kann euch sagen, das waren verdammt lange Touren. Nicht selten, dass ich auf freier Strecke irgendwo in einer Scheune kampieren musste. Aber es half alles nichts, ich konnte Karin nirgendwo ausfindig machen. Hinzu kam, dass man mir auch noch weis machen wollte, Karin habe sich kurz vor der Wende in ihrer Zelle das Leben genommen.«

»Warum sollte man Sie belogen haben?«

»Von einer Frau, die in Stollberg wohnte und deren Schwester selbst für ein paar Jahre in Hoheneck inhaftiert war, erfuhr ich hinter vorgehaltener Hand, kurz vor der Wende seien zahlreiche Republikflüchtlinge in psychiatrische Kliniken verlegt worden. Die wurden einfach als unzurechnungsfähig erklärt, damit ihre Aussagen später unglaubhaft erschienen. Dummerweise gab es solche Einrichtungen in der ehemaligen DDR zuhauf. Eine ganze Reihe davon habe ich abgeklappert, aber in die meisten ließ man noch nicht einmal bis zur Rezeption durch. Geschweige denn wollte irgend jemand je meine Freundin gesehen haben. Ich habe dann angefangen zu trinken, machte einen Entzug, verlor aber trotzdem mehr und mehr den Boden unter den Füßen. Kurz bevor ich drohte, restlos auf der Straße zu landen, brach ich wie gesagt bei uns die Zelte ab und verzog mich in den Süden. Den Rest kennt ihr ja.«

Lena kniff das rechte Auge zu.

»Kennen wir den wirklich?«

 

Karl ging auf ihre Bemerkung nicht ein.

»Ihr sprecht immer soviel von diesem 'Nannerl'. Soweit ich Cornelia richtig verstanden habe, soll das eine ehemalige Zellengenossin von Cornelias Mutter sein. Wie heißt die eigentlich mit richtigem Namen? Wo stammt die her?«

Cornelia zuckte die Schultern.

»Keine Ahnung. Meine Mutter hüllte sich diesbezüglich bis zuletzt in Schweigen, und da das 'Nannerl' selbst nicht spricht, konnte ich natürlich auch bei ihr nicht weiter nachhaken. Meine Verwandten im Allgäu wissen auch nichts Näheres. Ehrlich gesagt, es geht mich eigentlich auch nichts an.«

»Habt ihr ein Bild von der Frau?« wollte Karl wissen.

Lena nickte.

»Sophia hat mir ein paar von den Aufnahmen gemailt, die sie oben auf der Alm gemacht hat. Es sind auch zwei Photos von diesem 'Nannerl' dabei.«

Es dauerte nur einen Wimpernschlag, und auf dem Bildschirm ihres Smartphones erschien das Konterfei einer verhärmt wirkenden aber ansonsten ganz gesund dreinschauenden Alten. Die Sennerin von der Alm. Das 'Nannerl'.

Wir schauten uns das Foto eine Weile an. Karl begann sich zu räuspern. Als ich hochschaute, fiel mir auf, dass sein Gesicht aschfahl wirkte.

»Himmel, was ist los?« fragte ich und goss ihm rasch ein Glas Mineralwasser ein. »Hier trink. Du siehst ja aus, als wäre dir ein Gespenst begegnet.«

 

Wortlos zog mein Onkel ein arg zerknittertes und stark verblichenes Stück Papier aus seinem Ausweisetui hervor. Das Stück Papier entpuppte sich als uralter Fotoabzug. Es zeigte eine hübsche Frau von etwa Mitte Zwanzig, im Gesicht vielleicht ein bisschen pausbäckig, aber ansonsten sehr attraktiv. Der Frisur und der Kleidung nach zu urteilen, musste das Foto irgendwann in den Achtzigern entstanden sein. Ich hielt es zum Vergleich neben das Display des Smartphones. Leider reichte meine Phantasie nicht aus, mir die alte Frau in Kittelschürze und grobem Pullover dreißig Jahre jünger und im geblümten Sommerkleidchen vorzustellen. Dafür fiel es anscheinend Lena wie Schuppen von den Augen. Sie starrte Karl mit großen Augen an. Selbst Cornelia wirkte in diesem Moment mehr als verblüfft. Ich schaute noch einmal genauer hin.

»Nee, ne...?«

Gleichzeitig versuchte ich den dicken Kloß, der sich in meinem Hals bildete, hinunterzuschlucken. »Das glaub ich jetzt nicht.«

Inzwischen drängten sich Cornelia und Lydia um unsere Gastgeberin und starrten wie gebannt auf den winzigen Bildschirm.

»Ja, aber...«, stotterte ich weiter.»Das würde ja bedeuten,...«

Lena nickte.

»... dass unsere 'Nannerl' nicht nur die leibliche Mutter von Marianne sondern zudem auch noch die verschollen geglaubte Geliebte deines Onkels ist«, ergänzte sie meinen nur zögerlich erhobenen Verdacht. »Wenn ich das richtig sehe, deine Cousine zweiten Grades.«

Sie wirbelte herum und starrte Cornelia an.

»Und Sie haben davon nichts gewusst?«

Cornelia machte aus ihrer eigenen Bestürzung keinen Hehl.

»Woher sollte ich denn ahnen, dass Karl irgendwann mal mit diesem 'Nannerl' zusammen war. Damals in Bonn hat er mir das Bild von seiner Freundin nur ganz flüchtig gezeigt. Tut mir leid, mir ist die Ähnlichkeit wirklich nicht aufgefallen. Ich habe das 'Nannerl' ja schließlich auch bloß einmal zu Gesicht bekommen. Beim Besuch meiner Mutter kurz vor ihrem Tod auf der Alm. Zugegeben, ganz zum Schluss hatte ich schon so einen Verdacht, aber...«

»Verdacht«, schnaubte Lena. »Dass ich nicht lache. Marianne könnte vielleicht noch am Leben sein, wenn Karl und wir rechtzeitig...«

 

»Lassen Sie es gut sein«, wurde sie von meinem Onkel unterbrochen. Karl schien überraschend schnell seine Fassung wiedererlangt zu haben. »Anschuldigungen bringen uns nicht weiter. Die Frage, ob Marianne tatsächlich noch am Leben sein könnte, wenn wir rechtzeitig von ihrer wahren Identität erfahren hätten, ist eher philosophischer Natur. Was passiert ist, ist passiert. Daran kann niemand mehr etwas ändern.«

»Aber Marianne war vermutlich, nein, war ganz sicher Ihre leibliche Tochter.«

Karl zuckte die Schultern.

»Kann sein. Einen wirklichen Beweis würde wohl nur ein Genabgleich liefern.«

Lena wandte sich an die Chefin der Spurensicherung, die der ganzen Diskussion bisher eher schweigend gefolgt war.

»Sie haben doch bestimmt die Ergebnisse von diesem Gentest vorliegen. Heraus mit der Sprache! Gibt es entsprechende Übereinstimmungen?«

Lydias Miene verzog sich nicht den Hauch einer Spur.

»Ich darf Sie in diesem Zusammenhang an die Zeugenvernehmung vom vergangenen Sonntagabend im Rathaus erinnern? Ihre Worte klingen mir noch sehr deutlich in den Ohren. Sie gaben das Okay für die Abgabe einer Speichelprobe auf freiwilliger Basis nur unter der Voraussetzung, dass die Strafverfolgungsbehörden im Gegenzug versichern, die erhobenen Daten ausschließlich zur Aufklärung der Mordfälle und keinesfalls für die medizinische Forensik zu verwenden. Erst recht nicht für etwaige Vaterschaftsfeststellungen. Im übrigen liegt mir von diesem 'Nannerl' auch kein belastbares Material vor.«

»Ach, mauern Sie doch hier nicht herum«, maulte Lena. Es ärgerte sie tierisch, dass man sie hier und jetzt mit ihren eigenen Waffen schlug. Die Chefin der Trierer Spurensicherung schien eine durchaus ebenbürtige Gegnerin zu sein.

»Ich mauere nicht herum«, antwortete Lydia kühl. »Ich halte mich lediglich an Vorschriften und Weisungen.«

Lena brach in schallendes Gelächter aus.

»Was Sie nicht sagen, aber die Hauptzeugin in einem Mord- und Korruptionsverfahren schleusen Sie elegant am Zugriff der Staatsanwaltschaft vorbei. Ist das etwa die Trierer Variante von Loyalität?«

»Ich werde das mit Frau Michels unter vier Augen klären. Statt meine persönlichen Beweggründe zu ermitteln, die schlussendlich dazu geführt haben, wenigstens eine der Beteiligten vor einem mehrfach geplanten Mordanschlag zu bewahren, sollten wir uns vielleicht einmal auf etwas ganz anderes konzentrieren. Wir wissen zwar, was letztlich passiert ist, kennen aber immer noch nicht die kausalen Zusammenhänge. So würde mich beispielsweise brennend interessieren, warum Erna Leinfeld ihr sicheres Versteck in Belgien verließ, um sich ausgerechnet in Grafenstein mit zwei wildfremden Frauen zu treffen. Zum Bridge oder Canasta wird man sich ja wohl kaum verabredet haben.«

Erwartungsgemäß richteten sich vier Augenpaare erneut auf unsere Fünfte im Bunde. Cornelia seufzte. Genau das hatte sie eigentlich zu vermeiden gehofft. Dass man sie vor ein Tribunal stellte. Andererseits, diesen Hobbydetektiven würde sie eher etwas vormachen können als der Staatsanwaltschaft oder dem BKA. Zum Glück hatte diese Lena niemanden aus Netterscheids Team eingeladen. Leute aus Wiesbaden oder Meckenheim wären vermutlich nicht mit soviel Langmut in die Sache herangegangen.

 

»Ich persönlich gehe davon aus«, begann sie nach einer Weile, »dass Erna Leinfeld von Dr. Kohn erfuhr, dass jemand gezielt Nachforschungen über die damaligen Geschehnisse in Hoheneck anstellt. Aufgeschreckt vom überraschenden Ableben seines ansonsten unverwüstlichen ehemaligen Chefs in der Zentralen Gefängnisverwaltung, Oberst Lenz, geriet Dr. Kohn anscheinend in Panik und wandte sich an seine damalige Vertraute. Lenz hatte seinerzeit zahlreiche ärztliche Behandlungsfehler und unterlassene Hilfeleistungen gedeckt. Da lag der Verdacht auf der Hand, dass jemand das ganz große Fass aufmachen wollte. Und dem musste rechtzeitig ein Riegel vorgeschoben werden.«

 

Ob Erna Leinfeld eventuell von maßgeblicher Seite dazu aufgefordert wurde, Dr. Kohn, die Kahlert und anschließend vielleicht auch noch sie und Marianne aus dem Weg zu räumen, darauf wusste Cornelia allerdings keine Antwort. Viel sprach jedenfalls dafür, denn zu dem Treffen mit ihr und Marianne erschien Erna Leinfeld mit eben jener legendären Neunmillimeter Parabellum. Allerdings hatte die Sechzigjährige die Rechnung ohne die beiden durchtrainierten Frauen gemacht, von denen eine auch noch den braunen Gürtel in Jiu-Jitsu besaß. Ihren Schilderungen zufolge kam es zu einem Handgemenge, wobei Marianne ihre Gegnerin eigentlich nur überwältigen wollte, dabei sich jedoch versehentlich ein Schuss löste. Beide Frauen kamen überein, auf keinen Fall die Polizei zu verständigen, was schlussendlich nur unbequeme Fragen nach sich gezogen hätte, sondern den Leichnam in den Kofferraum von Mariannes Wagen zu packen und an geeigneter Stelle in die Mosel zu werfen. Leider geschah dies zu dicht am Eingang zum Yachthafen, gestand Cornelia zähneknirschend ein. Vermutlich hatte der Wellenschlag eines Berufsschiffs die Leiche der Frau genau dort an Land gespült.

»Was habt ihr mit der Waffe angestellt?« wollte Lydia wissen.

»Die habe ich in hohem Bogen in die Mosel geworfen.«

»Wer's glaubt«, murmelte ich halblaut vor mich hin.

»Was sollte dagegen sprechen?« begehrte Cornelia auf. Sie wirkte mit einem Mal ziemlich blass um die Nasenflügel. Ich war mir nicht sicher, ob ihr Unwohlsein von ihrer noch lange nicht verheilten Unfallverletzung herrührte oder auf unsere hochnotpeinliche Befragung zurückzufühen war.

»Jedenfalls ist die Waffe, soweit ich richtig informiert bin, anschließend nie mehr aufgetaucht«, fügte sie hinzu. »Und zwar im wahrsten Sinne des Wortes.«

»Na, schön, lassen wir das«, meldete sich Lena erneut zu Wort und musterte dabei abwechselnd Cornelia und meinen Onkel. »Mal was ganz anderes. Sie und Karl sind kurz nach Erna Leinfelds Tod Knall auf Fall für zwei Tage von der Bildfläche verschwunden. Wo habt ihr beiden Hübschen euch eigentlich die ganze Zeit herumgetrieben? Zum Turteln wart ihr doch bestimmt nicht unterwegs.«

Cornelia warf meinem Onkel einen fragenden Blick zu. Da der aber nur die Schultern zuckte, begann sie zu erzählen.

»Karl und ich sind gemeinsam nach Belgien gefahren. Mit dem Haustürschlüssel der Toten haben wir uns Zugang zu Erna Leinfelds Wohnung verschafft, fanden jedoch nichts, was auf ihre Dienstzeit in Hoheneck hindeutete. Überhaupt fehlten jedwede Devotionalien, mit denen ehemalige Stasi-Offiziere oder Grenzschutzbeamte sonst zuweilen ihre Wohnungen schmücken. Allerdings stießen wir auf eine Reihe Unterlagen irgendeiner ominösen Stiftung, die offenbar eine Menge Geld in Luxemburg angelegt hatte, um es von Zeit zu Zeit und am deutschen Fiskus vorbei an ihre Mitglieder zu verteilen. Die Namen sagten mir zwar nichts, aber ich beschloss, die Unterlagen sicherheitshalber mitzunehmen. Das war wohl letztlich auch der Grund dafür, dass bei Marianne eingebrochen wurde. Von dem Augenblick an wurde uns bewusst, dass es nicht mehr nur um unsere Mütter ging. Wir hatten unbewusst in ein ganz übles Wespennest gestochen.«

»Wo sind die Unterlagen jetzt«, fragte Lydia.

»Bei meinem Rechtsanwalt. Eigentlich hatte Marianne sie aufbewahren wollen, aber ich hielt das eher für unklug. Ich nahm sie deshalb heimlich wieder an mich. Mein Anwalt hat die Aufgabe, die Unterlagen unverzüglich an die Presse weiterzureichen, sollte mir etwas zustoßen. Ich möchte jedenfalls ganz sicher sein, dass anschließend niemand mehr etwas unter den Tisch kehren kann.«

 

Auf meine Frage, ob sie etwas mit Gregors Tod zu tun habe, meinte sie nur, sie und Karl hätten kurz vor dem besagten Abendessen Gregors Haustürschlösser verklebt in der Hoffung, ihn zu uns auf das Weingut locken zu können, was ja letztlich auch geklappt hatte. Dort wollte ihn Karl vor versammelter Mannschaft bloßstellen. Da geschah das Unvorhergesehene. Marianne erhielt einen mysteriösen Anruf der Polizei in Mayen. Angeblich habe es auf dem Hof ihrer Eltern ein Unglück gegeben, und sie sei die Einzige, die man habe erreichen können. Ein Fake, wie sich im Nachhinein herausstellte, seufzte Cornelia. Und sie beide waren auch noch voll darauf hereingefallen. Ein simpler Anruf auf dem Hof, und alles hätte sich als böser Scherz herausgestellt. Was den anschließenden Unfall betraf, konnte sie sich nur noch daran erinnern, von einem dunklen Geländewagen gerammt worden zu sein. Anschließend sei sie erst wieder im Marienhospital aufgewacht.

 

Plausibel schien es schon, was Cornelia da erzählte. Obwohl, so ganz sicher war ich mir nicht, dass wir an diesem Abend auch tatsächlich die ganze Wahrheit erfuhren. Aber was ging das eigentlich uns an? Sollten sich doch Kripo, Staatsanwaltschaft und BKA um die noch offenen Fragen kümmern. Wofür wurde die Staatsmacht schließlich teuer bezahlt. In Wiesbaden und Meckenheim besaß man wenigstens schusssichere Westen. Na ja, nicht immer, aber immer öfter. Eine Zeitlang hingen wir stumm unseren Gedanken nach. Irgendwann erhob sich Lydia.

»Seid mir nicht böse, aber ich bin jetzt leidlich müde. Ich denke, nach all den Anstrengungen der vergangenen Tage sollte sich auch Cornelia langsam wieder ausruhen.«

»Da sagst du was«, erwiderte die Vierzigjährige.

Ein Lächeln huschte über Lydias Mundwinkel. »Ich könnte mir jedoch vorstellen, dass Sie vielleicht das eine oder andere auch lieber in kleinerer Runde besprechen möchten.«

»Was Sie bloß schon wieder von uns denken«, rutschte mir unvorsichtigerweise heraus. Lenas scharfer Blick folgte auf dem Fuße.

»Ist schon okay«, meinte Lydia. »Wir werden ja sehen, ob ich mich geirrt habe.«

Als wir nur noch zu viert in der Runde hockten, meinte Cornelia: »Okay, Leute, aber macht es kurz. Ich bin jetzt doch ein bisschen groggy, und das ist wirklich keine blöde Ausrede.«

»Nur eine Frage«, erwiderte Lena. »Was haben Sie anschließend vor? Werden Sie sich der Polizei stellen?«

Cornelia schüttelte den Kopf.

»Wieso das denn? Ich habe doch nichts verbrochen, und ein Haftbefehl liegt auch nicht gegen mich vor.«

»Sagen wir mal so«, versuchte Lena ihren Optimismus zu zerstreuen. »Lägen Sie jetzt immer noch im Trierer Marienhospital, würde man Sie bestimmt nicht so ohne weites Ihres Weges ziehen lassen. Ich denke, dass Frau Michels...«

»Die liegt selbst im Krankenhaus«, wurde sie von Cornelia unterbrochen. »Netterscheid auch. Wie gesagt, wo kein Kläger, da kein Richter.«

»Genießen Sie den Aufenthalt«, antwortete Lena kühl.

Cornelia verstand und erhob sich von ihrem Sessel. Das war kein Gute-Nacht-Gruß, das sollte ein Lebewohl sein. Morgen in aller Herrgottsfrühe würde sie ein Taxi rufen und die Gegend auf dem schnellsten Wege verlassen. Lena hatte schon irgendwie recht. Möglicherweise war die ansonsten verfassungsmäßig garantierte Freizügigkeit schon morgen Vormittag qua richterliche Anordnung erheblich eingeschränkt. Verständlich, dass die Gräfin keinesfalls in Verdacht geraten wollte, jemandem, der tagelang unter falschem Namen sämtliche Ermittlungsbehörden zum Narren halten konnte, womöglich Unterschlupf gewährt zu haben.

 

»Wie sehen denn jetzt eigentlich deine Zukunftspläne aus?« wollte ich von meinem Onkel wissen.

Karl lächelte.

»Nun, ich werde einen kurzen Abstecher nach Tirol machen. Lena ist so nett und stellt mir ab Frankfurt den firmeneigenen Helikopter zur Verfügung. Mit dem Volvo wäre es etwas beschwerlich zu der Berghütte zu gelangen. Warum fragst du? Möchtest du mich begleiten?«

Ich schüttelte den Kopf.

»Nein, danke. So lohnenswert ist diese gottverlassene Alm nun auch wieder nicht. Wirst du länger in Österreich bleiben?«

Karl schüttelte den Kopf.

»Eher nicht. Eigentlich möchte ich mich nur mit eigenen Augen davon überzeugen, dass Karin noch lebt. Weißt du, mein Junge, die Sache ist dreißig Jahre her. Ich bin in Südfrankreich glücklich verheiratet. Wäre Weisz nicht in Arles aufgetaucht, würde ich vermutlich keinen einzigen Gedanken mehr an die damaligen Geschichten verschwenden. Die ganze Recherche, mit der ich mich die vergangenen Wochen und Monate beschäftigt habe, war letztlich sowieso reiner Selbstzweck. Im übrigen wollte ich auch nochmal das Rheinland sehen. Ich bedaure auch nicht, dass ich Mariannes Beerdigung fernbleiben werde. Aber lange Grabreden mit dem anschließenden Kondolenzzirkus sind eh nicht mein Ding. Nein, lassen wir es so, wie es ist. Im übrigen denke ich, dass du in den kommenden Tagen ohnehin einiges aufzuarbeiten hast.«

»Ich werde was?« fragte ich verblüfft.

Mein Onkel ging auf meine Frage nicht weiter ein. Daher ergriff Lena noch einmal das Wort.

»Dann frage ich mich wirklich, was Sie überhaupt nach Grafenstein verschlagen hat. Sie behaupten, die ganze Angelegenheit ginge Sie eigentlich gar nichts mehr an, aber diesen Gregor Weisz wollten Sie nach dreißig Jahren trotzdem noch einmal zur Rede stellen.«

Karl nickte.

»In diesem Punkt stimme ich mit Cornelia überein. Es gibt Dinge, die sollte man nicht einfach auf sich beruhen lassen. Auch nach dreißig Jahren nicht. Während man bei euch neunzigjährige Tattergreise, die in irgendeinem Konzentrationslager mal in der Schreibstube eingesetzt waren, vor den Kadi zerrt, um Ihnen tausendfachen Mord in die Schuhe zu schieben, damit Deutschland vor der Weltöffentlichkeit endlich mal wieder gut dasteht, schaut ihr bei Ex-Stasimitarbeitern, Grenzbeamten, die selbst noch kurz vor der Wende dem Schießbefehl kommentarlos nachgekommen sind und dem Aufsichtspersonal in den DDR-Haftanstalten nonchalant beiseite. Wohin diese Unbekümmertheit führt, haben uns die vergangenen Tage ja wohl mehr als deutlich vor Augen geführt. Ihr Deutsche müsst sehen, wie ihr mit eurer Vergangenheit endlich klarkommt.«

»Ihr Deutsche?« schüttelte Lena den Kopf. »Sie tun ja gerade so, als ob...«

»Unmittelbar nach meiner Heirat«, wurde sie von Karl unterbrochen, »habe ich die französische Staatsangehörigkeit angenommen. Ich habe diesen Schritt nie bereut. Der französische Staat, die französische Gesellschaft haben mir Chancen geboten, die sich so für mich in Deutschland nie ergeben hätten. Bei euch gelte ich übrigens immer noch als vorbestraft. Wegen etwas, was ich nie getan habe. Kurz nach der Wende versuchte ich ein Wiederaufnahmeverfahren des damaligen Strafprozesses zu beantragen. Es wurde vom zuständigen Gericht schlichtweg abgelehnt. Mir kommt es so vor, als hätte man gar kein Interesse daran, die Wahrheit zu erfahren. Vielleicht liegt es auch daran, dass man meinen ehemaligen Abteilungsleiter im Wirtschaftsministerium, heute übrigens hoher Parteifunktionär bei den Linken, nicht in die Bredouille bringen wollte. Also, ich könnte euch da Dinge erzählen...«

 

Als ich eine knappe Stunde später mit den Volvo das Weingut erreichte, deutete nichts darauf hin, was sich in den vergangenen Tagen in Grafenstein und erst recht bei mir daheim abgespielt hatte. Ich parkte die alte Karre in der Garage, warf wie üblich bloß die Fahrertür zu und machte mich auf den Weg ins Wohnhaus. Etwas brummelig, weil mir mein Hintern vom vielen Sitzen oben auf der Burg und erst recht in dem durchgesessenen und auch noch ständig beheizten Fahrersitz wehtat, schloss ich die Eingangstür auf und machte Licht. Endlich daheim! Trotzdem sperrte ich hinter mir sorgfältig ab. Zwar war dieser schießwütige Motorradfreak inzwischen ausgeschaltet, doch man konnte ja nie wissen. Erschöpft taperte ich in die Küche, goss mir drei Finger breit Trester ein und legte ein dickes Kissen auf einen der Sessel. Wenigstens der Blick in den Kühlschrank konnte einen erheitern. Karl hatte mir offenbar zum Schluss nochmal die Vorräte ordentlich aufgefrischt. Zumindest die nächsten beiden Tage, und sofern Lanzerath nicht bei mir auftauchte vielleicht sogar bis zum Wochenende, würde ich schon irgendwie klarkommen.

Als ich die Treppe zu meinem Schlafzimmer hinaufstolperte, bemerkte ich einen seltsamen Geruch. Es roch dezent nach Lavendel und einem Hauch Flieder. Vom Kochen konnte der Duft nicht herrühren. Schulterzuckend warf ich meine Klamotten in die nächste Ecke und war Minuten später auch schon eingeschlafen.

 

 

~~~~~~~~~~~

 

 

Im tristen Grau des Morgens erreichten sie erneut das Moseltal. Auf der Autobahn war es leidlich ruhig, so kam Steinhöfel in seinem Großraumtaxi gut voran. Cornelia Bergman ließ den Blick über die Sauertalbrücke schweifen, die das gleichnamige Flüsschen überspannte und gleichzeitig Deutschland mit dem Großherzogtum Luxemburg verband. Sie wollte für ein paar Tage in eine Privatklinik auf dem Kirchberg, um sich dort richtig auszukurieren. Mit den zahlreichen Schrammen und Narben, die ihr Körper aufwies, hätte sie beim Einchecken an einem deutschen Flughafen bloß schlafende Hunde geweckt. Im übrigen war nicht auszuschließen, dass sie längst von Staatsanwaltschaft und BKA gesucht wurde.

Die große Tankstelle bei Wasserbillig tauchte vor ihnen auf.

»Ich fahr' mal gerade rechts ran zum tanken«, grinste Steinhöfel und lenkte sein Taxi gleichzeitig auf die Abbiegespur.

Die sechs Gassen mit den zahlreichen Zapfanlagen, an denen sich halb Trier und Umgebung allwöchentlich mit billigem Sprit versorgte, waren heute nahezu verwaist. So dauerte es auch nur wenige Minuten, ehe sie weiterkamen.

»Sie haben doch nichts dagegen, wenn ich mir gerade noch ein paar Stangen Zigaretten kaufe? Ich schalte auch den Taxameter aus.«

Ohne ihren Einwand abzuwarten, bugsierte er die Großraumlimousine in eine der Parklücken vor dem Schnellimbissrestaurant und verschwand durch die Glastüren.

»Hoffentlich macht der rasch«, murmelte Cornelia halblaut vor sich hin. »Wenigstens die Klimaanlage hätte er angeschaltet lassen können.

Doch Cornelia Bergmann blieb ohnehin nicht viel Zeit zum Frösteln. Sie hatte gerade für ein paar Sekunden die Augen geschlossen, als sie draußen das Radieren von Reifen vernahm. Neugierig blickte die junge Frau auf. Neben dem Taxi war ein dunkler Kastenwagen zum Stehen gekommen. Alles ging so schnell, dass sie nicht einmal dazu kam, die Türen zu verriegeln. Zwei Männer in dunklen Kombis und Sturmhauben rissen den hinteren Schlag auf und zerrten sie vom Rücksitz. Wie von Geisterhand schwang die Schiebetür des Kastenwagens zur Seite. Sekunden später lag sie auf dem Boden. Sie versuchte zu schreien, doch jemand hielt ihr Nase und Mund zu. Alles was sie noch spürte war ein Einstich in den Oberschenkel, dem ein dumpfer Schmerz folgte. Dann wurde es Nacht um sie.

Ihre Leiche wurde nie gefunden.

 

 

 

 

Kapitel 24

 

 

Donnerstag

 

Als ich anderntags in aller Herrgottsfrühe ins Bad taperte und laut gähnend nach dem Duschkopf grabbelte, vernahm ich aus den unteren Gefilden emsiges Geschirrgeklappere. Nanu, dachte ich noch bei mir. Karl wird vor seiner Abreise doch wohl nicht eigens noch einmal zu uns heraufgefahren sein, nur um mir und meiner verfressenen Truppe das Frühstück zuzubereiten. Als ich anschließend die Treppe hinunterstieg, drangen aus der nur angelehnten Küchentür Sprachfetzen. Jemand hatte das Radio eingeschaltet und hörte offenbar einen französischen Musiksender. Ich dachte nach. Lanzerath, den ich zuerst in Verdacht hatte, konnte es eigentlich nicht sein. Der sprach kaum fehlerfrei Englisch. Mein Vorarbeiter und der Schruntz standen auch eher auf den örtlichen Kanal.

»Was zum Teufel...« wurde ich gerade noch los, als mich beim Betreten der Küche mal wieder der Donner rührte.

Der Küchentisch war genau wie schon seit ein paar Tagen geradezu fürstlich gedeckt. Bloß stand diesmal kein älterer Herr mit weißgrauem Pferdeschwanz am Herd. Stattdessen wuselte dort eine kaum zwanzigjährige schwarzhaarige Schönheit hin und her. Als sie mich hereinkommen sah, blickte sie nur kurz auf und deutete auf meinen angestammten Sitzplatz. Robespierre lag ausgestreckt in einer Ecke und rührte sich nicht von der Stelle. Ein Wunder, wo ich doch praktisch ladenneue Jeans trug. Scheiße, dachte ich bei mir. Hatte der Alte seinen Köter zum Schluss doch noch bei mir in Pension gelassen.

»Bonjour, mon ami. Tu es tard.«

Hätte es einen Preis für das fassungsloseste Gesicht gegeben, ich wäre hundertprozentig als Sieger aus dem Rennen gegangen.

»Mal langsam, junge Frau«, schnaubte ich drauflos. »Was heißt hier 'bonjour' und ich sei angeblich spät dran? Ich stehe auf, wann mir es passt. So sind die Regeln. Aber mal was anderes. Wer sind Sie, und was machen Sie hier überhaupt?«

»Je suis Isabelle, mon ami«, meinte sie unbeeindruckt. »Mais s'asseoir, sil vous plait. Les œufs brouillés sont froids.«

»Kannst du auch was anderes als Französisch? Und nenn mich gefälligst nicht andauernd 'mon ami'. Ich könnte bequem dein Vater sein. Also, wo kommst du her, und was willst du?«

»Wie schon gesagt«, parlierte sie auf einmal in beinahe akzentfreiem Deutsch. »Ich bin Isabelle. Und ich bin 'ier, um eine Praktikum zu absolvieren.«

Der nächste Preis folgte. Für nicht gespielte Fassungslosigkeit.

»Was willst du hier bitte machen?«

Das Mädchen namens Isabelle trat an meinen Platz und schaufelte mir eine Holzfällerportion auf den Teller. Gelangweilt verzog sie das Gesicht.

»Eine Praktikum. 'örst du neuerdings schlecht?«

»Wer hat das bestimmt.«

»Na, meine Vater.«

Ich sollte überhaupt keine Kinokarten mehr lösen. Ich saß anschließend sowieso immer in der falschen Vorstellung. So wie hier. Oder 'ier, wie der Franzose sagt.

»Dein Vater?«

Etwa eine nichteheliche Tochter von Tuttifrutti? Na, das Gesicht von Julia wollte ich sehen, wenn herauskam, dass sie nur noch die Nummer zwei in der Erbrangfolge war.

»Sur.«

Unwillkürlich ließ ich mich in meinen Stammsessel plumpsen. Versehentlich natürlich auf die rechte Pobacke. Mein Schmerzensschrei ließ auch Isabelle zusammenzucken. Robespierre hob den Kopf, blinzelte kurz durch seine struppigen Augenbrauen und legte sich wieder lang.

»Tut es immer noch so weh?« fragte sie. Ich war mir jedoch nicht sicher, ob das Einfühlsame in ihrer Stimme echt war, oder ob sie mich bloß verarschen wollte. Im wahrsten Sinne des Wortes.

»Meine 'eld«, fügte sie lächelnd hinzu, beugte sich zu mir hinab und hauchte mir tatsächlich einen zarten Kuß auf die Stirn. Ich roch Lavendel und einen Hauch Flieder. Oh, Himmel! Hatte die Kleine, ohne dass ich etwas davon ahnte, etwa bei mir im Gästezimmer übernachtet? Na, ein Glück, dass wir nicht beide gleichzeitig auf die Idee kamen, das Bad zu benutzen. Das wäre vielleicht ein Gekreische und Gequietsche geworden. Fremdsprachiger Teenager trifft nackten Mann mit Mullpflaster quer über den Hintern. Ich mochte mir die Schlagzeile im Grafensteiner Tageblatt gar nicht ausmalen.

»Du hast meine Frage noch nicht beantwortet.«

»Welche?«

»Wer du wirklich bist, woher du stammst und was du hier willst.«

»Das sind aber drei Fragen auf einemal«, beschwerte sie sich und nahm wie selbstverständlich neben mir Platz. »Aber jetzt fange bitte an. Es wird ja alles kalt.«

Stirnrunzelnd nahm ich ein Croissant und steckte es mir mit ein bisschen Marmelade in den Mund. Absolut göttlich! Das schmeckte ja überirdisch. Ob die Kleine diese Hörnchen etwa selbst backte? Karl konnte das mindestens ebenso gut. Moment mal. War das etwa die französische Anhalterin, die ich letztens an der Strippe hatte?

»Bist du die französische Anhalterin, die ich...?«

»An'alterin?« fragte das Mädchen verblüfft.

»Na, die Stimme, die ich letztens am Telefon hatte, bevor mein Onkel an den Apparat ging.«

Das Mädchen Isabelle schaute mich an, als hätte ich nicht mehr alle im Regal.

»Deine Onkel?«

»Na, Karl. Der Mann im Volvo. Etwa fünfundsiebzig Jahre alt, einsachtzig groß, Pferdeschwanz. Du erinnerst dich?«

Isabelle nahm ihre Tasse, goss sich halb Kaffee, halb Milch hinein und gönnte sich einen kräftigen Schluck.

»Ach so. Du meinst Charles. Aber das ist doch nicht deine Onkel.«

Jetzt wurde ich doch ein wenig ungeduldig.

»Was du nicht sagst. Und was ist er dann deines Erachtens.«

Isabelle lachte schallend auf und zeigte mir zwei Reihen herrlicher schneeweißer Zähne.

»Nun sag bloß, er 'at sich nicht getraut, dir die ganze Wa'reit zu sagen. Das ist ja wieder mal typisch. Bei uns auf die Landgut drückt er sich auch immer um unangenehme Entscheidungen. Er meint, dass sich das Meiste auf die Welt auch so von selbst regelt. In Wirklichkeit organisiert dann alles Maman für ihn.«

»Ich versteh’ kein Wort«, knurrte ich.

Egal, das Croissant war jedenfalls erste Sahne. Falls die Kleine von daheim abgehauen war und einen Job suchte, als Kaltmamsell war die jedenfalls eingestellt. Die schnappte mir Ballensiefen jedenfalls nicht vor der Nase weg.

»Was heißt hier überhaupt 'Landgut'?«

»Na, unsere Rinderzucht in die Camargue.«

»Eure Rinderfarm? Aber da hat er doch nur als Koch gearbeitet. Hat er jedenfalls behauptet.«

Die junge Französin warf den Kopf in den Nacken und wieherte förmlich vor Vergnügen.

»'at er das erzählt? Der Patron? Das sieht ihm ähnlich. Der alte Tiefstapler. 'ör mal, mon ami, Charles kann zwar kochen, aber er ist nebenbei auch die Chef von die Betrieb.«

Es folgte der Oscar für das dämlichste Gesicht.

»Mal ganz langsam zum Mitschreiben. Du willst damit also andeuten...«

»Charles Brenner, meine Vater, ge'ört eine die größte Farmen in die Camargue. Okay, Maman hat die Landgut mit in die E'e gebracht, aber die Rinderzucht hat meine Vater aufgebaut. Wir produzieren jährlich tausende Tonnen Fleisch und exportieren bis nach Südostasien. Ich weiß nicht, was er dir da wieder einmal für eine abenteuerliche Geschichte aufgetischt hat, aber...«

Mit einer energischen Geste ließ ich mein Besteck auf den Teller fallen. Perfekt gebackenes Croissant hin oder her, jetzt hatte ich langsam die Schnauze voll.

»Was meinst du eigentlich damit, Charles, äh, ich meine Karl, wäre nicht mein Onkel. Ich bitte dich, ich kenne den Mann praktisch seit meiner Geburt. Der ging bei uns daheim ein und aus.«

»Charles ist deine Vater«, entgegnete sie nicht ohne Stolz in der Stimme. »Er 'atte wohl kurz nach seine Berufsausbildung ein kurze und 'eftige Affäre mit eine junge Winzerin aus die Umgebung, wie er mir an meinem achtzehnten Geburtstag eingestand. Die allerdings 'at ihm ausgerechnet seine eigene Bruder ausgespannt. Oder er 'at sie sich von ihm ausspannen lassen. Ge'eiratet

'at er Maman vor knapp zwanzig Ja'ren. Ich bin also deine 'albschwester. So sagt man doch in Deutschland, oder?«

 

Mir kam eine Idee. Ich riss mein Handy aus der Hosentasche und wählte eine Nummer in Trier. Der Anschluss der Spurensicherung. Den hatte ich nach der Affäre mit der unregistrierten Walther sicherheitshalber eingespeichert. Na ja, nicht nur deshalb. Aber ich konnte damals ja noch nicht wissen...

»Hallo, Frau Sartorius. Ich bin's, Hagen Brenner. Sie erinnern sich? Hören Sie, ich habe hier ein Problem. Bei mir auf dem Weingut ist eine junge Dame aufgetaucht, die behauptet, die Tochter von Karl Brenner zu sein. Und das ist längst nicht alles. Sie versucht mir weis zu machen, Karl Brenner sei gar nicht mein Onkel, er sei vielmehr mein Vater. Sie haben doch einen Genabgleich vorgenommen. Können Sie mir da freundlicherweise auf die Sprünge helfen?«

Erwartungsgemäß blieb es für einen Augenblick stumm in der Leitung. Offenbar musste die schöne Lydia selbst erst einmal diese Überraschung verdauen. Ihre Antwort jedoch verblüffte mich.

»Augenblick, Herr Brenner. Ich rufe Sie gleich zurück.«

Es dauerte eine Weile, ehe sie zurückrief. Währenddessen ließ ich die junge Französin für keine Sekunde aus den Augen. Isabelle verfolgte mein Tun jedoch mit entspannter Gelassenheit. Als der Rückruf auf meinem Handy erfolgte, sah ich auf dem Display, dass die Rufnumer unterdrückt war. Meine Güte, dachte ich noch bei mir. Macht die das vielleicht spannend. Gleichzeitig beschlich mich ein mulmiges Gefühl.

»Tja, Herr Brenner, was soll ich sagen. Sie wissen doch, dass ich das von den Betroffenen abgenommene Genmaterial nicht für weitere forensische Zwecke benutzen darf. Erst recht nicht für einen Vaterschaftstest. So sind die Regeln. Ich denke, im umgekehrten Fall hätten Sie und Karl Brenner der Speichelprobe mit Sicherheit nicht zugestimmt. Aber...«

Sie legte eine kurze Pause ein. Isabelle grinste. Ich hätte sie so übers Knie legen können.

»Nun, Herr Brenner senior hat tatsächlich eine Tochter. Die müsste so um die achtzehn, neunzehn Jahre alt sein, wenn ich mich an die Ermittlungsunterlagen recht erinnere. Ich rate Ihnen, lassen Sie sich von der jungen Dame den Ausweis zeigen. Am besten den Führerschein. Und sollte dort Isabelle Brenner stehen, dann dürfen Sie durchaus davon ausgehen, mit ihr verwandt zu sein.«

»Das beantwortet aber nicht meine andere Frage.«

Erneut blieb es für kurze Zeit stumm in der Leitung.

»Machen Sie es mir doch nicht so schwer«, meinte sie anschließend. »Ich kann mir schon vorstellen, in welcher Bredouille Sie im Augenblick stecken. Das ist aber auch kompliziert bei euch Weinbauern. Sagen wir mal so: Ich an Ihrer Stelle würde Isabelle Brenner herzlich in die Arme schließen. Weitere Interpretationen überlasse ich Ihrer Phantasie. Mehr kann und darf ich Ihnen nicht sagen.«

 

Als in diesem Moment Lanzerath in die Küche stürmte, um sich wie neuerdings üblich bei mir den Bauch vollzuschlagen und dabei die neuesten News brühwarm zu erfahren, stieß er auf einen ziemlich schweigsamen Mittvierziger, der mit sonderlichem Gesichtsausdruck abwechselnd auf eine attraktive junge Südfranzösin und sein angeknabbertes Croissant starrte.

 

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Der Himmel zeigte sich immer noch schiefergrau, aber wenigstens hatte es aufgehört zu regnen. Das Wetter passte so richtig zu unserer Stimmung. Lena hatte sich zu meiner Rechten eingehakt, mit der linken Hand stützte sie sich auf eine Krücke mit Teleskop-Mechanismus ab. Wenigstens ein Trost, denn ihr MS-Schub ebbte wohl langsam ab. Zu meiner Linken trat Miss Sophie ungeduldig von einem Bein auf das andere. Vermutlich trauerte sie einer verpassten Pokerrunde in Internet hinterher. Isabelle hatte sich glücklicherweise bereit erklärt, bei mir daheim die Stellung zu halten. Anders wäre nämlich schlecht gewesen. Ach nee, der Brenner hat 'ne Praktikantin. So wie im Oval Office, oder wie?

Ballensiefen und Julia standen ein wenig abseits. Es war ihm nicht gelungen, seine Tochter in ein schwarzes Kleid zu zwängen. So blieb ihm nichts anderes übrig, als den pubertierenden Mailänder Kleiderständer mit seiner massigen Gestalt wenigstens halbwegs vor den missbilligenden Blicken der übrigen Trauergesellschaft abzuschotten. Es gelang ihm nicht wirklich.

Nur unser Leichenfledderer schien naturgemäß so richtig in seinem Element. Lanzerath warf noch einmal einen prüfenden Blick in das rund zwei mal einen Meter breite Loch, das zu beiden Seiten mit grünem Kunstrasen ausgekleidet war, und gab den Anderen ein unauffälliges Zeichen. Gleichzeitig setzte die Kapelle ein. Ich kam mir vor wie auf der Titanic. Bloß ohne Eisberg.

Ballensiefen, Caddy und ich traten vor und packten gemeinsam mit Lanzerath die Leinen, die vor uns auf dem Boden lagen. Als die Kapelle eine bestimmte Strophe erreichte, hoben wir an. Unwillkürlich warf ich einen Blick auf den Sarg. Typisch Lanzerath. Hatte bestimmt wieder das schwerste Teil aus seiner Kollektion ausgesucht. Eiche, weiche Seite oben. Herr im Himmel, wer dachte eigentlich mal an meinen Rücken?

Langsam sank das Teil nach unten. Im Hintergrund ertönte Lady Gaga. Lanzerath warf Ballensiefen einen missbilligenden Blick zu. Julia errötete und drückte das Gespräch hastig weg, bevor ihr vom Pfarrer eine besondere Form der Absolution erteilt werden konnte. Am Friedhofseingang stand schon seit Jahren ein Schild mit einem unverkennbar rot durchgestrichenen Mobilfunktelefon. Offenbar galt sowas jedoch nicht für fünfzehnjährige Realschülerinnen

Es folgte tatsächlich der übliche Kondolenz-Zirkus, den Karl so verabscheute. Unwillkürlich fiel mir der Köter ein, der bei mir daheim auf meine Rückkehr wartete. Wenigstens schienen Robespierre und Isabelle ein Herz und eine Seele. So brav wie bei ihr hatte ich den Köter bisher noch nicht erlebt. Ich drehte mich auf dem Absatz um und ging auf Lena zu.

»Bist du bereit?« fragte ich.

»Wenn du es bist«, murmelte sie und hakte sich bei mir unter.

 

Sophia folgte uns mit raschen Schritten. Im Sommer wurde sie achtzig, und eigentlich ging sie schon seit Jahren nur noch unter vorgehaltener Waffe auf Beerdigungen. Vermutlich lechzte sie nach einem ordentlichen Grafensteiner Frühstück mit ordentlich Trester im Glas. Zum eigentlichen Totenschmaus sollte es Ballensiefens legendären Hirschbraten geben. Lanzerath lief schon seit dem frühen Morgen buchstäblich das Wasser im Mund zusammen. Der musste jetzt, da Karl Knall auf Fall abgereist war, sowieso notgedrungen seine Essgewohnheiten umstellen. Doch dafür würde schon Susanne sorgen, die ihre Rückkehr ausgerechnet für den Nachmittag angekündigt hatte. Starköchin Susi hielt sich nämlich für eine Spitzenköchin. Woher sie allerdings ihr kulinarisches Selbstbewusstsein nahm, war nicht nur mir ein Rätsel. Ihre verbrannten Eierpfannkuchen waren bei uns in Grafenstein legendär. Letztens hatte ein besorgter Passant sogar die freiwillige Feuerwehr gerufen, weil ihm der Qualm aus Lanzeraths Küche verdächtig vorkam.

Eine Viertelstunde später parkte unsere Fahrzeugflotte auf dem Yachthafengelände, und wir stiegen aus. Endlich kam bei Tuttifrutti mal wieder Leben in die Bude, nachdem es in letzter Zeit in seinem Restaurant eher ruhig zugegangen war. Auch bei der Trauergesellschaft schlug die Stimmung angesichts der Aussicht auf Hirschbraten mehr und mehr in den grünen Bereich um. Jedenfalls fielen die Gespräche nicht mehr ganz so einsilbig aus, und es beschwerte sich auch niemand mehr, wenn Julias Smartphone hin und wieder jaulende Töne von sich gab.

 

Doro Breitner hatte Stefanie Michels auf Netterscheids Wunsch hin noch ein paar Insiderinformationen zukommen lassen, wie ich durch Lena erfuhr. Demnach soll dieser Koslowsky im Auftrag der sogenannten Trierer Zelle, wie man die Beteiligten der Korruptionsaffäre inzwischen nannte, Luise Kahlert aus dem Weg geräumt haben, weil sie angeblich Schweigegeld verlangte. Erna Leinfeld wiederum stand im Verdacht, Dr. Kohn beseitigt zu haben. Intensive Recherchen der Polizei in Dessau ergaben im Nachhinein, dass sie kurz vor seinem Tod in dessen Praxis aufgetaucht war. Jedenfalls konnten sich die Sprechstundenhilfen an eine Frau erinnern, die Sächsisch mit französischem Akzent sprach. Tags darauf fanden sie ihn leblos in seinem Schreibtischsessel. Von der getürmten Oberstaatsanwältin fehlte bisher noch jede Spur. Inzwischen war es kein Geheimnis mehr, dass sich meine ehemalige Chefin mit einem Koffer voll Bargeld auf den Balkan abgesetzt hatte.

 

Nicht nur auf Stefanie Michels, auch auf Lena würde in den kommenden Wochen noch eine Menge Arbeit zukommen, denn ihre Kanzlei hatte sowohl die Verteidigung von Melanie Balfelder als auch von Helene Sommer übernommen, die, wie wir zurecht vermuteten, nicht nur für die kompromittierenden Fotos auf dem Schulrechner verantwortlich war, sondern auch Gregors Tod zu verantworten hatte. Lena ließ ganz am Rande durchblicken, dass es sich womöglich um eine Beziehungstat gehandelt haben könnte. Angeblich hatte sich Helene vor geraumer Zeit einmal Hoffnungen gemacht, demnächst Ehefrau des Grafensteiner Realschulrektors zu werden. Anschließend musste sie jedoch feststellen, dass sie jobmäßig ausgerechnet von ihrem Herzblatt ausgebremst werden sollte. Tja, Pech. Wie ich unsere zuweilen etwas selbstverliebte Helene einschätzte, war bei ihrer erträumten Liaison vermutlich bloß der Wunsch der Vater des Gedanken gewesen, und der ohnehin etwas weltfremde Gregor hatte von ihren Beweggründen möglicherweise gar nichts geahnt. Allerdings wäre aus dieser Beziehung auf Dauer sowieso nichts geworden, denn Helene vertrat schon seit jeher die Auffassung, statt Soli-Zuschlag zu erheben sollte man lieber zweihundert Betonmischmaschinen an die ehemalige Grenze schicken. Das würde erstens Arbeitsplätze schaffen und zweitens endlich Ruhe in die Diskussion um einen konsolidierten Staatshaushalt bringen.

 

~~~~~~~

 

Die übrige Trauergemeinschaft hatte Ballensiefens Restaurant längst verlassen, während wir noch ein bisschen an unserem Stammtisch hocken blieben. Unwillkürlich blickten wir in Richtung Hafeneinfahrt, wo zumindest für uns Grafensteiner die Affäre ihren Anfang genommen hatte. Ballensiefen brachte ein volles Tablett mit meinem Riesling Auslese, den ihm Caddy tags zuvor zu einem wahrhaft unverschämt hohen Preis angedreht hatte, zu uns an den Tisch. Zu jedem Glas gab es einen Klaren aus der gräflichen Brennerei. Das passte.

»Was für eine Woche. Hoffentlich geht's bei uns demnächst ein bisschen ruhiger zu.«

»Letztens hast du dich noch über zuwenig Kundschaft beschwert«, meinte Lanzerath.

Ballensiefen wurde knurrig.

»Wo steckt eigentlich deine Susanne? Ist die unter die Räder geraten, oder hat die sich einen Kurschatten zugelegt?«

Stichwort. Kapellentusch.

Die Eingangstür flog auf und eine dunkelbraun gebrannte Sonnenbankschönheit mit knallengem Pulli und dem knappsten Minirock seit Erfindung des breiten Gürtels stöckelte auf unseren Tisch zu. Ehe Lanzerath überhaupt begriff, was da noch alles auf ihn zukam, baute sie sich bereits breitbeinig vor uns auf, ließ dabei demonstrativ ihr Handköfferchen zu Boden fallen und stemmte die Fäuste in die Hüften.

»Typisch! Hocken alle miteinander beim Tuttifrutti und besaufen sich. Ohne mich sterbt ihr in diesem Nest irgendwann wirklich nochmal alle an Langeweile.«

Ich glaube, Susanne hat bis heute nicht begriffen, warum der gesamte Tisch in diesem Moment in brüllendes Gelächter ausbrach.

 

 

 

 

 

ENDE

 

 

 

 

Imprint

Text: Clara Trautmannstorff
Images: Clara Trautmannstorff
Editing: trautmannstorff & friends
Translation: k.A.
Publication Date: 12-03-2013

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